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KI: Welche
Interpretationsansätze gibt es für Franz Kafkas Text "Der neue Advokat"?
Franz Kafkas kurzes Prosastück • "Der
neue Advokat" ist, wie
Kurz (1989,S.167)
betont, "semantisch überdeterminiert" und gleicht mit ihrer
semantischen Dichte aus, was ihr an epischer Entfaltung fehlt.
In dem Text stellt
der Ich-Erzähler mit Hilfe seiner Ausführungen über Dr. Bucephalus,
dem ehemaligen Streitross Alexanders des Großen und seinem neuen
Kollegen in der Anwaltskammer, einen Kontrast zwischen den
vermeintlichen Kennzeichen einer längst vergangenen Zeit in der
griechischen Antike und seiner Gegenwart im Hier und Jetzt dar.
Gleich zweimal stellt er das Temporaladverb "heute" an den Beginn
eines
Konstativsatzes, einmal nutzt er das Wort als Attribut ("heutige
Gesellschaftsordnung") um den Gegensatz zwischen der Zeit "damals",
als Alexander auf dem Rücken seines Pferdes den Weg nach Indien
wies, zu betonen.
In einer Aufzählung
von Hauptsätzen, die um ihr Eigengewicht bei gleichzeitiger
inhaltlicher Zusammengehörigkeit zu betonen, mit Strichpunkten,
statt Kommas voneinander getrennt sind, werden vom Erzähler die
maßgeblichen Unterschiede aufgelistet, die seine Gegenwart (das
"Heute") von der Vergangenheit unterscheidet. Dieser voran geht
allerdings eine apodiktische Setzung, die nach Ansicht des Erzählers
keinen Widerspruch duldet. In einer Parenthese zwischen zwei
Gedankenstrichen unmittelbar nach dem Satzbeginn stellt er seine
These, wonach es in seiner Zeit unbestreitbar "keinen großen
Alexander" gebe, als alternativlos dar. Ein wenig später beugt er,
nachdem er die schwertfuchtelnden Epigonen Alexanders in seiner
Gegenwart als Irrführer ihrer Anhänger charakterisiert hat,
möglichen Einwänden vor und wiederholt inhaltlich mit der Anapher
und direkten Wortwiederholung "niemand, niemand" unterstrichen,
jetzt aber orientiert am Symbol das Indien darstellt, was er zuvor
schon apodiktisch behauptet hat: Es gibt keinen neuen Alexander und
keinen, der im Hier und Jetzt Orientierung geben, d. h. nach Indien,
führen kann.
Auffällig ist von Anfang an die
Ironie, mit der der Erzähler das Geschehen darbietet. So berichtet er
davon, dass er unlängst "einen
ganz einfältigen Gerichtsdiener auf der Freitreppe" dabei beobachtet
habe, wie er "mit
dem Fachblick des kleinen Stammgastes der Wettrennen", die sich offenbar
dort immer wieder abspielen, wenn die Advokaten und/oder Besucher der
Anwaltskammer bzw. -kanzlei (Barreau)
die Treppe hinaufhetzen, die Art und Weise bestaunt, wie sich Dr. Bucephalos
in der fast gekünstelt wirkenden Gangart eines Dressurpferdes ("hoch
die Schenkel hebend") die Treppe hinaufbewegt. Dabei scheint in dieser
Wahrnehmung durch, was der Erzähler zuvor schon selbst betont hat, nämlich,
dass noch manches im Äußeren des neuen Advokaten, abgesehen davon, dass er ja ein Pferd und
kein Mensch ist, noch ein wenig an die Zeit erinnere, aus der er eigentlich
komme. Selbst die Tatsache, dass "erstaunlicherweise"
niemand weit und breit an der Tatsache Anstoß nimmt, dass ein Pferd aus
einer fernen Zeit den Doktortitel in Jura erwerben und Mitglied des Barreau
werden konnte, ja man ihm sogar gewisse Anpassungsprobleme an die neue Zeit
zugesteht, lässt den ironischen Unterton deutlich erkennen, mit dem der
Erzähler spricht.
Kontrast: Der Text
ist durchzogen von Kontrasten: "früher" vs. "heute", "Getöse der
Alexanderschlacht" vs. "stille Lampe", "Streitross" vs. "Advokat".
Diese Kontraste verdeutlichen die Veränderung von Bucephalus und
seiner Welt. Metapher: Die Verwandlung von Bucephalus in einen
Advokaten ist eine zentrale Metapher des Textes. Sie steht für die
Anpassung an die moderne Welt und den Verlust von Individualität.
Ironie: Die Situation von Bucephalus, der sich in den Gesetzbüchern
"versenkt", kann als ironisch gesehen werden. Das einstmals
kraftvolle Streitross findet sich nun in der trockenen Welt des
Rechts wieder. Symbol: Bucephalus selbst ist ein Symbol für den
modernen Menschen, der sich in den Zwängen der Gesellschaft
verliert.
Franz Kafkas kurzes Prosastück • "Der
neue Advokat" enthält eine ganze Reihe erotischer
Anspielungen, die man
über das • Schreiben Franz Kafkas
kontextualisieren kann. Seine •
Schreibpraxis, bei der ihm beim Erzählen einer Geschichte oftmals die
Handlungsziele seines Schreibens gar nicht klar vor Augen gestanden haben
(vgl.
Fromm 2010,
S.428f.), führt einem auch immer wieder vor Augen, dass das Schreiben für
ihn eine außerordentlich persönliche und beinahe
existenzielle Bedeutung besessen hat. Es
diente ihm als Mittel zur Selbstreflexion und als Weg, mit seinen
inneren Konflikten und Ängsten umzugehen. In zahlreichen seiner
Werke thematisiert Kafka solche Konflikte und befasst sich mit den
Problemen von Isolation, Angst, Autorität, Freiheit sowie der Suche
nach Authentizität. Daher war das Schreiben auch eine wesentliche
Komponente seiner Identität und seines Selbstverständnisses.
Wer mit der modernen Kafka-Interpretation vertraut ist, kann
seinen Zugang auch dadurch kontextualisieren, dass er,
sofern uneigentliches Erzählen vorliegt, seine ▪
Parabeln
als
"Darstellung seines 'traumhaften inneren Lebens' (Kafka 1951, 420)"
auffasst, das "prärationale und damit auch präverbale Erzählinhalte zum
Ausdruck" bringt (Nickel-Bacon
2014, S.94). So kann man wohl auch •
Den
neuen Advokat" zumindest zum Teil als als
▪
"traumanaloges Dichten" bezeichnen, "als ein nach der
Logik des Traumes verfahrendes Komponieren" (Hiebel 2008,
S. 457), das "Kafkas suchendes, tastendes Schreiben" präge. (ebd.)
Auch wenn dies der allgemeinen Tendenz der "strenge(n) [...] immer wieder
ins Analytische ausbrechende(n)" (Stach 2011/42015,
S.326) Texte in gewisser Weise entgegensteht, machen die sexuellen
Anspielungen doch auch deutlich, dass diese Texte eben nicht nur eine Art
"Zeitdiagnostik" (ebd.,
S.326) sind, sondern wie immer auch auf Selbstreflexion und das innere Leben
Franz Kafkas zu beziehen sind.
Für Gerhard Kurz (1989,S.167f.)
hat Bukephalos (Bucephalus) in Kafkas kurzer Erzählung • "Der
neue Advokat" zugleich eine kämpferische, eine erotische und und eine
befreiende Bedeutung. Die erotische Bedeutung werde in verschiedenen
Anspielungen deutlich.
Das ehemalige Streitross Alexanders "steigt die Treppe hoch, ›hoch
die Schenkel hebend‹, das Reiten wird als ein geschlechtlicher Akt
evoziert, was reiten im erotischen Sprachgebrauch ohnehin bedeuten kann: ›Frei,
unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters‹. Schließlich der Name
selbst ›Bucephalus‹: Bucephal(l)us. Der neue, promovierte Advokat kann die
erotischen Energien nicht verleugnen, mit der Alexander und sein Pferd
verbunden waren." Zudem kämen in Kafkas Werk Pferde sehr häufig vor und
symbolisierten "erotische Kraft und Befreiung. Kräfte des Unbewußten,
Entgrenzungswünsche, auch die dichterische Entgrenzung."

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KI: Welche
Interpretationsansätze gibt es für Franz Kafkas Text "Der neue Advokat"?
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.01.2025