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KI: Welche
Interpretationsansätze gibt es für Franz Kafkas Text "Der neue Advokat"?
Wer •
Franz Kafkas kurzes Prosastück • "Der
neue Advokat" liest, dürfte sich im Anschluss an die Lektüre einiges
fragen:
Was hat es mit dem Streitross Alexanders des Großen auf sich? Was mit dem
wiederkehrenden Motiv Indien? Was macht einen Alexander aus und warum gibt
es vom Text bezeichneten Hier und Heute keinen Alexander mehr? Ist das
Verhalten von Dr. Bucephalus die "richtige" Antwort auf die Probleme der
Zeit?
Zu Beginn der Erzählung konstatiert der Ich-Erzähler, mit dem
Personalpronomen "wir" als Mitglied der etwas später genannten Anwaltskammer
oder einer Anwaltskanzlei (Barreau) ausgewiesen, einen Zustand, über dessen nähere
Umstände, die zu ihm geführt haben, der Leser keine weiteren Informationen
erhält.
Ganz nüchtern und sachlich, ohne jeden kommentierenden Unterton hält
er fest, dass zum Barreau ein neuer Advokat gehöre und zwar ein gewisser Dr.
Bucephalus, der in vergangenen Zeiten das Streitross Alexanders des Großen
gewesen sei. Ohne jede weiteren Hinweis überbrückt er damit die zeitliche
Distanz, die zwischen der Zeit »Alexanders
des Großen (356-323 v. Chr.) und der im Text als
Heute bezeichneten Gegenwart
besteht. Die intertextuellen Bezüge zu den historischen Umständen und
Ereignissen, die sich zu dessen Regierungszeit abgespielt haben, und die
Legende um sein Leibferd und Schlachtross »Bukephalos
können, wenn sie Wissenslücken darstellen, von einem kompetenten Leser
entweder über das eigene Vorwissen, über bei der Textpräsentation •
dem Text beigefügte
Informationen oder aber durch eine eigenständige Internetrecherche
geschlossen und die damit verbundene Erfahrung •
alltäglicher Fremdheit
überwunden werden, sofern sie sich dem eigenen Textverstehen und der
Bereitschaft, sich weiter auf die Spurensuche nach dem Sinn des Textes zu
machen, entgegenstellen. Um zu einem einigermaßen kohärenten Textverständnis
zu gelangen, reicht es dabei aber wohl aus zu wissen, dass Alexander der
Große ein charismatischer Heerführer und Eroberer in der griechischen Antike
gewesen ist, der seiner Vision folgend, die Herrschaft über die ganze zu
seiner Zeit bekannte Welt zu erlangen, auf seinem legendären Schlachtross
Bukephalos (lat. Bucephalus) an der Spitze seines Heeres bis an den äußeren
Rand Indiens vorgestoßen ist. Die (Re-)Kontextualisierung des Textes schafft
damit die Möglichkeit auch textintern neue Bezüge herzustellen.
Zunächst einmal richtet sich der Fokus des Erzählers auf das Halbwesen aus
Mensch und Pferd, das der so lapidar eingeführte "Dr. Bucephalus" darstellt.
Geradezu beiläufig bemerkt er, dass er das ehemalige Schlachtross Alexanders
des Großen gewesen ist. Was auf den Leser zunächst irritierend wirkt, wenn
ein Pferd, dazu noch aus einer längst vergangenen Zeit im Heute promovierter
Jurist und Mitglied der Anwaltskammer ist, scheint für den Ich-Erzähler und
die anderen Mitglieder des Barreau jedenfalls nicht seltsam zu sein, zumal
auch sein Äußeres nur noch wenig an die Zeit erinnere, an der er Alexander
dem Großen als Streitross gedient habe. Die Pferdenatur aber, die Dr.
Bucephalus hat, ist, seiner Funktion und aller Merkmale als Schlachtross (z.
B. Panzerung) entkleidet, jedenfalls kein Aufreger und wird trotz ihrer
dem Leser radikal fremd vorkommenden Erscheinung vom Erzähler nicht
thematisiert und/oder reflektiert.
Als wäre es das Natürlichste der Welt,
wenn ein Halbwesen zwischen Mensch und Tier, aus ferner Vergangenheit
stammend, unter Missachtung aller Naturgesetze im Hier und Heute erscheint,
verbürgt sich der Erzähler einzeln aber auch im Kollektiv ("wir") dafür,
dass die Existenz, die Erscheinung und das Verhalten und Tun des Halbwesens,
aller Wunderbarkeit zum Trotz, ein ganz "normaler" Teil der erzählten
fiktiven Welt ist. Das Phantastische, das mit der Gestalt des Dr. Bucephalus
verbunden ist, Fragen, wie es zu seiner Metamorphose vom Streitross zum
Advokaten überhaupt kommen und wie sich seine biologische Existenz in der
zeitlichen Spanne von vielen hundert Jahren zwischen seiner Zeit als
Streitross in der griechischen Antike und der Erzählergegenwart wird vom
Erzähler jedenfalls nicht erörtert.
Allerdings gibt er vor, über diese Umstände im Bilde zu sein, was ihn auch
von dem "ganz einfältigen Gerichtsdiener auf der Freitreppe" unterscheiden
soll,
der, noch immer irgendwie fasziniert von der äußeren Erscheinung des Dr.
Bucephalus, diesen "mit dem Fachblick des kleinen Stammgastes" beim
Treppensteigen beobachte. Die ironische Überheblichkeit, die diese
Charakterisierung des Gerichtsdieners ausdrückt, kann allerdings auch als
Selbststilisierung verstanden werden, die den Übergang zu den nachfolgenden
Überlegungen des Erzählers ermöglichen.
Indirekt nachgereicht werden von ihm Bedenken, die es offenbar doch gegen
die Aufnahme des neuen Advokaten im Barreau gegeben hat, die aber "im
Allgemeinen" befürwortet worden sei. Dabei sei man übereingekommen, Dr.
Bucephalus wegen der derzeit herrschenden "Gesellschaftsordnung", die sich
für ihn schwierig gestalte, und angesichts seiner einstmals bestehenden
"weltgeschichtlichen Bedeutung" mit einem gewissen Verständnis und Nachsicht
entgegenzukommen. Allerdings behält er Erzähler für zunächst einmal für
sich, worauf die Anpassungsprobleme von Dr. Bucephalus zurückzuführen und
wie sie bis dahin in Erscheinung getreten sind. Eine Erklärung dafür könnten
die nachfolgenden Ausführungen des Erzählers sein, die sich bis zum Ende des
mittleren Abschnitts der Erzählung hinziehen. Allerdings abstrahiert der
Erzähler dabei von den konkreten Anpassungsproblemen des ehemaligen
Streitrosses und nutzt sie nur als Impuls für seine eigenen Gedanken über
den Zustand der Gesellschaft, in der er lebt. Im Hier und jetzt jedenfalls,
das steht für ihn unzweifelhaft fest, gibt es niemanden, der die Rolle eines
Alexanders ausfüllen könne. Natürlich gäbe es auch heute etliche Personen,
die Morde begingen und dabei auch keine Skrupel hätten, ihre vermeintlichen
Freunde ohne jeden Skrupel umzubringen.
Und als ob die geschichtliche
Distanz zwischen der Zeit Alexanders und der Gegenwart des Erzählers nicht
vorhanden wäre, glaubten einige, dass schon das Makedonien, das Alexanders
Vater Philipp II. regiert habe, "zu eng" sei. In diesem Spiel mit den
historischen Bezügen, die vom Erzähler mit dem Tatsachenanspruch
gegenwärtigen Geschehens ausgestattet sind, wird deutlich, dass es sich im
Grunde genommen, um ein Denkmodell handelt, das der Erzähler präsentiert.
Was dieses "zu eng" bedeutet, erklärt sich auf der Textebene als
topographische Größe. Die Enge Makedoniens passt jedenfalls nicht zu dem
imperialen Sendungsbewusstsein, mit dem Alexander seine Heere bis an die
Grenzen Indien führte. Zugleich signalisiert der Verzicht auf eine imperiale
Vision unter Philipp, verglichen mit Alexander, den Verlust von Orientierung
in der Welt, wenn "niemand, niemand (...) nach Indien führen (kann)",
wie der Erzähler mit apodiktischem Anspruch betont. Und
nicht nur das: Die Tatsache, dass Führer wie Philipp, die eine solche Vision
nicht haben oder nicht verfolgen (können), von vielen "verflucht" werden,
verweist auf die (existenzielle) Bedeutung, die solchen Visionen von vielen
Menschen zugeschrieben wird. Unter diesem Blickwinkel seht Indien
symbolisch für einen ( quasi eschatologischen) Fluchtpunkt der menschlichen
Existenz und nicht für den heute geografisch und geopolitisch klar
bezeichneten Raum der Erde.
Dieser Fluchtpunkt scheint für den Erzähler prinzipiell unerreichbar zu sein
und damit auch die Antwort auf die letzten Fragen nach dem Sinn
menschlicher Existenz. Selbst Alexander konnte, auch wenn er mit seinem
Königsschwert die Richtung dahin zu weisen vermochte, dieses Ziel ("Indiens
Tore") nicht erreichen.
Im Hier und Heute ist aber nach Ansicht des
Erzählers selbst das Wissen, in welcher Richtung das Ziel überhaupt als
erreichbar gedacht werden könnte, verloren gegangen. Und alle die den Gestus
und Habitus des großen Alexander einfach nur imitieren und darauf hoffen,
das Mittel, die kriegerische Attitüde mit Schwertern herumzufuchteln, weise
von sich auf das Ziel, täuschen sich und ihre Anhänger, denn die Tore, die
es zu erreichen gilt, seien heute "ganz anderswohin und weiter und höher
vertragen".
Selbst dieses Wissen, das er Erzähler für sich reklamiert,
besitzen die mit den Schwertern Fuchtelnden nicht. Es macht den
Führungsanspruch, den sie dennoch mit den erhobenen Schwertern erheben, zu
einer besonderen Gefahr für die Gesellschaft und alle diejenigen, die sich
davon blenden lassen. Es führt sie in Verwirrung und damit zu dem direkten
Gegenteil der Orientierung, die sie mit ihrer Gefolgschaft anstreben.
Auch der Erzähler weiß keine Antwort auf die Herausforderungen seiner Zeit,
die von einer existenziellen Orientierungslosigkeit geprägt zu sein scheint
und von Personen, die sich zu Führern aufschwingen, ohne im Geringsten
selbst Antworten auf die drängenden Fragen zu haben.
Deshalb erscheint ihm der Weg von Bucephalos, sich in dieser
unübersichtlichen und was die Zukunft anbelangt, unüberschaubaren Welt
zunächst einmal dadurch einzurichten, durchaus nachvollziehbar. Dessen
Rückzug aus den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen
seiner (unheroischenI) Zeit "fern de(s) Getöse(s) der
Alexanderschlacht" bietet dem Halbwesen einen Ausweg aus dem Dilemma seiner
eigenen Existenz. Indem es sich als Advokat in die Gesetzesbücher versenkt
und "die Blätter unserer alten Bücher" wendet, lebt es sowohl in
der Erinnerung an
die Zeiten, in denen der "große Alexander" den Weg vorgab als
auch in der Hoffnung, in den im Gesetz kodierten Normen der Gesellschaft
zumindest solange Halt und Orientierung zu finden, bis ein "neuer Alexander"
die Bühne des Weltgeschehens betritt.
Auch wenn das "Vielleicht" einen
Rest an Zweifel signalisiert, der den Erzähler umtreibt, steht am Ende doch
seine Erkenntnis, dass auch er nur dann wieder in eine neue Zukunft wird
blicken können, wenn eine neue Gemeinschaft und Identität schaffende Vision
(Ideologie, Weltanschauung), verkörpert von einem gleichermaßen heroischen
wie charismatischen Führer, ausgestattet mit der Macht und Autorität eines
Königs, die Zeit der Orientierungslosigkeit beendet.
Eine aktualisierende Lesart der Geschichte lässt angesichts der Situation von Welt,
Staat und Gesellschaft, in der wir heute als Leserinnen und Leser leben, und
unserer historischen Vergangenheit nichts Gutes erwarten. Bleibt zu hoffen,
dass Erzählungen wie •
Franz Kafkas • "Der
neue Advokat", unabhängig von Kafkas eigenen Intentionen, dazu beiträgt,
dass dieses Wissen Teil des kollektiven Gedächtnisses der meisten Gruppen
unserer Gesellschaft bleibt, weil auch die Literatur als Teil des
kulturellen Gedächtnisses einen Beitrag dazu leistet.
Gert Egle, Januar 2025
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KI: Welche
Interpretationsansätze gibt es für Franz Kafkas Text "Der neue Advokat"?
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.01.2025