• Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden
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Franz Kafkas kurzes Prosastück "Der
neue Advokat" gehört zu den Texten, die in der Literaturwissenschaft
wohl • unstrittig als •
moderne
Parabeln angesehen werden. (vgl. Zymner
(2010, S.456)
Seine
•
Parabeln
wirken oft in besonderer Weise verrätselt und lösen bei ihren
Rezipientinnen und Rezipienten damit •
unterschiedliche Erfahrungen von Fremdheit aus.
"Der neue Advokat" kann, von
ihrem Typ her betrachtet, auch als "Entdeckungsparabel" (Zymner
1991, S.272) bezeichnet werden, die darauf zielt "eine selbständige
Deutung herauszufordern, ohne jedoch den Transfer auf einen Bereich zu
lenken, der einem bestimmten religiösen Traditionszusammenhang
angehört." (Zymner 2010, S.456).
Dass es sich um eine Parabel handelt, die zur Spurensuche nach einem
über den Text hinausgehenden Sinn auffordert, wird auch in dieser
Parabel nicht durch •
explizite
Transfersignale markiert.
Dennoch
kann man merken, dass das Erzählte nicht das eigentlich Gemeinte ist. So
gibt es auch in diesem Text, wie man bildlich sagt, "Stolpersteine",
deren Sinn sich auf der Textebene allein nicht erschließt. Natürlich
kann man auch darüber hinweg lesen, eine Garantie, dass ein solcher Text
damit überhaupt als Parabel verstanden wird, gibt es also nicht.
Wer, aus welchen Gründen auch immer, •
nicht ins Stolpern kommt, wird sich auch nicht auf die Spurensuche
nach einem über den Text hinausgehenden Sinn machen. Solche
Stolpersteine stellen ▪
implizite Transfersignale
dar, die aber in keiner Weise ausdrücklich vorgeben, welcher Vergleich
gezogen oder wo und wie der Sinn des Textes in einem bestimmten
außertextlichen Bereich konstruiert werden soll. Dies bleibt völlig
offen. Sie im Einzelnen nachzuweisen fällt selbst
Literaturwissenschaftler*innen nicht in den Schoß, weil die gerade noch
so plakativ als Stolpersteine beschriebenen Erscheinungen auf Textebene
oft eben nur Unebenheiten darstellen, die sich auch ohne all zuviel Mühe
einebnen lassen.
Bei Kafkas Parabeln
zählen bei der von ihm oft besonders stark ausgeprägten
personalen
Erzählsituation, "die systematische Inkohärenz in der Raum-, Zeit-,
Figuren- und Handlungsgestaltung sowie die parabeltypische Kürze"
(Zymner 2010, S.457) dazu.
Meistens sind es dabei mehrere Textstrukturen, die als Stolpersteine
dazu auffordern,
den eigentlichen
Sinn des Textes außerhalb des Textes zu konstruieren und damit
dem Text eine neue Bedeutungsrichtung zu geben. (vgl. Zymner 1991,
S.93 f.)
Für die Interpretation
von Kafkas Parabeln im Literaturunterricht dürfte trotz der Bedeutung ▪
impliziter Transfersignale
für die Gattung ihr Nachweis im Text eher nebensächlich sein.
Schülerinnen und Schüler, die es im Unterricht mit Kafkas "Der
neue Advokat" zu tun bekommen, werden dies im Allgemeinen wohl kaum
als erste Parabel des Autors tun. Dies hat •
verschiedene Gründe.
Die Schülerinnen und Schülern
haben bis dahin gewöhnlich schon
einschlägige Erfahrungen mit strukturähnlichen Texten wie •
Fabeln und
• Gleichnissen
gemacht, in denen das Dargestellte nicht das Gemeinte ist.
Die erste Begegnung mit einer Entdeckungsparabel Franz Kafkas ist nicht
die "Stunde Null" des Umgangs mit "Uneigentlichkeit", einem etwas
holprig klingenden Begriff, mit dem man in der Wissenschaft Texte und
textliche Phänomene bezeichnet, die "eigentlich" etwas anderes meinen.
Wie man bei der eigenen
Spurensuche nach dem "tieferen" Sinn versucht, einen passenden Zugang zu
einem vertiefteren Verständnis zu finden, das in der
Anschlusskommunikation im Vergleich mit anderen
Lesarten
intersubjektiv Geltung erlangen kann, kann dabei sehr unterschiedlich
sein.
Oft
geht man • kognitiv-analytisch
vor. Dann kommen die einen von ihrem
Wissen über den Autor her, andere
bevorzugen ihr • Wissen um die Gattung Parabel, andere gehen den Weg über
die Themen der Texte, wieder andere ziehen z. B. den historisch-sozialen
oder den • literaturgeschichtlichen Kontext heran und andere folgen der so
genannten • intertextuellen "Findekunst", in dem sie sich auf die Suche nach ähnlichen
Texten unterschiedlicher medialer Art machen.
Dabei muss man aber
auch immer berücksichtigen, dass nicht jeder Zugang oder Ansatz zur
Interpretation sich gleichermaßen gut für die eigene
Bedeutungskonstruktion eignet. Je mehr Erfahrung man im Umgang mit
solchen Texten gewonnen hat, desto leichter fällt einem die Entscheidung
zwischen den verschiedenen Zugängen.
Dabei soll
die Bedeutung von fundiertem Gattungswissen für ein vertiefteres Verständnis von
• Franz Kafkas •
Parabeln
nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, zumal die kognitive
Suchbewegung nach der Bedeutung dieser Texte, die von ihrer •
Appellstruktur
ausgeht, ein in der Schule durchaus üblicher •
Zugang zu Kafkas kurzen Prosastücken darstellt.

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.01.2025