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Franz Kafkas
•
Parabel
•"Der
neue Advokat" ist eine kurze Erzählung, die der Autor im Jahr 1920 im
Band »Ein
Landarzt bei ihrer Veröffentlichung ganz bewusst an den Anfang der
Sammlung von 14 Erzählungen stellte und dabei die erste und die letzte
Erzählung (•
Ein Bericht
für eine Akademie) thematisch dadurch miteinander
verklammert, dass in beiden Figuren vorkommen, die menschliche und tierische
Züge aufweisen. (vgl.
Blank 2010,
S.221)
Erzählungen mit dem
Anspruch auf allgemeine Gültigkeit
Die Erzählungen, die im »Landarzt-Band
verfasste ihr Autor in einer sehr produktiven Schaffensperiode, die nach
einem Jahr, in dem er wenig zu Wege brachte, im Winter •
1916/17 begann. In dieser Zeit zog er aus
seinem Elternhaus aus in das von seiner Schwester »Schwester Ottla (1892-1943, ermordet im
»KZ
Auschwitz-Birkenau) gemietete Häuschen in der »Prager Alchimistengasse,
das sie ihm überlassen hatte, damit er dort endlich ungestört schreiben
konnte.
"Der Schlüssel zu einer
eigenen Wohnung", legt
Stach
(2011/42015, S.231) dar, "war das sichtbare und
unmissverständliche Sinnbild der Emanzipation und damit der Trennung"
vom Elternhaus und "das Auf- und Abschließen des ›eigenen‹ Hauses eine
neue, genussvolle Erfahrung" für Franz Kafka. Zudem brachte die neue
Situation die beiden Geschwister Franz und Ottla auf ihrem Weg in die
Unabhängigkeit auf eine besondere Art näher. In jedem Fall entwickelte
er eine neue Schaffenskraft und Lebenszugewandtheit, was auch Ottla
nicht verborgen blieb: " Er klagte seltener, schrieb so diszipliniert
wie lange nicht mehr, er kämpfte um eine Wohnung, ja, er beschäftigte
sich sogar mit der materiellen Absicherung seiner Pläne und beantragte
die Ernennung zum Sekretär der Arbeiter-Unfall-Versicherung, samt
zugehörigem Sprung um zwei Gehaltsklassen." (ebd.)
Die Texte, die Kafka in seinem »Landarzt-Band
zusammenstellte, sind wie
Stach (2011/42015,
S.326) betont, "strenge Texte, eine immer wieder ins Analytische
ausbrechende Prosa, in der die Lust an der szenischen Entfaltung nur noch
gelegentlich aufblitzt." Zwar strotzten die Erzählungen von "verblüffenden
Einfällen" und der "traumwandlerisch leichte(n) Überlagerung von
Gegenwart und Vergangenheit", die als poetische Errungenschaften dafür
gesorgt hätten, dass Kafka in einer neuen Art zu schreiben begonnen habe.
Entscheidender sei aber, dass er damit "jetzt
Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, auch jenseits der Literatur" erhoben
habe, wie er es z. B. mit Aussagen wie den folgenden in seiner Erzählung •
"Der
neue Advokat" getan habe: »Heute
– das kann niemand leugnen – gibt es keinen großen Alexander. Zu morden
verstehen zwar manche … aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Schon
damals waren Indiens Tore unerreichbar, aber ihre Richtung war durch das
Königsschwert bezeichnet. Heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter
und höher vertragen; niemand zeigt die Richtung; viele halten Schwerter,
aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will,
verwirrt sich.« Auch wenn das Ganze sehr bildhaft gestaltet sei, "klingt es
eher nach Zeitdiagnostik als nach Literatur", resümiert
Stach (2011/42015,
S.326) Dabei habe Kafka die Frage, ob dies überhaupt noch literarisches
Schreiben darstellte, nicht beunruhigt. Stattdessen habe er nach dem
Verzicht auf die Ehe 1917 durch die
Auflösung der 2. Verlobung mit »Felice Bauer
(1887-1960) einen "wahrhaft ungeheuerlichen Anspruch" (ebd.,
S.332) an sich und sein Schreiben formuliert, bei dem ihm die künstlerische
Perfektion nicht mehr genug gewesen sei: "Er will jetzt alles: das Gelingen,
die Erkenntnis, die Rechtfertigung, das Glück." (ebd.,
S.332)
Alexander, Bukephalos und der Alexanderzug nach Indien
Dass
sich Kafka in seiner Erzählung mit »Alexander
dem Großen (356-323 v. Chr.) und dessen Streitsross beschäftigt,
geht wahrscheinlich darauf zurück, dass er 1910 »Michail
Alexejewitsch Kusmins (1872-1936) »"Taten
des grossen Alexander" (1910) gelesen hat. Darin hat sein Autor in einem dem
Text vorangestellten
Akrostichon »Bukephalos,
dem Leibpferd und Schlachtross Alexanders, das nachfolgende literarische Denkmal
gesetzt: "Jäh stampft
ein Pferd, das wild im Zügel schnaubt: / Unrüstiger Knab, entehrst Bukephalos!/ Sehre die Grenzen, hin zur Tat, aufs Roß,"
Ein wenig
später, im dritten Kapitel des ersten Buchs, wird die •
legendenumwobene Zähmung des Pferdes durch den jungen Alexander
beschrieben, die auch in der Bildenden Kunst verschiedentlich ihren
Niederschlag gefunden hat. In der Literatur hat dazu, wie Elisabeth
Frenzel (41976,
S.32) anmerkt, nach dem Ersten Weltkrieg eine auffällige Entwicklung bei der
Behandlung des Alexander-Stoffes stattgefunden: Mehr und mehr habe sich ein
zunehmendes Interesse "an dem außergewöhnlichen Menschen, Eroberer und
Entdecker" gezeigt, dessen Anfänge schon mit
Jakob Wassermanns
(1873-1934) Roman "Alexander
in Babylon" (1905) sichtbar würden.
So passt es auch ins Bild, dass
Kafka das, was er über Alexander auch andernorts in Erfahrung brachte, mit
der Gestalt »Napoleon
Bonapartes (1769-1821) verband, die ihn während dieser Zeit besonders
faszinierte und die gewisse historische Parallelen zu dem antiken Herrscher
aufwies. Hinzu kam noch, dass sich der Franzose, Selbstzeugnissen zufolge,
in der geschichtlichen Nachfolge Alexanders des Großen sah und selbst
offenbar mit dem Gedanken spielte, "nach Indien zu ziehen [...] und Kaiser
des Morgenlands zu werden" (
Binder 1975/31982,
S.205, vgl. Alt 2005/ 22008,
S.514) Insbesondere das Gemälde »"Bonaparte
beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard" des »Historienmalers
»Jaques-Louis
David (1748-1825) wird nach Ansicht Alts "gleichsam das Urbild der
Geschichte Kafkas, die ikonische Darstellung der versunkenen Epoche, in der
das Schlachtroß noch unter dem Diktat seines zur Führung entschlossenen
Herrn stand." Die neue Zeit, das "Heute", von dem in der Erzählung Kafkas
gesprochen wird, befreie das Pferd zwar von den Zwängen des Zügels, nötige
es aber zugleich zur Anpassung am eine Zeit ohne Helden. Allerdings steht im
Heute, indem es es keine Akteure mehr vom Schlage Alexanders und Napoleon
Bonaparte mehr gibt, "das im Gemälde geronnene Erbe der Vergangenheit", wie
Alt sagt, eine belastende "Hypothek" dar, "die
abgetragen werden muss, soll neuer Sinn gestiftet werden." (vgl. Alt 2005/ 22008,
S.514)
Womöglich hat Kafka aber auch die Schicksale von Alexander und Napoleon
Bonaparte als "Metapher für den eigenen Lebensweg" (Binder
1975/31982, S.206) verstanden, die einen Kontrast zu "dem
eigenen stagnierenden Lebensgang" darstellten, "so daß also über das
Bindeglied Napoleon [...] das Motiv des Indienzugs und die Konfrontation
zweier Zeitalter mit negativer Beleuchtung der Gegenwart (für Kafka war die
napoleonische Zeit die letzte große mit Kräften erfüllte) zu Bildern für die
jetzt bestehende Misere werden konnten." (ebd.)
Allgemein kann man wohl
auch Kafkas Umgang mit den historischen "Helden" Alexander und Napoleon
Bonaparte wie seinen Umgang mit mythischen Figuren als "Bastelei" (bricolage)
bezeichnen, wie Monika
Schmitz-Emans (2011, S.193f.) vorschlägt. Stets stehe er "im Zeichen
der Deformation, der Verwandlung, des Widerspruchs." So wie er in den
Texten, in denen er auf Mythen Bezug nehme (z. B. •
Prometheus, •
Poseidon, •
Das Schweigen der Sirenen),
diese deformiere und entmythologisiere, dekonstruiere er auch in seiner
Erzählung
•"Der
neue Advokat" mit seiner Anspielung auf Alexanders den Großen diese
Heldenfigur vergangener Zeiten. Vor allem aber, so betont
Schmitz-Emans (2011, S.193f.) weiter, "dienen Mythen-Reminiszenzen
bei Kafka nicht dazu – wie es einer anthropologisch-kulturtheoretischen
Konzeption des Mythischen entspräche –, erklärend und damit beruhigend
zu wirken, wo die Welt dem Menschen als rätselhaft und bedrohlich
erscheint. Diese Funktion, etwas verständlich (oder doch verständlicher)
zu machen und in den Horizont des menschlichen Vorstellungsvermögens
gleichsam hineinzuerzählen, hat das Mythische bei Kafka gerade nicht;
seine Mythenparaphrasen dienen nicht der Versicherung, sondern der
Verunsicherung. Diese beginnt manchmal schon bei der Frage, was der
Mythos denn eigentlich berichte."
Dennoch kann man aber
auch in seinem massiv in die Überlieferung eingreifenden Umgang mit
Mythen und historischen Legenden einen Vorgang sehen, der diese Stoffe
aus ihrer Erstarrung befreit und damit die Möglichkeit schafft, die oben
genannte Hypothek abzulösen: "der überlieferte
Text wird ‹lebendig›; der Mythos löst sich in Varianten auf. Die
mythischen Helden stehen bei Kafka im Zeichen der Verweigerung gegenüber
ihrer heroischen, titanischen oder göttlichen Rolle bzw. es ist der
Erzähler, der sie ihnen verweigert." (Schmitz-Emans
(2011, S.193f.)
Anti-realistisches parabolisches Erzählen mit einem in Auflösung
befindlichen Bild- und Sachbereich
Die Erzählung
"Der
neue Advokat" ist, sehr pointiert zusammengefasst, "eine
ironische
Darstellung des gelehrten Studiums unter den Bedingungen einer alexandrinischen Epoche" (Alt
2005/ 22008, S.513). Reinhard
Stach (2011/42015,
S.223) sieht darin eine Erinnerung "an einen sagenhaften Monarchen" und die
Beschwörung "eine(r) Welt ohne Führung" und bezieht sich dabei auf die
Aussage des Erzählers »Heute
– das kann niemand leugnen – gibt es keinen großen Alexander … niemand,
niemand kann nach Indien führen … niemand zeigt die Richtung … «
Für Alt
(2005/ 22008, S.510) ist die Erzählung mit ihrer •
anti-realistischen und nicht-psychologischen
Erzählweise wie andere parabolische Erzählungen des »Landarzt-Bandes
ein literarisches Rätselspiel. Kennzeichen dieser Erzählweise sind u. a.
Ereignisse seiner fiktionalen Welt, die eigentlich unmöglich sind und darin
auftretende Wesen, die es nicht gibt, z. B. sprechender Tiere, sowie das "Fehlen
psychologischer Handlungsmotivationen"
(Engel 2010,
S.412) Die "unspektakuläre Weise" des Erzählens in •"Der
neue Advokat", von der
Alt
(2005/ 22008, S.513) spricht, ist dabei Ausdruck dieses deutlich reduzierten realistischen Erzählgestus Franz
Kafkas, dessen Texte "nicht sonderlich beschreibungsintensiv "
(Engel 2010,
S.412) sind und, was die Figuren anbelangt, im Allgemeinen keine
"Individualisierung der Figuren" (Blank
2010, S.221)anstreben. So gibt es in diesem Text nur wenige Details, denen man auf gewohnten Wegen
plausible Aspekte zur Figurencharakterisierung abgewinnen kann. Wenn
solche Details dennoch verwendet werden, fordern sie meistens zu
einer symbolischen Deutung und damit zu einer textexternen Sinnkonstruktion
auf. (Engel 2010,
S.415) So betrachtet können sie mit ihrer "kurze(n) Detailfokussierung" (Blank
2010, S.221) im Kontext anderer Signale auch die Funktion von •
impliziten
Transfersignalen übernehmen, da sie als "Stolperstein" der
Uneigentlichkeit
den Eindruck erwecken können, "sie meinten eigentlich etwas anderes." (ebd.)
Als Beispiel dafür ließe sich die Stelle heranziehen, als das erzählende Ich
seine Bebachtung eines "ganz
einfältigen Gerichtsdiener(s)"
ironisch wiedergibt, der
wiederum den neuen Advokaten Dr. Bucephalus anstaunt, als dieser "hoch
die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt von Stufe
zu Stufe stieg." Die auch hier "teilweise grotesk anmutende Überzeichnung" (Blank
2010, S.221) der Bewegungen passt auch stilistisch zu dem "Vokabular
antirealistischen Erzählens" (ebd.)
Der Ich-Erzähler der Geschichte tritt dabei lediglich als Bebachter und
Berichterstatter in Erscheinung und lässt an keiner Stelle der Erzählung
erkennen, was er von Dr. Bucephalus, dem pferdeartigen Halbwesen zwischen
Mensch und Tier, hält. (vgl.
ebd.)
Auch wenn der Text parabolisch zu verstehen ist, muss man ihn doch mit dem
Verständnis lesen, dass sich darin
•
Bild- und Sachbereich in Auflösung
befinden.
• Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.01.2025
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