Wir
haben einen neuen Advokaten, den Dr. Bucephalus1.
In seinem Äußern
erinnert wenig an die Zeit, da er noch
Streitroß2
Alexanders von
Mazedonien3 war.
Wer allerdings mit den Umständen vertraut ist, bemerkt
einiges. Doch sah ich letzthin selbst
einen ganz einfältigen
Gerichtsdiener auf der Freitreppe
mit dem Fachblick des kleinen
Stammgastes der Wettrennen den Advokaten bestaunen, als dieser,
hoch die
Schenkel hebend,
mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt von Stufe zu
Stufe stieg.
Im
Allgemeinen billigt das Barreau4 die Aufnahme des Bucephalus.
Mit
erstaunlicher Einsicht sagt man sich, daß
Bucephalus bei der heutigen
Gesellschaftsordnung in einer schwierigen Lage ist und daß er deshalb,
sowie auch wegen seiner weltgeschichtlichen Bedeutung,
jedenfalls
Entgegenkommen verdient. Heute –
das kann niemand leugnen –
gibt es
keinen großen Alexander. Zu morden verstehn zwar manche;
auch an der
Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Banketttisch hinweg
den Freund
zu treffen, fehlt es nicht;
und vielen ist Mazedonien zu eng, so dass
sie Philipp, den Vater5
verfluchen –
aber niemand, niemand kann nach
Indien führen.6
Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar, aber
ihre
Richtung war durch die Spitze des Königsschwertes bezeichnet.
Heute sind
die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen;
niemand zeigt
die Richtung;
viele halten Schwerter, aber nur um mit ihnen zu fuchteln;
und der Blick, der ihnen folgen will, verwirrt sich.
Vielleicht ist es deshalb wirklich das Beste, sich,
wie es Bucephalus
getan hat, in die Gesetzbücher zu versenken.
Frei, unbedrückt die Seiten
von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe,
fern dem Getöse der
Alexanderschlacht,
7
liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.
(Franz Kafka, Sämtliche
Erzählungen,. hg. v. Paul
Raabe, Fischer Taschenbuch 1078, Frankfurt/M. 1970, S.139f.)
Dieses Werk (Der
neue Advokat, von
Franz Kafka), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterklärungen:
1
Bucephalus:
»Bukephalos
(von altgriechisch βουκέφαλος bouképhalos, deutsch ‚ochsenköpfig‘;
latinisiert Bucephalus) war das Streitross
Alexanders des Großen. Es gilt als das bekannteste Pferd der Antike.
Alexander bekam es, als er zehn oder zwölf Jahre alt war. Bukephalos
lebte von ca. 355 bis Juni 326 v. Chr.;
2 Streitroß: Pferd,
mit dem ein Feldherr in die Schlacht gezogen ist, daher die Bezeichnung
Streitross oder Schlachtross; nach einer Erzählung von »Plutarch
(45-125 n. Chr.) war Alexanders der Große auch der
einzige, der dieses Pferd reiten konnte. Es begleitete ihn in allen
seinen Schlachten. Das Tier soll sehr alt geworden sein, etwa 30 Jahre.
Zu seinen Ehren gründete Alexander, nachdem es während der »Schlacht
am Hydaspes (326 v. Chr.) ertrunken war, auf dem Schlachtfeld die
Stadt »Alexandreia
Bukephalos, das heutige »Jhelam
in der pakistanischen Provinz Punjab. Alexander beerdigte es prunkvoll
und errichtete dem Pferd zu Ehren ein Denkmal am Sterbeort. Dem
Leibpferd Alexanders wurden noch später zahlreiche Denkmäler gesetzt, so
in »Neapel
(Alexander am Granikos), in Rom vor dem
»Quirinalspalast,
als wesentlicher Teil des »Alexander-der-Große-Denkmals
in »Thessaloniki,
auch in »Edinburgh
(»Die
Zähmung des Bukephalos); Manche Quellen bezeichnen es als »Einhorn.
(vgl. Wikipedia)
3
Alexanders von Mazedonien: »Alexander
der Große (356-323 v. Chr.) bis zu seinem Tod als Alexander III.
König von »Makedonien
und »Hegemon
des »Korinthischen
Bundes; dehnte ab 334 v. Chr. die Grenzen des Reiches, das sein
Vater »Philipp
II. (382-336 v. Chr.) aus dem vorher nur unbedeutenden Kleinstaat
Makedonien sowie mehreren griechischen Stadtstaaten (»Poleis)
errichtet hatte, durch den so genannten »Alexanderzug
und die Eroberung des »Achämenidenreichs
bis an den »indischen
Subkontinent aus. Mit Alexanders Herrschaft begann das Zeitalter des
»Hellenismus,
in dem sich die griechische Kultur über weite Teile der damals bekannten
Welt ausbreitete. Die kulturellen Prägungen durch die »Hellenisierung
überstanden den politischen Zusammenbruch des »Alexanderreichs
und seiner Nachfolgestaaten und wirkten noch jahrhundertelang in »Rom
und »Byzanz
fort. (vgl. Wikipedia)
4 Barreau:
Anwaltskanzlei, Advokatur
5 Philipp, den
Vater: »Philipp
II. (382-336 v. Chr.), Vater Alexanders des Großen,
König von »Makedonien;
in jahrzehntelangen Kämpfen machte er Makedonien zur Vormacht in
Griechenland und einte die griechische Staatenwelt im »Korinthischen
Bundes, zu dessen »Hegemon
er sich wählen ließ.
6
aber niemand,
niemand kann nach Indien führen: Alexander Große erreichte auf dem
so genannten »Alexanderzug
im Sommer 327 Indien (»Punjab);
zu Beginn des Feldzugs gelangen seinem Heer und ihm mehrere Siege, so
etwa gegen den mächtigen indischen Fürsten »Poros
in der »Schlacht
am Hydaspes (326 v. Chr.); im Sommer 326 verweigerten Alexanders
Truppen ihrem König den Weitermarsch am Hyphasis infolge allgemeiner
Erschöpfung, die der andauernde Monsunregen mit sich brachte; daraufhin
war Alexander gezwungen seinen Eroberungsfeldzug abzubrechen und zog im
Anschluss weiter stromabwärts des »Indus
und kehrte nach Zentralpersien zurück.
7
Alexanderschlacht:
»Alexanderschlacht:
»Schlacht
bei Issos (333 v. Chr.): erstes direktes Aufeinandertreffen von
Alexander dem Großen auf makedonischer und
Dareios III. (380-330 v. Chr.) auf persischer Seite. Die Griechen/Makedonen
wollten sich – so das offizielle Kriegsziel – mit ihrem Feldzug für die
Zerstörungen rächen, die die Perser fast 150 Jahre zuvor in
Griechenland, besonders in Athen, verursacht hatten. Alexander strebte
jedoch auch nach Ruhm und Eroberungen. Die Schlacht endete mit einem
Sieg der Makedonen; Sieg bringt Alexander faktisch die Herrschaft
über den gesamten Westteil des Perserreiches. Seine Machtposition als
"Herrscher über Asien" (siehe auch
Gordischer Knoten) gründet im Wesentlichen darauf und steigert sein
Ansehen bei den Griechen und Makedonen. Die Niederlage des persischen
Großkönigs erlaubte Alexander, seinen Feldzug über Syrien, Phönizien und
Palästina nach Ägypten fortzusetzen, während sich Dareios nach Osten
zurückzog, um sich auf die Entscheidungsschlacht (Schlacht
von Gaugamela (331 v.), mit der die endgültige Eroberung des »Achämenidenreichs
erreicht werden sollte, vorzubereiten.