Franz Kafka, Der Kreisel
Ein
Philosoph trieb sich immer dort herum, wo Kinder spielten. Und sah
er einen Jungen, der einen Kreisel hatte, so lauerte er schon. Kaum
war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn der Philosoph, um ihn zu
fangen. Dass die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug
abzuhalten suchten, kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel,
solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur
einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort. Er
glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel
auch eines sich drehenden Kreisels genüge zur Erkenntnis des
Allgemeinen. Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen
Problemen, das schien ihm unökonomisch, war die kleinste Kleinigkeit
wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er
sich nur mit dem sich drehenden Kreisel. Und immer, wenn die
Vorbereitungen zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hatte er
Hoffnung, nun werde es gelingen, und drehte sich der Kreisel, wurde
ihm im atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewissheit, hielt
er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das
Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm
jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie
ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.
(Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. v. Paul Raabe, Fischer
Taschenbuch 1078, Frankfurt/M. 1970, S.367)
*Der Kreisel ist um 1920 entstanden und
wurde von Max Brod, dem Freund und Herausgeber der Werke Kafkas,
nach dem Tode Kafkas mit diesem Titel versehen.
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