Blumfeld, ein älterer Junggeselle, stieg eines abends zu seiner Wohnung
hinauf, was eine mühselige Arbeit war, denn er wohnte im sechsten Stock.
Während des Hinaufsteigens dachte er, wie öfters in der letzten Zeit, daran,
daß dieses vollständig einsame Leben recht lästig sei, daß er jetzt diese
sechs Stockwerke förmlich im Geheimen hinaufsteigen müsse, um oben in seinen
leeren Zimmern anzukommen, dort wieder förmlich im Geheimen den Schlafrock
anzuziehn, die Pfeife anzustecken, in der französischen Zeitschrift, die er
schon seit Jahren abonniert hatte, ein wenig zu lesen, dazu an einem von ihm
selbst bereiteten Kirschenschnaps zu nippen und schließlich nach einer
halben Stunde zu Bett zu gehn, nicht ohne vorher das Bettzeug vollständig
umordnen zu müssen, das die jeder Belehrung unzugängliche Bedienerin immer
nach ihrer Laune hinwarf. Irgendein Begleiter, irgendein Zuschauer für diese
Tätigkeiten wäre Blumfeld sehr willkommen gewesen. Er hatte schon überlegt,
ob er sich nicht einen kleinen Hund anschaffen solle. Ein solches Tier ist
lustig und vor allem dankbar und treu; ein Kollege von Blumfeld hat einen
solchen Hund, er schließt sich niemandem an, außer seinem Herrn, und hat er
ihn ein paar Augenblicke nicht gesehn, empfängt er ihn gleich mit großem
Bellen, womit er offenbar seine Freude darüber ausdrücken will, seinen
Herrn, diesen außerordentlichen Wohltäter wieder gefunden zu haben.
Allerdings hat ein Hund auch Nachteile. Selbst wenn er noch so reinlich
gehalten wird, verunreinigt er das Zimmer. Das ist gar nicht zu vermeiden,
man kann ihn nicht jedesmal, ehe man ihn ins Zimmer hineinnimmt, in heißem
Wasser baden, auch würde das seine Gesundheit nicht vertragen.
Unreinlichkeit in seinem Zimmer aber verträgt wieder Blumfeld nicht, die
Reinheit seines Zimmers ist ihm etwas Unentbehrliches, mehrmals in der Woche
hat er mit der in diesem Punkte leider nicht sehr peinlichen Bedienerin
Streit. Da sie schwerhörig ist, zieht er sie gewöhnlich am Arm zu jenen
Stellen des Zimmers, wo er an der Reinlichkeit etwas auszusetzen hat. Durch
diese Strenge hat er es erreicht, daß die Ordnung im Zimmer annähernd seinen
Wünschen entspricht. Mit der Einführung eines Hundes würde er aber geradezu
den bisher so sorgfältig abgewehrten Schmutz freiwillig in sein Zimmer
leiten. Flöhe, die ständigen Begleiter der Hunde, würden sich einstellen.
Waren aber einmal Flöhe da, dann war auch der Augenblick nicht mehr fern, an
dem Blumfeld sein behagliches Zimmer dem Hund überlassen und ein anderes
Zimmer suchen würde. Unreinlichkeit war aber nur ein Nachteil der Hunde.
Hunde werden auch krank und Hundekrankheiten versteht doch eigentlich
niemand. Dann hockt dieses Tier in einem Winkel oder hinkt herum, winselt,
hüstelt, würgt an irgendeinem Schmerz, man umwickelt es mit einer Decke,
pfeift ihm etwas vor, schiebt ihm Milch hin, kurz, pflegt es in der
Hoffnung, daß es sich, wie es ja auch möglich ist, um ein vorübergehendes
Leiden handelt, indessen aber kann es eine ernsthafte, widerliche und
ansteckende Krankheit sein. Und selbst wenn der Hund gesund bleibt, so wird
er doch später einmal alt, man hat sich nicht entschließen können, das treue
Tier rechtzeitig wegzugeben, und es kommt dann die Zeit, wo einen das eigene
Alter aus den tränenden Hundeaugen anschaut. Dann muß man sich aber mit dem
halbblinden, lungenschwachen, vor Fett fast unbeweglichen Tier quälen und
damit die Freuden, die der Hund früher gemacht hat, teuer bezahlen. So gern
Blumfeld einen Hund jetzt hätte, so will er doch lieber noch dreißig Jahre
allein die Treppe hinaufsteigen, statt später von einem solchen alten Hund
belästigt zu werden, der, noch lauter seufzend als er selbst, sich neben ihm
von Stufe zu Stufe hinaufschleppt.
So wird also Blumfeld doch allein bleiben, er hat nicht etwa die Gelüste
einer alten Jungfer, die irgendein untergeordnetes lebendiges Wesen in ihrer
Nähe haben will, das sie beschützen darf, mit dem sie zärtlich sein kann,
welches sie immerfort bedienen will, so daß ihr also zu diesem Zweck eine
Katze, ein Kanarienvogel oder selbst Goldfische genügen. Und kann es das
nicht sein, so ist sie sogar mit Blumen vor dem Fenster zufrieden. Blumfeld
dagegen will nur einen Begleiter haben, ein Tier, um das er sich nicht viel
kümmern muß, dem ein gelegentlicher Fußtritt nicht schadet, das im Notfall
auch auf der Gasse übernachten kann, das aber, wenn es Blumfeld danach
verlangt, gleich mit Bellen, Springen, Händelecken zur Verfügung steht.
Etwas derartiges will Blumfeld, da er es aber, wie er einsieht, ohne
allzugroße Nachteile nicht haben kann, so verzichtet er darauf, kommt aber
seiner gründlichen Natur entsprechend von Zeit zu Zeit, zum Beispiel an
diesem Abend, wieder auf die gleichen Gedanken zurück.
Als er oben vor seiner Zimmertür den Schlüssel aus der Tasche holt, fällt
ihm ein Geräusch auf, das aus seinem Zimmer kommt. Ein eigentümliches
klapperndes Geräusch, sehr lebhaft aber, sehr regelmäßig. Da Blumfeld gerade
an Hunde gedacht hat, erinnert es ihn an das Geräusch, das Pfoten
hervorbringen, wenn sie abwechselnd auf den Boden schlagen. Aber Pfoten
klappern nicht, es sind nicht Pfoten. Er schließt eilig die Tür auf und
dreht das elektrische Licht auf. Auf diesen Anblick war er nicht
vorbereitet. Das ist ja Zauberei,
zwei kleine, weiße blaugestreifte
Zelluloidbälle springen auf dem Parkett nebeneinander auf und ab, schlägt
der eine auf den Boden, ist der andere in der Höhe, und unermüdlich führen
sie ihr Spiel aus. Einmal im Gymnasium hat Blumfeld bei einem bekannten
elektrischen Experiment kleine Kügelchen ähnlich springen sehn, diese aber
sind verhältnismäßig große Bälle, springen im freien Zimmer und es wird kein
elektrisches Experiment angestellt. Blumfeld bückt sich zu ihnen hinab, um
sie genauer anzusehen. Es sind ohne Zweifel gewöhnliche Bälle, sie enthalten
wahrscheinlich in ihrem Innern noch einige kleinere Bälle und diese erzeugen
das klappernde Geräusch. Blumfeld greift in die Luft, um festzustellen, ob
sie nicht etwa an irgendwelchen Fäden hängen, nein, sie bewegen sich ganz
selbständig. Schade, daß Blumfeld nicht ein kleines Kind ist, zwei solche
Bälle wären für ihn eine freudige Überraschung gewesen, während jetzt das
Ganze einen mehr unangenehmen Eindruck auf ihn macht. Es ist doch nicht ganz
wertlos, als ein unbeachteter Junggeselle nur im Geheimen zu leben, jetzt
hat irgend jemand, gleichgültig wer, dieses Geheimnis gelüftet und ihm diese
zwei komischen Bälle hereingeschickt.
Er will einen fassen, aber sie weichen vor ihm zurück und locken ihn im
Zimmer hinter sich her. Es ist doch zu dumm, denkt er, so hinter den Bällen
herzulaufen, bleibt stehen und sieht ihnen nach, wie sie, da die Verfolgung
aufgegeben scheint, auch auf der gleichen Stelle bleiben. Ich werde sie aber
doch zu fangen suchen, denkt er dann wieder und eilt zu ihnen. Sofort
flüchten sie sich, aber Blumfeld drängt sie mit auseinandergestellten Beinen
in eine Zimmerecke, und vor dem Koffer, der dort steht, gelingt es ihm,
einen Ball zu fangen. Es ist ein kühler, kleiner Ball und dreht sich in
seiner Hand, offenbar begierig zu entschlüpfen. Und auch der andere Ball,
als sehe er die Not seines Kameraden, springt höher als früher, und dehnt
die Sprünge, bis er Blumfelds Hand berührt. Er schlägt gegen die Hand,
schlägt in immer schnelleren Sprüngen, ändert die Angriffspunkte, springt
dann, da er gegen die Hand, die den Ball ganz umschließt, nichts ausrichten
kann, noch höher und will wahrscheinlich Blumfelds Gesicht erreichen.
Blumfeld könnte auch diesen Ball fangen und beide irgendwo einsperren, aber
es scheint ihm im Augenblick zu entwürdigend, solche Maßnahmen gegen zwei
kleine Bälle zu ergreifen. Es ist doch auch ein Spaß, zwei solche Bälle zu
besitzen, auch werden sie bald genug müde werden, unter einen Schrank rollen
und Ruhe geben. Trotz dieser Überlegung schleudert aber Blumfeld in einer
Art Zorn den Ball zu Boden, es ist ein Wunder, daß hiebei die schwache, fast
durchsichtige Zelluloidhülle nicht zerbricht. Ohne Übergang nehmen die zwei
Bälle ihre frühern niedrigen, gegenseitig abgestimmten Sprünge wieder auf.
Blumfeld entkleidet sich ruhig, ordnet die Kleider im Kasten, er pflegt
immer genau nachzusehn, ob die Bedienerin alles in Ordnung zurückgelassen
hat. Ein- oder zweimal schaut er über die Schulter weg nach den Bällen, die
unverfolgt jetzt sogar ihn zu verfolgen scheinen, sie sind ihm nachgerückt
und springen nun knapp hinter ihm. Blumfeld zieht den Schlafrock an und will
zu der gegenüberliegenden Wand, um eine der Pfeifen zu holen, die dort in
einem Gestell hängen. Unwillkürlich schlägt er, ehe er sich umdreht, mit
einem Fuß nach hinten aus, die Bälle aber verstehen es auszuweichen und
werden nicht getroffen. Als er nun um die Pfeife geht, schließen sich ihm
die Bälle gleich an, er schlurft mit den Pantoffeln, macht unregelmäßige
Schritte, aber doch folgt jedem Auftreten fast ohne Pause ein Aufschlag der
Bälle, sie halten mit ihm Schritt. Blumfeld dreht sich unerwartet um, um zu
sehn, wie die Bälle das zustande bringen. Aber kaum hat er sich umgedreht,
beschreiben die Bälle einen Halbkreis und sind schon wieder hinter ihm und
das wiederholt sich, sooft er sich umdreht. Wie untergeordnete Begleiter,
suchen sie es zu vermeiden, vor Blumfeld sich aufzuhalten. Bis jetzt haben
sie es scheinbar nur gewagt, um sich ihm vorzustellen, jetzt aber haben sie
bereits ihren Dienst angetreten.
Bisher hat Blumfeld immer in allen Ausnahmsfällen, wo seine Kraft nicht
hinreichte, um die Lage zu beherrschen, das Aushilfsmittel gewählt, so zu
tun, als bemerke er nichts. Es hat oft geholfen und meistens die Lage
wenigstens verbessert. Er verhält sich also auch jetzt so, steht vor dem
Pfeifengestell, wählt mit aufgestülpten Lippen eine Pfeife, stopft sie
besonders gründlich aus dem bereitgestellten Tabaksbeutel und läßt
unbekümmert hinter sich die Bälle ihre Sprünge machen. Nur zum Tisch zu gehn
zögert er, den Gleichtakt der Sprünge und seiner eigenen Schritte zu hören,
schmerzt ihn fast. So steht er, stopft die Pfeife unnötig lange und prüft
die Entfernung, die ihn vom Tische trennt. Endlich aber überwindet er seine
Schwäche und legt die Strecke unter solchem Fußstampfen zurück, daß er die
Bälle gar nicht hört. Als er sitzt, springen sie allerdings hinter seinem
Sessel wieder vernehmlich wie früher.
Über dem Tisch ist in Griffnähe an der Wand ein Brett angebracht, auf dem
die Flasche mit dem Kirschenschnaps von kleinen Gläschen umgeben steht.
Neben ihr liegt ein Stoß von Heften der französischen Zeitschrift. (Gerade
heute ist ein neues Heft gekommen und Blumfeld holt es herunter. Den Schnaps
vergißt er ganz, er hat selbst das Gefühl, als ob er heute nur aus Trost an
seinen gewöhnlichen Beschäftigungen sich nicht hindern ließe, auch ein
wirkliches Bedürfnis zu lesen hat er nicht. Er schlägt das Heft, entgegen
seiner sonstigen Gewohnheit, Blatt für Blatt sorgfältig zu wenden, an einer
beliebigen Stelle auf und findet dort ein großes Bild. Er zwingt sich es
genauer anzusehn. Es stellt die Begegnung zwischen dem Kaiser von Rußland
und dem Präsidenten von Frankreich dar. Sie findet auf einem Schiff statt.
Ringsherum bis in die Ferne sind noch viele andere Schiffe, der Rauch ihrer
Schornsteine verflüchtigt sich im hellen Himmel. Beide, der Kaiser und der
Präsident, sind eben in langen Schritten einander entgegengeeilt und fassen
einander gerade bei der Hand. Hinter dem Kaiser wie hinter dem Präsidenten
stehen je zwei Herren. Gegenüber den freudigen Gesichtern des Kaisers und
des Präsidenten sind die Gesichter der Begleiter sehr ernst, die Blicke
jeder Begleitgruppe vereinigen sich auf ihren Herrscher. Tiefer unten, der
Vorgang spielt sich offenbar auf dem höchsten Deck des Schiffes ab, stehen
vom Bildrand abgeschnitten lange Reihen salutierender Matrosen. Blumfeld
betrachtet allmählich das Bild mit mehr Teilnahme, hält es dann ein wenig
entfernt und sieht es so mit blinzelnden Augen an. Er hat immer viel Sinn
für solche großartige Szenen gehabt. Daß die Hauptpersonen so unbefangen,
herzlich und leichtsinnig einander die Hände drücken, findet er sehr
wahrheitsgetreu. Und ebenso richtig ist es, daß die Begleiter – übrigens
natürlich sehr hohe Herren, deren Namen unten verzeichnet sind – in ihrer
Haltung den Ernst des historischen Augenblicks wahren.)
Und statt alles, was er benötigt, herunterzuholen, sitzt Blumfeld still und
blickt in den noch immer nicht entzündeten Pfeifenkopf. Er ist auf der
Lauer, plötzlich, ganz unerwartet weicht sein Erstarren und er dreht sich in
einem Ruck mit dem Sessel um. Aber auch die Bälle sind entsprechend wachsam
oder folgen gedankenlos dem sie beherrschenden Gesetz, gleichzeitig mit
Blumfelds Umdrehung verändern auch sie ihren Ort und verbergen sich hinter
seinem Rücken. Nun sitzt Blumfeld mit dem Rücken zum Tisch, die kalte Pfeife
in der Hand. Die Bälle springen jetzt unter dem Tisch und sind, da dort ein
Teppich ist, nur wenig zu hören. Das ist ein großer Vorteil es gibt nur ganz
schwache dumpfe Geräusche, man muß sehr aufmerken, um sie mit dem Gehör noch
zu erfassen. Blumfeld allerdings ist sehr aufmerksam und hört sie genau.
Aber das ist nur jetzt so, in einem Weilchen wird er sie wahrscheinlich gar
nicht mehr hören. Daß sie sich auf Teppichen so wenig bemerkbar machen
können, scheint Blumfeld eine große Schwäche der Bälle zu sein. Man muß
ihnen nur einen oder noch besser zwei Teppiche unterschieben und sie sind
fast machtlos. Allerdings nur für eine bestimmte Zeit, und außerdem bedeutet
schon ihr Dasein eine gewisse Macht.
Jetzt könnte Blumfeld einen Hund gut brauchen, so ein junges, wildes Tier
würde mit den Bällen bald fertig werden; er stellt sich vor, wie dieser Hund
mit den Pfoten nach ihnen hascht, wie er sie von ihrem Posten vertreibt, wie
er sie kreuz und quer durchs Zimmer jagt und sie schließlich zwischen seine
Zähne bekommt. Es ist leicht möglich, daß sich Blumfeld in nächster Zeit
einen Hund anschafft.
Vorläufig aber müssen die Bälle nur Blumfeld fürchten und er hat jetzt keine
Lust sie zu zerstören, vielleicht fehlt es ihm auch nur an Entschlußkraft
dazu. Er kommt abends müde aus der Arbeit und nun, wo er Ruhe nötig hat,
wird ihm diese Überraschung bereitet. Er fühlt erst jetzt, wie müde er
eigentlich ist. Zerstören wird er ja die Bälle gewiß, und zwar in
allernächster Zeit, aber vorläufig nicht und wahrscheinlich erst am nächsten
Tag. Wenn man das Ganze unvoreingenommen ansieht, führen sich übrigens die
Bälle genügend bescheiden auf. Sie könnten beispielsweise von Zeit zu Zeit
vorspringen, sich zeigen und wieder an ihren Ort zurückkehren, oder sie
könnten höher springen, um an die Tischplatte zu schlagen und sich für die
Dämpfung durch den Teppich so entschädigen. Aber das tun sie nicht, sie
wollen Blumfeld nicht unnötig reizen, sie beschränken sich offenbar nur auf
das unbedingt Notwendige.
Allerdings genügt auch dieses Notwendige, um Blumfeld den Aufenthalt beim
Tisch zu verleiden. Er sitzt erst ein paar Minuten dort und denkt schon
daran, schlafen zu gehn. Einer der Beweggründe dafür ist auch der, daß er
hier nicht rauchen kann, denn er hat die Zündhölzer auf das Nachttischchen
gelegt. Er müßte also diese Zündhölzchen holen, wenn er aber einmal beim
Nachttisch ist, ist es wohl besser schon dort zu bleiben und sich
niederzulegen. Er hat hiebei auch noch einen Hintergedanken, er glaubt
nämlich, daß die Bälle, in ihrer blinden Sucht, sich immer hinter ihm zu
halten, auf das Bett springen werden und daß er sie dort, wenn er sich dann
niederlegt, mit oder ohne Willen zerdrücken wird. Den Einwand, daß etwa auch
noch die Reste der Bälle springen könnten, lehnt er ab. Auch das
Ungewöhnliche muß Grenzen haben. Ganze Bälle springen auch sonst, wenn auch
nicht ununterbrochen, Bruchstücke von Bällen dagegen springen niemals, und
werden also auch hier nicht springen.
»Auf!« ruft er durch diese Überlegung fast mutwillig gemacht und stampft
wieder mit den Bällen hinter sich zum Bett. Seine Hoffnung scheint sich zu
bestätigen, wie er sich absichtlich ganz nahe ans Bett stellt, springt
sofort ein Ball auf das Bett hinauf. Dagegen tritt das Unerwartete ein, daß
der andere Ball sich unter das Bett begibt. An die Möglichkeit, daß die
Bälle auch unter dem Bett springen könnten, hat Blumfeld gar nicht gedacht.
Er ist über den einen Ball entrüstet, trotzdem er fühlt, wie ungerecht das
ist, denn durch das Springen unter dem Bett erfüllt der Ball seine Aufgabe
vielleicht noch besser als der Ball auf dem Bett. Nun kommt alles darauf an,
für welchen Ort sich die Bälle entscheiden, denn, daß sie lang getrennt
arbeiten könnten, glaubt Blumfeld nicht. Und tatsächlich springt im nächsten
Augenblick auch der untere Ball auf das Bett hinauf. Jetzt habe ich sie,
denkt Blumfeld, heiß vor Freude, und reißt den Schlafrock vom Leib, um sich
ins Bett zu werfen. Aber gerade springt der gleiche Ball wieder unter das
Bett. Übermäßig enttäuscht sinkt Blumfeld förmlich zusammen. Der Ball hat
sich wahrscheinlich oben nur umgesehn und es hat ihm nicht gefallen. Und nun
folgt ihm auch der andere und bleibt natürlich unten, denn unten ist es
besser. ›Nun werde ich diese Trommler die ganze Nacht hier haben‹, denkt
Blumfeld, beißt die Lippen zusammen und nickt mit dem Kopf.
Er ist traurig, ohne eigentlich zu wissen, womit ihm die Bälle in der Nacht
schaden könnten. Sein Schlaf ist ausgezeichnet, er wird das kleine Geräusch
leicht überwinden. Um dessen ganz sicher zu sein, schiebt er ihnen
entsprechend der gewonnenen Erfahrung zwei Teppiche unter. Es ist, als hätte
er einen kleinen Hund, den er weich betten will. Und als wären auch die
Bälle müde und schläfrig, sind auch ihre Sprünge niedriger und langsamer als
früher. Wie Blumfeld vor dem Bett kniet und mit der Nachtlampe
hinunterleuchtet, glaubt er manchmal, daß die Bälle auf den Teppichen für
immer liegenbleiben werden, so schwach fallen sie, so langsam rollen sie ein
Stückchen weit. Dann allerdings erheben sie sich wieder pflichtgemäß. Es ist
aber leicht möglich, daß Blumfeld, wenn er früh unter das Bett schaut, dort
zwei stille harmlose Kinderbälle finden wird.
Aber sie scheinen die Sprünge nicht einmal bis zum Morgen aushalten zu
können, denn schon als Blumfeld im Bett liegt, hört er sie gar nicht mehr.
Er strengt sich an, etwas zu hören, lauscht aus dem Bett vorgebeugt – kein
Laut. So stark können die Teppiche nicht wirken, die einzige Erklärung ist,
daß die Bälle nicht mehr springen, entweder können sie sich von den weichen
Teppichen nicht genügend abstoßen und haben deshalb das Springen vorläufig
aufgegeben, oder aber, was das Wahrscheinlichere ist, sie werden niemals
mehr springen. Blumfeld könnte aufstehn und nachschauen, wie es sich
eigentlich verhält, aber in seiner Zufriedenheit darüber, daß endlich Ruhe
ist, bleibt er lieber liegen, er will an die ruhiggewordenen Bälle nicht
einmal mit den Blicken rühren. Sogar auf das Rauchen verzichtet er gern,
dreht sich zur Seite und schläft gleich ein.
Doch bleibt er nicht ungestört; wie sonst immer, ist sein Schlaf auch
diesmal traumlos, aber sehr unruhig. Unzählige Male in der Nacht wird er
durch die Täuschung aufgeschreckt, als ob jemand an die Tür klopfe. Er weiß
auch bestimmt, daß niemand klopft; wer wollte in der Nacht klopfen und an
seine, eines einsamen Junggesellen Tür. Obwohl er es aber bestimmt weiß,
fährt er doch immer wieder auf und blickt einen Augenblick lang gespannt zur
Türe, den Mund offen, die Augen aufgerissen und die Haarsträhnen schütteln
sich auf seiner feuchten Stirn. Er macht Versuche zu zählen, wie oft er
geweckt wird, aber besinnungslos von den ungeheuern Zahlen, die sich
ergeben, fällt er wieder in den Schlaf zurück. Er glaubt zu wissen, woher
das Klopfen stammt, es wird nicht an der Tür ausgeführt, sondern ganz
anderswo, aber er kann sich in der Befangenheit des Schlafes nicht erinnern,
worauf sich seine Vermutungen gründen. Er weiß nur, daß viele winzige
widerliche Schläge sich sammeln, ehe sie das große starke Klopfen ergeben.
Er würde alle Widerlichkeit der kleinen Schläge erdulden wollen, wenn er das
Klopfen vermeiden könnte, aber es ist aus irgendeinem Grunde zu spät, er
kann hier nicht eingreifen, es ist versäumt, er hat nicht einmal Worte, nur
zum stummen Gähnen öffnet sich sein Mund, und wütend darüber schlägt er das
Gesicht in die Kissen. So vergeht die Nacht.
Am Morgen weckt ihn das Klopfen der Bedienerin, mit einem Seufzer der
Erlösung begrüßt er das sanfte Klopfen, über dessen Unhörbarkeit er sich
immer beklagt hat, und will schon »herein« rufen, da hört er noch ein
anderes lebhaftes, zwar schwaches, aber förmlich kriegerisches Klopfen. Es
sind die Bälle unter dem Bett. Sind sie aufgewacht, haben sie im Gegensatz
zu ihm über die Nacht neue Kräfte gesammelt? »Gleich«, ruft Blumfeld der
Bedienerin zu, springt aus dem Bett, aber vorsichtigerweise so, daß er die
Bälle im Rücken behält, wirft sich, immer den Rücken ihnen zugekehrt, auf
den Boden, blickt mit verdrehtem Kopf zu den Bällen und – möchte fast
fluchen. Wie Kinder, die in der Nacht die lästigen Decken von sich schieben,
haben die Bälle wahrscheinlich durch kleine, während der ganzen Nacht
fortgesetzte Zuckungen die Teppiche so weit unter dem Bett hervorgeschoben,
daß sie selbst wieder das freie Parkett unter sich haben und Lärm machen
können. »Zurück auf die Teppiche«, sagt Blumfeld mit bösem Gesicht, und
erst, als die Bälle dank der Teppiche wieder still geworden sind, ruft er
die Bedienerin herein. Während diese, ein fettes, stumpfsinniges, immer
steif aufrecht gehendes Weib, das Frühstück auf den Tisch stellt und die
paar Handreichungen macht, die nötig sind, steht Blumfeld unbeweglich im
Schlafrock bei seinem Bett, um die Bälle unten festzuhalten. Er folgt der
Bedienerin mit den Blicken, um festzustellen, ob sie etwas merkt. Bei ihrer
Schwerhörigkeit ist das sehr unwahrscheinlich und Blumfeld schreibt es
seiner durch den schlechten Schlaf erzeugten Überreiztheit zu, wenn er zu
sehen glaubt, daß die Bedienerin doch hie und da stockt, sich an irgendeinem
Möbel festhält und mit hochgezogenen Brauen horcht. Er wäre glücklich, wenn
er die Bedienerin dazu bringen könnte, ihre Arbeit ein wenig zu
beschleunigen, aber sie ist fast langsamer als sonst. Umständlich belädt sie
sich mit Blumfelds Kleidern und Stiefeln und zieht damit auf den Gang, lange
bleibt sie weg, eintönig und ganz vereinzelt klingen die Schläge herüber,
mit denen sie draußen die Kleider bearbeitet. Und während dieser ganzen Zeit
muß Blumfeld auf dem Bett ausharren, darf sich nicht rühren, wenn er nicht
die Bälle hinter sich herziehen will, muß den Kaffee, den er so gern
möglichst warm trinkt, auskühlen lassen und kann nichts anderes tun, als den
herabgelassenen Fenstervorhang anstarren, hinter dem der Tag trübe
herandämmert. Endlich ist die Bedienerin fertig, wünscht einen guten Morgen
und will schon gehn. Aber ehe sie sich endgültig entfernt, bleibt sie noch
bei der Tür stehn, bewegt ein wenig die Lippen und sieht Blumfeld mit langem
Blicke an. Blumfeld will sie schon zur Rede stellen, da geht sie
schließlich. Am liebsten möchte Blumfeld die Tür aufreißen und ihr
nachschreien, was für ein dummes, altes, stumpfsinniges Weib sie ist. Als er
aber darüber nachdenkt, was er gegen sie eigentlich einzuwenden hat, findet
er nur den Widersinn, daß sie zweifellos nichts bemerkt hat und sich doch
den Anschein geben wollte, als hätte sie etwas bemerkt. Wie verwirrt seine
Gedanken sind! Und das nur von einer schlecht durchschlafenen Nacht! Für den
schlechten Schlaf findet er eine kleine Erklärung darin, daß er gestern
abend von seinen Gewohnheiten abgewichen ist, nicht geraucht und nicht
Schnaps getrunken hat. Wenn ich einmal, und das ist das Endergebnis seines
Nachdenkens, nicht rauche und nicht Schnaps trinke, schlafe ich schlecht.
Er wird von jetzt ab mehr auf sein Wohlbefinden achten, und beginnt damit,
daß er aus seiner Hausapotheke, die über dem Nachttischchen hängt, Watte
nimmt und zwei Wattekügelchen sich in die Ohren stopft. Dann steht er auf
und macht einen Probeschritt. Die Bälle folgen zwar, aber er hört sie fast
nicht, noch ein Nachschub von Watte macht sie ganz unhörbar. Blumfeld führt
noch einige Schritte aus, es geht ohne besondere Unannehmlichkeit. Jeder ist
für sich, Blumfeld wie die Bälle, sie sind zwar aneinander gebunden, aber
sie stören einander nicht. Nur als Blumfeld sich einmal rascher umwendet und
ein Ball die Gegenbewegung nicht rasch genug machen kann, stößt Blumfeld mit
dem Knie an ihn. Es ist der einzige Zwischenfall, im übrigen trinkt Blumfeld
ruhig den Kaffee, er hat Hunger, als hätte er in dieser Nacht nicht
geschlafen, sondern einen langen Weg gemacht, wäscht sich mit kaltem,
ungemein erfrischendem Wasser und kleidet sich an. Bisher hat er die
Vorhänge nicht hochgezogen, sondern ist aus Vorsicht lieber im Halbdunkel
geblieben, für die Bälle braucht er keine fremden Augen. Aber als er jetzt
zum Weggehn bereit ist, muß er die Bälle für den Fall, daß sie es wagen
sollten – er glaubt es nicht – ihm auch auf die Gasse zu folgen, irgendwie
versorgen. Er hat dafür einen guten Einfall, er öffnet den großen
Kleiderkasten und stellt sich mit dem Rücken gegen ihn. Als hätten die Bälle
eine Ahnung dessen, was beabsichtigt wird, hüten sie sich vor dem Inneren
des Kastens, jedes Plätzchen, das zwischen Blumfeld und dem Kasten bleibt,
nützen sie aus, springen, wenn es nicht anders geht, für einen Augenblick in
den Kasten, flüchten sich aber vor dem Dunkel gleich wieder hinaus, über die
Kante weiter in den Kasten sind sie gar nicht zu bringen, lieber verletzen
sie ihre Pflicht und halten sich fast zur Seite Blumfelds. Aber ihre kleinen
Listen sollen ihnen nichts helfen, denn jetzt steigt Blumfeld selbst
rücklings in den Kasten und nun müssen sie allerdings folgen. Damit ist aber
auch über sie entschieden, denn auf dem Kastenboden liegen verschiedene
kleinere Gegenstände, wie Stiefel, Schachteln, kleine Koffer, die alle zwar
– jetzt bedauert es Blumfeld – wohl geordnet sind, aber doch die Bälle sehr
behindern. Und als nun Blumfeld, der inzwischen die Tür des Kastens fast
zugezogen hat, mit einem großen Sprung, wie er ihn schon seit Jahren nicht
ausgeführt hat, den Kasten verläßt, die Tür zudrückt und den Schlüssel
umdreht, sind die Bälle eingesperrt. ›Das ist also gelungen‹, denkt Blumfeld
und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. Wie die Bälle in dem Kasten lärmen!
Es macht den Eindruck, als wären sie verzweifelt. Blumfeld dagegen ist sehr
zufrieden. Er verläßt das Zimmer und schon der öde Korridor wirkt wohltuend
auf ihn ein. Er befreit die Ohren von der Watte und die vielen Geräusche des
erwachenden Hauses entzücken ihn. Menschen sieht man nur wenig, es ist noch
sehr früh.
Unten im Flur vor der niedrigen Tür, durch die man in die Kellerwohnung der
Bedienerin kommt, steht ihr kleiner zehnjähriger Junge. Ein Ebenbild seiner
Mutter, keine Häßlichkeit der Alten ist in diesem Kindergesicht vergessen
worden. Krummbeinig, die Hände in den Hosentaschen steht er dort und faucht,
weil er schon jetzt einen Kropf hat und nur schwer Atem holen kann. Während
aber Blumfeld sonst, wenn ihm der Junge in den Weg kommt, einen eiligeren
Schritt einschlägt, um sich dieses Schauspiel möglichst zu ersparen, möchte
er heute bei ihm fast stehnbleiben wollen. Wenn der Junge auch von diesem
Weib in die Welt gesetzt ist und alle Zeichen seines Ursprungs trägt, so ist
er vorläufig doch ein Kind, in diesem unförmigen Kopf sind doch
Kindergedanken, wenn man ihn verständig ansprechen und etwas fragen wird, so
wird er wahrscheinlich mit heller Stimme, unschuldig und ehrerbietig
antworten, und man wird nach einiger Überwindung auch diese Wangen
streicheln können. So denkt Blumfeld, geht aber doch vorüber. Auf der Gasse
merkt er, daß das Wetter freundlicher ist, als er in seinem Zimmer gedacht
hat. Die Morgennebel teilen sich und Stellen blauen, von kräftigem Wind
gefegten Himmels erscheinen. Blumfeld verdankt es den Bällen, daß er viel
früher aus seinem Zimmer herausgekommen ist als sonst, sogar die Zeitung hat
er ungelesen auf dem Tisch vergessen, jedenfalls hat er dadurch viel Zeit
gewonnen und kann jetzt langsam gehn. Es ist merkwürdig, wie wenig Sorge ihm
die Bälle machen, seitdem er sie von sich getrennt hat. Solange sie hinter
ihm her waren, konnte man sie für etwas zu ihm Gehöriges halten, für etwas,
das bei Beurteilung seiner Person irgendwie mit herangezogen werden mußte,
jetzt dagegen waren sie nur ein Spielzeug zu Hause im Kasten. Und es fällt
hiebei Blumfeld ein, daß er die Bälle vielleicht am besten dadurch
unschädlich machen könnte, daß er sie ihrer eigentlichen Bestimmung zuführt.
Dort im Flur steht noch der Junge, Blumfeld wird ihm die Bälle schenken, und
zwar nicht etwa borgen, sondern ausdrücklich schenken, was gewiß
gleichbedeutend ist mit dem Befehl zu ihrer Vernichtung. Und selbst wenn sie
heil bleiben sollten, so werden sie doch in den Händen des Jungen noch
weniger bedeuten als im Kasten, das ganze Haus wird sehn, wie der Junge mit
ihnen spielt, andere Kinder werden sich anschließen, die allgemeine Meinung,
daß es sich hier um Spielbälle und nicht etwa um Lebensbegleiter Blumfelds
handelt, wird unerschütterlich und unwiderstehlich werden. Blumfeld läuft
ins Haus zurück. Gerade ist der Junge die Kellertreppe hinuntergestiegen und
will unten die Tür öffnen. Blumfeld muß den Jungen also rufen und seinen
Namen aussprechen, der lächerlich ist wie alles, was mit dem Jungen in
Verbindung gebracht wird. »Alfred, Alfred«, ruft er. Der Junge zögert lange.
»Also komm doch«, ruft Blumfeld, »ich gebe dir etwas.« Die kleinen zwei
Mädchen des Hausmeisters sind aus der gegenüberliegenden Tür herausgekommen
und stellen sich neugierig rechts und links von Blumfeld auf. Sie fassen
viel schneller auf als der Junge und verstehen nicht, warum er nicht gleich
kommt. Sie winken ihm, lassen dabei Blumfeld nicht aus den Augen, können
aber nicht ergründen, was für ein Geschenk Alfred erwartet. Die Neugierde
plagt sie und sie hüpfen von einem Fuß auf den andern. Blumfeld lacht sowohl
über sie als über den Jungen. Dieser scheint sich endlich alles
zurechtgelegt zu haben und steigt steif und schwerfällig die Treppe hinauf.
Nicht einmal im Gang verleugnet er seine Mutter, die übrigens unten in der
Kellertür erscheint. Blumfeld schreit überlaut, damit ihn auch die
Bedienerin versteht und die Ausführung seines Auftrags, falls es nötig sein
sollte, überwacht. »Ich habe oben«, sagt Blumfeld, »in meinem Zimmer zwei
schöne Bälle. Willst du sie haben?« Der Junge verzieht bloß den Mund, er
weiß nicht, wie er sich verhalten soll, er dreht sich um und sieht fragend
zu seiner Mutter hinunter. Die Mädchen aber fangen gleich an, um Blumfeld
herumzuspringen und bitten um die Bälle. »Ihr werdet auch mit ihnen spielen
dürfen«, sagt Blumfeld zu ihnen, wartet aber auf die Antwort des Jungen. Er
könnte die Bälle gleich den Mädchen schenken, aber sie scheinen ihm zu
leichtsinnig und er hat jetzt mehr Vertrauen zu dem Jungen. Dieser hat sich
inzwischen bei seiner Mutter, ohne daß Worte gewechselt worden wären, Rat
geholt und nickt auf eine neuerliche Frage Blumfelds zustimmend. »Dann gib
acht«, sagte Blumfeld, der gern übersieht, daß er hier für sein Geschenk
keinen Dank bekommen wird, »den Schlüssel zu meinem Zimmer hat deine Mutter,
den mußt du dir von ihr ausborgen, hier gebe ich dir den Schlüssel von
meinem Kleiderkasten und in diesem Kleiderkasten sind die Bälle. Sperr den
Kasten und das Zimmer wieder vorsichtig zu. Mit den Bällen aber kannst du
machen was du willst und mußt sie nicht wieder zurückbringen. Hast du mich
verstanden?« Der Junge hat aber leider nicht verstanden. Blumfeld hat diesem
grenzenlos begriffstutzigen Wesen alles besonders klarmachen wollen, hat
aber gerade infolge dieser Absicht alles zu oft wiederholt, zu oft
abwechselnd von Schlüsseln, Zimmer und Kasten gesprochen, und der Junge
starrt ihn infolgedessen nicht wie seinen Wohltäter, sondern wie einen
Versucher an. Die Mädchen allerdings haben gleich alles begriffen, drängen
sich an Blumfeld und strecken die Hände nach dem Schlüssel aus. »Wartet
doch«, sagt Blumfeld und ärgert sich schon über alle. Auch vergeht die Zeit,
er kann sich nicht mehr lange aufhalten. Wenn doch die Bedienerin endlich
sagen wollte, daß sie ihn verstanden hat und alles richtig für den Jungen
besorgen wird. Statt dessen steht sie aber noch immer unten an der Tür,
lächelt geziert wie verschämte Schwerhörige und glaubt vielleicht, daß
Blumfeld oben über ihren Jungen in plötzliches Entzücken geraten sei und ihm
das kleine Einmaleins abhöre. Blumfeld wieder kann aber doch nicht die
Kellertreppe hinuntersteigen und der Bedienerin seine Bitte ins Ohr
schreien, ihr Junge möge ihn doch um Gottes Barmherzigkeit willen von den
Bällen befreien. Er hat sich schon genug bezwungen, wenn er den Schlüssel zu
seinem Kleiderkasten für einen ganzen Tag dieser Familie anvertrauen will.
Nicht um sich zu schonen, reicht er hier den Schlüssel dem Jungen, statt ihn
selbst hinaufzuführen und ihm dort die Bälle zu übergeben. Aber er kann doch
nicht oben die Bälle zuerst wegschenken und sie dann, wie es voraussichtlich
geschehen müßte, dem Jungen gleich wieder nehmen, indem er sie als Gefolge
hinter sich herzieht. »Du verstehst mich also noch immer nicht?« fragt
Blumfeld fast wehmütig, nachdem er zu einer neuen Erklärung angesetzt, sie
aber unter dem leeren Blick des Jungen gleich wieder abgebrochen hat. Ein
solcher leerer Blick macht einen wehrlos. Er könnte einen dazu verführen,
mehr zu sagen als man will, nur damit man diese Leere mit Verstand erfülle.
»Wir werden ihm die Bälle holen«, rufen da die Mädchen. Sie sind schlau, sie
haben erkannt, daß sie die Bälle nur durch irgendeine Vermittlung des Jungen
erhalten können, daß sie aber auch noch diese Vermittlung selbst
bewerkstelligen müssen. Aus dem Zimmer des Hausmeisters schlägt eine Uhr und
mahnt Blumfeld zur Eile. »Dann nehmt also den Schlüssel«, sagt Blumfeld, und
der Schlüssel wird ihm mehr aus der Hand gezogen, als daß er ihn hergibt.
Die Sicherheit, mit der er den Schlüssel dem Jungen gegeben hätte, wäre
unvergleichlich größer gewesen. »Den Schlüssel zum Zimmer holt unten von der
Frau«, sagt Blumfeld noch, »und wenn ihr mit den Bällen zurückkommt, müßt
ihr beide Schlüssel der Frau geben.« »Ja, ja«, rufen die Mädchen und laufen
die Treppe hinunter. Sie wissen alles, durchaus alles, und als sei Blumfeld
von der Begriffstutzigkeit des Jungen angesteckt, versteht er jetzt selbst
nicht, wie sie seinen Erklärungen alles so schnell hatten entnehmen können.
Nun zerren sie schon unten am Rock der Bedienerin, aber Blumfeld kann, so
verlockend es wäre, nicht länger zusehn, wie sie ihre Aufgabe ausführen
werden, und zwar nicht nur weil es schon spät ist, sondern auch deshalb,
weil er nicht zugegen sein will, wenn die Bälle ins Freie kommen. Er will
sogar schon einige Gassen weit entfernt sein, wenn die Mädchen oben erst die
Türe seines Zimmers öffnen. Er weiß ja gar nicht, wessen er sich von den
Bällen noch versehen kann. Und so tritt er zum zweitenmal an diesem Morgen
ins Freie. Er hat noch gesehen, wie die Bedienerin sich gegen die Mädchen
förmlich wehrt und der Junge die krummen Beine rührt, um der Mutter zu Hilfe
zu kommen. Blumfeld begreift es nicht, warum solche Menschen wie die
Bedienerin auf der Welt gedeihen und sich fortpflanzen.
Während des Weges in die Wäschefabrik, in der Blumfeld angestellt ist,
bekommen die Gedanken an die Arbeit allmählich über alles andere die
Oberhand. Er beschleunigt seine Schritte und trotz der Verzögerung, die der
Junge verschuldet hat, ist er der erste in seinem Bureau. Dieses Bureau ist
ein mit Glas verschalter Raum, es enthält einen Schreibtisch für Blumfeld
und zwei Stehpulte für die Blumfeld untergeordneten Praktikanten. Obwohl
diese Stehpulte so klein und schmal sind, als seien sie für Schulkinder
bestimmt, ist es doch in diesem Bureau sehr eng und die Praktikanten dürfen
sich nicht setzen, weil dann für Blumfelds Sessel kein Platz mehr wäre. So
stehen sie den ganzen Tag an ihre Pulte gedrückt. Das ist für sie gewiß sehr
unbequem, es wird aber dadurch auch Blumfeld erschwert, sie zu beobachten.
Oft drängen sie sich eifrig an das Pult, aber nicht etwa um zu arbeiten,
sondern um miteinander zu flüstern oder sogar einzunicken. Blumfeld hat viel
Ärger mit ihnen, sie unterstützen ihn bei weitem nicht genügend in der
riesenhaften Arbeit, die ihm auferlegt ist. Diese Arbeit besteht darin, daß
er den gesamten Waren- und Geldverkehr mit den Heimarbeiterinnen besorgt,
welche von der Fabrik für die Herstellung gewisser feinerer Waren
beschäftigt werden. Um die Größe dieser Arbeit beurteilen zu können, muß man
einen näheren Einblick in die ganzen Verhältnisse haben. Diesen Einblick
aber hat, seitdem der unmittelbare Vorgesetzte Blumfelds vor einigen Jahren
gestorben ist, niemand mehr, deshalb kann auch Blumfeld niemandem die
Berechtigung zu einem Urteil über seine Arbeit zugestehn. Der Fabrikant,
Herr Ottomar zum Beispiel, unterschätzt Blumfelds Arbeit offensichtlich, er
erkennt natürlich die Verdienste an, die sich Blumfeld in der Fabrik im
Laufe der zwanzig Jahre erworben hat, und er erkennt sie an, nicht nur weil
er muß, sondern auch, weil er Blumfeld als treuen, vertrauenswürdigen
Menschen achtet, – aber seine Arbeit unterschätzt er doch, er glaubt
nämlich, sie könne einfacher und deshalb in jeder Hinsicht vorteilhafter
eingerichtet werden, als sie Blumfeld betreibt. Man sagt, und es ist wohl
nicht unglaubwürdig, daß Ottomar nur deshalb sich so selten in der Abteilung
Blumfelds zeige, um sich den Ärger zu ersparen, den ihm der Anblick der
Arbeitsmethoden Blumfelds verursacht. So verkannt zu werden, ist für
Blumfeld gewiß traurig, aber es gibt keine Abhilfe, denn er kann doch
Ottomar nicht zwingen, etwa einen Monat ununterbrochen in Blumfelds
Abteilung zu bleiben, die vielfachen Arten der hier zu bewältigenden
Arbeiten zu studieren, seine eigenen angeblich besseren Methoden anzuwenden
und sich durch den Zusammenbruch der Abteilung, den das notwendig zur Folge
hätte, von Blumfelds Recht überzeugen zu lassen. Deshalb also versieht
Blumfeld seine Arbeit unbeirrt wie vorher, erschrickt ein wenig, wenn nach
langer Zeit einmal Ottomar erscheint, macht dann im Pflichtgefühl des
Untergeordneten doch einen schwachen Versuch, Ottomar diese oder jene
Einrichtung zu erklären, worauf dieser stumm nickend mit gesenkten Augen
weitergeht, und leidet im übrigen weniger unter dieser Verkennung als unter
dem Gedanken daran, daß, wenn er einmal von seinem Posten wird abtreten
müssen, die sofortige Folge dessen ein großes, von niemandem aufzulösendes
Durcheinander sein wird, denn er kennt niemanden in der Fabrik, der ihn
ersetzen und seinen Posten in der Weise übernehmen könnte, daß für den
Betrieb durch Monate hindurch auch nur die schwersten Stockungen vermieden
würden. Wenn der Chef jemanden unterschätzt, so suchen ihn darin natürlich
die Angestellten womöglich noch zu übertreffen. Es unterschätzt daher jeder
Blumfelds Arbeit, niemand hält es für notwendig, zu seiner Ausbildung eine
Zeitlang in Blumfelds Abteilung zu arbeiten, und wenn neue Angestellte
aufgenommen werden, wird niemand aus eigenem Antrieb Blumfeld zugeteilt.
Infolgedessen fehlt es für die Abteilung Blumfelds an Nachwuchs. Es waren
Wochen des härtesten Kampfes, als Blumfeld, der bis dahin in der Abteilung
ganz allein, nur von einem Diener unterstützt, alles besorgt hatte, die
Beistellung eines Praktikanten forderte. Fast jeden Tag erschien Blumfeld im
Bureau Ottomars und erklärte ihm in ruhiger und ausführlicher Weise, warum
ein Praktikant in dieser Abteilung notwendig sei. Er sei nicht etwa deshalb
notwendig, weil Blumfeld sich schonen wolle, Blumfeld wolle sich nicht
schonen, er arbeite seinen überreichlichen Teil und gedenke damit nicht
aufzuhören, aber Herr Ottomar möge nur überlegen, wie sich das Geschäft im
Laufe der Zeit entwickelt habe, alle Abteilungen seien entsprechend
vergrößert worden, nur Blumfelds Abteilung werde immer vergessen. Und wie
sei gerade dort die Arbeit angewachsen! Als Blumfeld eintrat, an diese
Zeiten könne sich Herr Ottomar gewiß nicht mehr erinnern, hatte man dort mit
etwa zehn Näherinnen zu tun, heute schwankt ihre Zahl zwischen fünfzig und
sechzig. Eine solche Arbeit verlangt Kräfte, Blumfeld könne dafür bürgen,
daß er sich vollständig für die Arbeit verbrauche, dafür aber, daß er sie
vollständig bewältigen werde, könne er von jetzt ab nicht mehr bürgen. Nun
lehnte ja Herr Ottomar niemals Blumfelds Ansuchen geradezu ab, das konnte er
einem alten Beamten gegenüber nicht tun, aber die Art, wie er kaum zuhörte,
über den bittenden Blumfeld hinweg mit andern Leuten sprach, halbe Zusagen
machte, in einigen Tagen alles wieder vergessen hatte, – diese Art war recht
beleidigend. Nicht eigentlich für Blumfeld, Blumfeld ist kein Phantast, so
schön Ehre und Anerkennung ist, Blumfeld kann sie entbehren, er wird trotz
allem auf seiner Stelle ausharren, so lange es irgendwie geht, jedenfalls
ist er im Recht, und Recht muß sich schließlich, wenn es auch manchmal lange
dauert, Anerkennung verschaffen. So hat ja auch tatsächlich Blumfeld sogar
zwei Praktikanten schließlich bekommen, was für Praktikanten allerdings. Man
hätte glauben, können, Ottomar habe eingesehn, er könne seine Mißachtung der
Abteilung noch deutlicher als durch Verweigerung von Praktikanten durch
Gewährung dieser Praktikanten zeigen. Es war sogar möglich, daß Ottomar nur
deshalb Blumfeld so lange vertröstet hatte, weil er zwei solche Praktikanten
gesucht und sie, was begreiflich war, so lange nicht hatte finden können.
Und beklagen konnte sich jetzt Blumfeld nicht, die Antwort war ja
vorauszusehn, er hatte doch zwei Praktikanten bekommen, während er nur einen
verlangt hatte; so geschickt war alles von Ottomar eingeleitet. Natürlich
beklagte sich Blumfeld doch, aber nur weil ihn förmlich seine Notlage dazu
drängte, nicht weil er jetzt noch Abhilfe erhoffte. Er beklagte sich auch
nicht nachdrücklich, sondern nur nebenbei, wenn sich eine passende
Gelegenheit ergab. Trotzdem verbreitete sich bald unter den übelwollenden
Kollegen das Gerücht, jemand habe Ottomar gefragt, ob es denn möglich sei,
daß sich Blumfeld, der doch jetzt eine so außerordentliche Beihilfe bekommen
habe, noch immer beklage. Darauf habe Ottomar geantwortet, es sei richtig,
Blumfeld beklage sich noch immer, aber mit Recht. Er, Ottomar, habe es
endlich eingesehn und er beabsichtige Blumfeld nach und nach für jede
Näherin einen Praktikanten, also im Ganzen etwa sechzig zuzuteilen. Sollten
aber diese noch nicht genügen, werde er noch mehr hinschicken und er werde
damit nicht früher aufhören, bis das Tollhaus vollkommen sei, welches in der
Abteilung Blumfelds schon seit Jahren sich entwickle. Nun war allerdings in
dieser Bemerkung die Redeweise Ottomars gut nachgeahmt, er selbst aber,
daran zweifelte Blumfeld nicht, war weit davon entfernt, sich jemals auch
nur in ähnlicher Weise über Blumfeld zu äußern. Das Ganze war eine Erfindung
der Faulenzer aus den Bureaus im ersten Stock, Blumfeld ging darüber hinweg,
– hätte er nur auch über das Vorhandensein der Praktikanten so ruhig
hinweggehn können. Die standen aber da und waren nicht mehr wegzubringen.
Blasse, schwache Kinder. Nach ihren Dokumenten sollten sie das schulfreie
Alter schon erreicht haben, in Wirklichkeit konnte man es aber nicht
glauben. Ja, man hätte sie noch einmal einem Lehrer anvertrauen wollen, so
deutlich gehörten sie noch an die Hand der Mutter. Sie konnten sich noch
nicht vernünftig bewegen, langes Stehn ermüdete sie besonders in der ersten
Zeit ungemein. Ließ man sie unbeobachtet, so knickten sie in ihrer Schwäche
gleich ein, standen schief und gebückt in einem Winkel. Blumfeld suchte
ihnen begreiflich zu machen, daß sie sich für das ganze Leben zu Krüppeln
machen würden, wenn sie immer der Bequemlichkeit so nachgäben. Den
Praktikanten eine kleine Bewegung aufzutragen, war gewagt, einmal hatte
einer etwas nur ein paar Schritte weit bringen sollen, war übereifrig
hingelaufen und hatte sich am Pult das Knie wundgeschlagen. Das Zimmer war
voll Näherinnen gewesen, die Pulte voll Ware, aber Blumfeld hatte alles
vernachlässigen, den weinenden Praktikanten ins Bureau führen und ihm dort
einen kleinen Verband machen müssen. Aber auch dieser Eifer der Praktikanten
war nur äußerlich, wie richtige Kinder wollten sie sich manchmal
auszeichnen, aber noch viel öfters oder vielmehr fast immer wollten sie die
Aufmerksamkeit des Vorgesetzten nur täuschen und ihn betrügen. Zur Zeit der
größten Arbeit war Blumfeld einmal schweißtriefend an ihnen vorübergejagt
und hatte bemerkt, wie sie zwischen Warenballen versteckt Marken tauschten.
Er hätte mit den Fäusten auf ihre Köpfe niederfahren wollen, für ein solches
Verhalten wäre es die einzig mögliche Strafe gewesen, aber es waren Kinder,
Blumfeld konnte doch nicht Kinder totschlagen. Und so quälte er sich mit
ihnen weiter. Ursprünglich hatte er sich vorgestellt, daß die Praktikanten
ihn in den unmittelbaren Handreichungen unterstützen würden, welche zur Zeit
der Warenverteilung so viel Anstrengung und Wachsamkeit erforderten. Er
hatte gedacht, er würde etwa in der Mitte hinter dem Pult stehn, immer die
Übersicht über alles behalten und die Eintragungen besorgen, während die
Praktikanten nach seinem Befehl hin- und herlaufen und alles verteilen
würden. Er hatte sich vorgestellt, daß seine Beaufsichtigung, die, so scharf
sie war, für ein solches Gedränge nicht genügen konnte, durch die
Aufmerksamkeit der Praktikanten ergänzt werden würde und daß diese
Praktikanten allmählich Erfahrungen sammeln, nicht in jeder Einzelheit auf
seine Befehle angewiesen bleiben und endlich selbst lernen würden, die
Näherinnen, was Warenbedarf und Vertrauenswürdigkeit anlangt, voneinander zu
unterscheiden. An diesen Praktikanten gemessen, waren es ganz leere
Hoffnungen gewesen, Blumfeld sah bald ein, daß er sie überhaupt mit den
Näherinnen nicht reden lassen durfte. Zu manchen Näherinnen waren sie
nämlich von allem Anfang gar nicht gegangen, weil sie Abneigung oder Angst
vor ihnen gehabt hatten, andern dagegen, für welche sie Vorliebe hatten,
waren sie oft bis zur Tür entgegengelaufen. Diesen brachten sie, was sie nur
wünschten, drückten es ihnen, auch wenn die Näherinnen zur Empfangnahme
berechtigt waren, mit einer Art Heimlichkeit in die Hände, sammelten in
einem leeren Regal für diese Bevorzugten verschiedene Abschnitzel, wertlose
Reste, aber doch auch noch brauchbare Kleinigkeiten, winkten ihnen damit
hinter dem Rücken Blumfelds glückselig schon von weitem zu und bekamen dafür
Bonbons in den Mund gesteckt. Blumfeld machte diesem Unwesen allerdings bald
ein Ende und trieb sie, wenn die Näherinnen kamen, in den Verschlag. Aber
noch lange hielten sie das für eine große Ungerechtigkeit, trotzten,
zerbrachen mutwillig die Federn und klopften manchmal, ohne daß sie
allerdings den Kopf zu heben wagten, laut an die Glasscheiben, um die
Näherinnen auf die schlechte Behandlung aufmerksam zu machen, die sie ihrer
Meinung nach von Blumfeld zu erleiden hatten.
Das Unrecht, das sie selbst begehn, das können sie nicht begreifen. So
kommen sie zum Beispiel fast immer zu spät ins Bureau. Blumfeld, ihr
Vorgesetzter, der es von frühester Jugend an für selbstverständlich gehalten
hat, daß man wenigstens eine halbe Stunde vor Bureaubeginn erscheint, –
nicht Streberei, nicht übertriebenes Pflichtbewußtsein, nur ein gewisses
Gefühl für Anstand veranlaßt ihn dazu, – Blumfeld muß auf seine Praktikanten
meist länger als eine Stunde warten. Die Frühstücksemmel kauend steht er
gewöhnlich hinter dem Pult im Saal und führt die Rechnungsabschlüsse in den
kleinen Büchern der Näherinnen durch. Bald vertieft er sich in die Arbeit
und denkt an nichts anderes. Da wird er plötzlich so erschreckt, daß ihm
noch ein Weilchen danach die Feder in den Händen zittert. Der eine
Praktikant ist hereingestürmt, es ist, als wolle er umfallen, mit einer Hand
hält er sich irgendwo fest, mit der anderen drückt er die schwer atmende
Brust – aber das Ganze bedeutet nichts weiter, als daß er wegen seines
Zuspätkommens eine Entschuldigung vorbringt, die so lächerlich ist, daß sie
Blumfeld absichtlich überhört, denn täte er es nicht, müßte er den Jungen
verdienterweise prügeln. So aber sieht er ihn nur ein Weilchen an, zeigt
dann mit ausgestreckter Hand auf den Verschlag und wendet sich wieder seiner
Arbeit zu. Nun dürfte man doch erwarten, daß der Praktikant die Güte des
Vorgesetzten einsieht und zu seinem Standort eilt. Nein, er eilt nicht, er
tänzelt, er geht auf den Fußspitzen, jetzt Fuß vor Fuß. Will er seinen
Vorgesetzten verlachen? Auch das nicht. Es ist nur wieder diese Mischung von
Furcht und Selbstzufriedenheit, gegen die man wehrlos ist. Wie wäre es denn
sonst zu erklären, daß Blumfeld heute, wo er doch selbst ungewöhnlich spät
ins Bureau gekommen ist, jetzt nach langem Warten – zum Nachprüfen der
Büchlein hat er keine Lust – durch die Staubwolken, die der unvernünftige
Diener vor ihm mit dem Besen in die Höhe treibt, auf der Gasse die beiden
Praktikanten erblickt, wie sie friedlich daherkommen. Sie halten sich fest
umschlungen und scheinen einander wichtige Dinge zu erzählen, die aber gewiß
mit dem Geschäft höchstens in einem unerlaubten Zusammenhange stehn. Je
näher sie der Glastür kommen, desto mehr verlangsamen sie ihre Schritte.
Endlich erfaßt der eine schon die Klinke, drückt sie aber nicht nieder, noch
immer erzählen sie einander, hören zu und lachen. »Öffne doch unseren
Herren«, schreit Blumfeld mit erhobenen Händen den Diener an. Aber als die
Praktikanten eintreten, will Blumfeld nicht mehr zanken, antwortet auf ihren
Gruß nicht und geht zu seinem Schreibtisch. Er beginnt zu rechnen, blickt
aber manchmal auf, um zu sehn, was die Praktikanten machen. Der eine scheint
sehr müde zu sein und reibt die Augen; als er seinen Überrock an den Nagel
gehängt hat, benützt er die Gelegenheit und bleibt noch ein wenig an der
Wand lehnen, auf der Gasse war er frisch, aber die Nähe der Arbeit macht ihn
müde. Der andere Praktikant dagegen hat Lust zur Arbeit, aber nur zu
mancher. So ist es seit jeher sein Wunsch, auskehren zu dürfen. Nun ist das
aber eine Arbeit, die ihm nicht gebührt, das Auskehren steht nur dem Diener
zu; an und für sich hätte ja Blumfeld nichts dagegen, daß der Praktikant
auskehrt, mag der Praktikant auskehren, schlechter als der Diener kann man
es nicht machen, wenn aber der Praktikant auskehren will, dann soll er eben
früher kommen, ehe der Diener zu kehren beginnt, und soll nicht die Zeit
dazu verwenden, während er ausschließlich zu Bureauarbeiten verpflichtet
ist. Wenn nun aber schon der kleine Junge jeder vernünftigen Überlegung
unzugänglich ist, so könnte doch wenigstens der Diener, dieser halbblinde
Greis, den der Chef gewiß in keiner andern Abteilung als in der Blumfelds
dulden würde und der nur noch von Gottes und des Chefs Gnaden lebt, so
könnte doch wenigstens dieser Diener nachgiebig sein und für einen
Augenblick den Besen dem Jungen überlassen, der doch ungeschickt ist, gleich
die Lust am Kehren verlieren und dem Diener mit dem Besen nachlaufen wird,
um ihn wieder zum Kehren zu bewegen. Nun scheint aber der Diener gerade für
das Kehren sich besonders verantwortlich zu fühlen, man sieht, wie er, kaum
daß sich ihm der Junge nähert, den Besen mit den zitternden Händen besser zu
fassen sucht, lieber steht er still und läßt das Kehren, um nur alle
Aufmerksamkeit auf den Besitz des Besens richten zu können. Der Praktikant
bittet nun nicht durch Worte, denn er fürchtet doch Blumfeld, welcher
scheinbar rechnet, auch wären gewöhnliche Worte nutzlos, denn der Diener ist
nur durch stärkstes Schreien zu erreichen. Der Praktikant zupft also
zunächst den Diener am Ärmel. Der Diener weiß natürlich, um was es sich
handelt, finster sieht er den Praktikanten an, schüttelt den Kopf und zieht
den Besen näher, bis an die Brust. Nun faltet der Praktikant die Hände und
bittet. Er hat allerdings keine Hoffnung, durch Bitten etwas zu erreichen,
das Bitten belustigt ihn nur und deshalb bittet er. Der andere Praktikant
begleitet den Vorgang mit leisem Lachen und glaubt offenbar, wenn auch
unbegreiflicherweise, daß Blumfeld ihn nicht hört. Auf den Diener macht das
Bitten nicht den geringsten Eindruck, er dreht sich um und glaubt jetzt den
Besen in Sicherheit wieder gebrauchen zu können. Aber der Praktikant ist ihm
auf den Fußspitzen hüpfend und die beiden Hände flehentlich
aneinanderreibend gefolgt und bittet nun von dieser Seite. Diese Wendungen
des Dieners und das Nachhüpfen des Praktikanten wiederholen sich mehrmals.
Schließlich fühlt sich der Diener von allen Seiten abgesperrt und merkt, was
er bei einer nur ein wenig geringeren Einfalt gleich am Anfang hätte merken
können, daß er früher ermüden wird als der Praktikant. Infolgedessen sucht
er fremde Hilfe, droht dem Praktikanten mit dem Finger und zeigt auf
Blumfeld, bei dem er, wenn der Praktikant nicht abläßt, Klage führen wird.
Der Praktikant erkennt, daß er sich jetzt, wenn er überhaupt den Besen
bekommen will, sehr beeilen muß, also greift er frech nach dem Besen. Ein
unwillkürlicher Aufschrei des andern Praktikanten deutet die kommende
Entscheidung an. Zwar rettet noch der Diener diesmal den Besen, indem er
einen Schritt zurück macht und ihn nachzieht. Aber nun gibt der Praktikant
nicht mehr nach, mit offenem Mund und blitzenden Augen springt er vor, der
Diener will flüchten, aber seine alten Beine schlottern statt zu laufen, der
Praktikant reißt an dem Besen, und wenn er ihn auch nicht erfaßt, so
erreicht er doch, daß der Besen fällt und damit ist er für den Diener
verloren. Scheinbar allerdings auch für den Praktikanten, denn beim Fallen
des Besens erstarren zunächst alle drei, die Praktikanten und der Diener,
denn jetzt muß Blumfeld alles offenbar werden. Tatsächlich blickt Blumfeld
an seinem Guckfenster auf, als sei er erst jetzt aufmerksam geworden,
strenge und prüfend faßt er jeden ins Auge, auch der Besen auf dem Boden
entgeht ihm nicht. Sei es, daß das Schweigen zu lange andauert, sei es, daß
der schuldige Praktikant die Begierde zu kehren nicht unterdrücken kann,
jedenfalls bückt er sich, allerdings sehr vorsichtig, als greife er nach
einem Tier und nicht nach dem Besen, nimmt den Besen, streicht mit ihm über
den Boden, wirft ihn aber sofort erschrocken weg, als Blumfeld aufspringt
und aus dem Verschlage tritt. »Beide an die Arbeit und nicht mehr gemuckst«,
schreit Blumfeld und zeigt mit ausgestreckter Hand den beiden Praktikanten
den Weg zu ihren Pulten. Sie folgen gleich, aber nicht etwa beschämt mit
gesenkten Köpfen, vielmehr drehn sie sich steif an Blumfeld vorüber und sehn
ihm starr in die Augen, als wollten sie ihn dadurch abhalten, sie zu
schlagen. Und doch könnten sie durch die Erfahrung genügend darüber belehrt
sein, daß Blumfeld grundsätzlich niemals schlägt. Aber sie sind
überängstlich und suchen immer und ohne jedes Zartgefühl ihre wirklichen
oder scheinbaren Rechte zu wahren.
(Quelle:
Project Gutenberg)
Dieses Werk (Blumfeld
ein älterer Junggeselle, von
Franz Kafka), das durch
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.10.2024