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Literarische Charakteristik
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Die
Charakterisierung des Steppenwolfs am Romananfang
Dieses Buch enthält die uns gebliebenen Aufzeichnungen
jenes Mannes, welchen wir mit einem Ausdruck, den er selbst mehrmals
gebrauchte, den "Steppenwolf" nannten. Ob sein Manuskript eines
einführenden Vorwortes bedürfe, sei dahingestellt; mir jedenfalls ist es
ein Bedürfnis, den Blättern des Steppenwolfs einige beizufügen, auf
denen ich versuche, meine Erinnerung an ihn aufzuzeichnen. Es ist nur
wenig, was ich über ihn weiß, und namentlich ist seine ganze
Vergangenheit und Herkunft mir unbekannt geblieben. Doch habe ich von
seiner Persönlichkeit einen starken und, wie ich trotz allem sagen muss,
sympathischen Eindruck.
Der Steppenwolf war ein Mann von annähernd
fünfzig Jahren, der vor einigen Jahren eines Tages im Hause meiner Tante
vorsprach und nach einem möblierten Zimmer suchte. Er mietete die
Mansarde oben im Dachstock und die kleine Schlafkammer daneben, kam nach
einigen Tagen mit zwei Koffern und einer großen Bücherkiste wieder und
hat neun oder zehn Monate bei uns gewohnt. Er lebte sehr still und für
sich, und wenn nicht die nachbarliche Lage unsrer Schlafräume manche
zufällige Begegnung auf Treppe und Korridor herbeigeführt hätte, wären
wir wohl nicht miteinander bekannt geworden, denn gesellig war dieser Mann
nicht, er war in einem hohen, von mir bisher bei niemandem beobachteten
Grade ungesellig, er war wirklich, wie er sich zuweilen nannte, ein
Steppenwolf, ein fremdes, wildes und auch scheues, sogar
sehr scheues
Wesen aus einer anderen Welt, als der meinigen. In wie tiefe Vereinsamung
er sich auch Grund seiner Anlage und seines Schicksals hineingelebt hatte
und wie bewusst er diese Vereinsamung als sein Schicksal erkannte, dies
erfuhr ich allerdings erst aus den von ihm hier zurückgelassenen
Aufzeichnungen; doch habe ich ihn immerhin schon vorher durch manche
kleine Begegnungen und Gespräche einigermaßen kennen gelernt und fand
das Bild, das ich aus seinen Aufzeichnungen von ihm gewann, im Grunde
übereinstimmend mit dem freilich blasseren und lückenhafteren, wie es
sich mir aus unsrer persönlichen Bekanntschaft ergeben hatte. Zufällig
war ich in dem Augenblick zugegen, wo der Steppenwolf zum erstenmal unser
Haus betrat und bei meiner Tante sich einmietete. Er kam in der
Mittagszeit, die Teller standen noch auf dem Tisch, und ich hatte noch
eine halbe Stunde Freizeit, ehe ich in mein Bureau gehen musste. Ich habe
doch den sonderbaren und sehr zwiespältigen Eindruck nicht vergessen, den
er mir beim ersten Begegnen machte. Er kam durch die Glastür, wo er
vorher die Glocke gezogen hatte, herein, und die Tante fragte ihn im
halbdunklen Flur, was er wünsche. Er aber, der Steppenwolf, hatte seinen
scharfen kurzhaarigen Kopf witternd in die Höhe gereckt, schnupperte mit
der nervösen Nase um sich her und sagte, noch ehe er Antwort gab oder
seinen Namen nannte: "Oh, hier riecht es gut." Er lächelte
dazu, und meine gute Tante lächelte auch, ich aber fand diese
Begrüßungsworte eher komisch und hatte etwas gegen ihn. Erst als wir
alle drei die Treppe zum Dachboden hinaufstiegen, konnte ich den Mann
genauer ansehen. Er war nicht sehr groß, hatte aber den Gang und die
Kopfhaltung von großgewachsenen Menschen, er trug einen modernen bequemen
Wintermantel und war im übrigen , anständig, aber unsorgfältig
gekleidet, glatt rasiert und mit ganz kurzem Kopfhaar, das hier und dort
ein wenig grau flimmerte. Sein Gang gefiel mir anfangs gar nicht, er hatte
etwas Mühsames und Unentschlossenes, das nicht zu dem scharfen, heftigen
Profil und auch nicht zum Ton und Temperament seiner Rede passte. Erst
später merkte und erfuhr ich, dass er krank war und dass das Gehen im
Mühe machte. Mit einem eigentümlichen Lächeln, das mir ebenfalls
unangenehm war, betrachtete er die Treppe, die Wände und die Fenster und
die alten hohen Schränke im Treppenhaus, dies alle schien ihm zu gefallen
und schien ihm doch zugleich irgendwie lächerlich. Überhaupt machte der
ganze Mann den Eindruck, als komme er aus einer fremden Welt, etwa aus
überseeischen Ländern, zu uns und finde hier alles zwar hübsch, aber
ein wenig komisch. Er war, wie ich nicht anders sagen kann, höflich, ja
freundlich, er war auch mit dem Haus, dem Zimmer, dem Preis für die Miete
und Frühstück und allem sofort und ohne Einwände einverstanden, und
dennoch war um den ganzen Mann herum eine fremde und, wie mir scheinen
wollte, ungute oder feindliche Atmosphäre. Er mietete das Zimmer, mietete
noch die Schlafkammer dazu, ließ sich über Heizung, Wasser, Bedienung
und Hausordnung unterrichten, hörte alles aufmerksam und freundlich an,
war mit allem einverstanden, bot auch sogleich eine Vorauszahlung auf die
Miete an, und doch schien er bei alledem nicht recht dabei zu sein, schien
sich selber in seinem Tun komisch zu finden und nicht ernst zu nehmen, so,
als sei es ihm seltsam und neu, ein Zimmer zu mieten und mit Leuten
Deutsch zu sprechen, während er eigentlich und im Innern mit ganz anderen
Sachen beschäftigt wäre. So etwa war mein Eindruck, und er wäre kein
guter gewesen, wenn er nicht durch allerlei kleine Züge durchkreuzt und
korrigiert worden wäre. Vor allem war es das Gesicht des Mannes, das mir
von Anfang an gefiel; trotz jenem Ausdruck von Fremdheit gefiel es mir, es
war ein vielleicht etwas eigenartiges und auch trauriges Gesicht, aber ein
waches, sehr gedankenvolles, durchgearbeitetes und vergeistigtes. Und dann
kam, um mich versöhnlicher zu stimmen, dazu, dass seine Art von
Höflichkeit und Freundlichkeit, obwohl sie ihm etwas Mühe zu machen
schien, doch ganz ohne Hochmut war ? im Gegenteil, es war darin etwas
beinah Rührendes, etwas wie Flehendes, wofür ich erst später die
Erklärung fand, das mich aber sofort ein wenig für ihn einnahm.
(aus: Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Erzählung,
Frankfurt/M.:
Suhrkamp-Verlag
1974, S.7-10)
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Charakterisierung des Steppenwolfs am Romananfang
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.02.2024