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Johann Wolfgang
von Goethe hat seine »Venezianischen
Epigramme 1790 im Zusammenhang mit seiner Reise in die
Lagunenstadt (13.3.-18.6.1790) verfasst, von wo aus er »Herzogin
Amalia (1739-1807) von »Sachsen-Weimar
und Eisenach auf ihrem Rückweg nach Weimar begleitet hat. Mit
Bonmots und zum
Teil beißendem Spott kommt er darin auf verschiedene europäische
Zustände zu sprechen, schreibt über die Verhältnisse in Venedig, aber
auch über "einen davon abgehobenen übertragenen Raum" (Häntzschel
2003, S.8).
Die Venezianischen
Epigramme stehen dabei im Kontrast zu dem, was Goethe in seinen »Römischen
Elegien, "dem Produkt der frohen und beglückenden ersten
Italienreise" (ebd.,
S.3) (3.9.1786-18.6.1788) formuliert hat. Es wirkt, als ob er zwei Jahre
danach ein ganz anderes Venedig erlebt.
Während sich "das
lyrische Ich [in den Römischen Elegien, d. Verf.] in das
italienische Volksleben ein(lebt)", bleibt es in den
Venezianischen Epigrammen "ein distanzierter Beobachter, ein
Flaneur, der einsam durch die städtische Menge streift und auf dessen
Weg Augenblicke des Angerührt- und des Angewidertseins, der Aggression
und der Lüsternheit unvermittelt aufeinander folgen." In den
Römischen Elegien "ist Italien das Land der »Wiedergeburt«"
und in den Venezianischen Epigrammen "hat es dem Dichter
im Grunde nichts zu bieten" (Willems
1997, S.146, zit. n.
ebd.,
S.4) Dennoch scheint diese Sicht zumindest verkürzt.
In den
Venezianischen Epigrammen wendet sich Goethe unter anderem
auch "äußerst gewagten erotisch-sexuellen Themen" zu und siedelt sie
"ganz bewusst im unteren sozialen Milieu des »Volks«" an. (ebd.,
S.5)
Die einzelnen Teile der
Venezianischen Epigramme drehen sich um den konkreten,
lokalen Ort Venedig aber auch um einen "davon abgehobenen übertragenen
Raum, ethisch zwischen »frech« und »fromm«, ästhetisch zwischen dem
Schönen und dem Hässlichen." (ebd.,
S.8)
In einer klaren
sexuellen Direktheit bringt er dabei die Begegnung mit einer jungen
Prostituierten in folgendem Epigramm zu Papier, das er aber später nicht
in die gedruckten Sammlungen übernommen hat, weil es ihm wohl doch etwas
zu "heiß" war:
"In
dem engsten der Gäßchen es drängte sich kaum durch die Mauern
Saß mir ein Mädchen im Weg als ich Venedig durchlief.
Sie war reizend, der Ort, ich ließ mich Fremder verführen
Ach ein weiter Canal tat sich dem Forschenden auf!
Hättest du Mädchen wie deine Canäle Venedig und Fotzen
Wie die Gäßchen in dir wärst du die herrlichste Stadt." (zit. n. (ebd.,
S.8)
Auch wenn diese
freizügigen Formulierungen Goethes späterer Selbstzensur um Opfer
gefallen und die in diesen Zeilen "nackte Sexualität zur lockenden,
verführerischen Erotik geläutert sind" (ebd.,
S.9), beschäftigt er sich weiter mit dem Thema dieser "zierlichen
Mädchen" und stützt sich dabei auf die ▪
symbolische
Bedeutung der "eilig hin- und herhuschenden lasziven »Eidechsen« oder »Lacerten«"
(ebd.,
S.8), die mal hier, mal da auftauchen, mit ihren Reizen kokettieren und
die Männer zum Zweck der Prostitution in die Spelunken locken.
Johann Wolfgang von Goethe
Epigramme.
Venedig 1790.
[...]
67.
Lange hätt’ ich euch gern von jenen
Thierchen gesprochen,
Die so zierlich und schnell fahren dahin und daher.
Schlängelchen scheinen sie gleich, doch viergefüßet, sie laufen,
Kriechen und schleichen, und leicht schleppen das
Schwänzchen sie nach.
Seht hier sind sie! und hier! sie sind verschwunden! wo sind sie?
Welche Ritze, welch Kraut nahm die Entfliehenden auf?
Wollt ihr mir’s künftig erlauben; so nenn ich die Thierchen Lacerten,
Denn ich brauche sie noch oft als gefälliges Bild.
68.
Wer Lacerten gesehn hat, der kann sich
die zierlichen Mädchen
Denken, die über den Platz fahren dahin und daher.
Schnell und beweglich sind sie, und gleiten, stehen und schwätzen,
Und es rauscht das Gewand hinter der Eilenden drein.
Sieh! hier ist sie! und hier! verlierst du sie einmal, so suchst du
Sie vergebens, so bald kommt sie nicht wieder hervor.
Wenn du aber die Winkel, die Gäßchen und Treppchen nicht scheuest,
Folg’ ihr, wie sie dich lockt, in die Spelunke hinein.
69.
Was Spelunke nun sei? verlangt ihr zu
wissen, da wird ja
Fast zum Lexicon dies epigrammatische Buch;
Dunkle Häuser sind es in engen Gäßchen, zum Kaffee
Führt dich die Schöne, und sie zeigt sich geschäftig,
nicht du.
70.
Zwei der feinsten Lacerten, sie hielten
sich immer zusammen,
Eine beinahe zu groß, eine beinahe zu klein.
Siehst du beide zusammen, so wird die Wahl dir unmöglich,
Jede besonders, sie schien einzig die schönste zu seyn.
[...]
in: Friedrich
Schiller (Hg., ) Musen-Almanach für das Jahr 1796, S. 241-244,
online verfügbar:
https://de.wikisource.org/wiki/Venezianische_Epigramme