»Illustrationen
von Hans Meid (1883-1957)
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Der Roman die ▪"Die
Wahlverwandtschaften" (1809) von ▪
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) beschreibt den "Modelfall
einer zerbrechenden Ehe" (Eilert
91974, S.211). Man hat den Roman früher auch gerne als "Roman
des moralischen Ehebruchs" (Hirsch
1883 , S.120) bezeichnet, weil er "die heiligste
Institution der modernen Gesellschaft, die Ehe, als eine in vielfacher
Hinsicht zweckwidrige Einrichtung blosszulegen" (ebd.)
suche.
Es ist die Geschichte
des Barons Eduard und seiner mit ihm ihn zweiter Ehe verheirateten
Jugendliebe Charlotte, die auf dem Landgut des Barons in abgeschiedener
Zweisamkeit ganz füreinander zu leben beabsichtigen. Durch das
Hinzukommen von zwei weiteren Personen, dem Hauptmann Otto, einem Freund
des Barons, und Ottilie, der Nichte und Pflegetochter Charlottes, die
als häusliche Gehilfin eingestellt wird, "kann das Kräftespiel der
Wahlverwandtschaften beginnen." (Eilert
91974, S.212)
Während der Hauptmann
und Charlotte ihrer wachsenden Neigung entschlossen entgegenzutreten
suchen, gibt sich Eduard seiner unbedingten und maßlosen Liebe zu
Ottilie völlig hin." (ebd.,
S.212) Goethe, der sich auch intensiv mit Naturwissenschaften befasste,
bezog sich mit dem Titel seines Romans und der "»chemischen
Gleichnisrede«, die er der Figurenkonstellation zugrunde legte" (ebd.,
S.211) auf den in seiner Zeit in der Chemie üblichen Begriff der
Wahlverwandtschaft. Damit bezeichnete man die Eigenschaft bestimmter
chemischer Elemente, sich bei der Annäherung anderer Stoffe ganz
plötzlich von aus ihren bis dahin bestehenden Verbindungen zu lösen, und
mit den "Neuankömmlingen" eine quasi "wahlverwandtschaftliche" Beziehung
einzugehen. Indem Goethe "dieses an chemischen Elementen beobachtete
Kräftespiel von Anziehung und Abstoßung auf menschliche Verhältnisse" (ebd.)
und auf die Wahlverwandtschaften seiner Protagonisten überträgt, geht es
ihm darum, "das Problem von Freiheit und Notwendigkeit im
sittlichen Bereich darzustellen." (ebd.)
Nach einem Besuch des
Grafen und der Baronesse, eines seit Jahren in illegitimer Beziehung
zusammenlebenden Paares, kommt eine neue Dynamik in die bis zu diesem
Zeitpunkt noch nicht offen gelebten Liebesbeziehungen der beiden neuen
"wahlverwandtschaftlichen" Paare. Nach der Abreise der Gäste, die sich
immer wieder sehr freimütig über Zwänge der Ehe äußerten, kommt es zu
einem in der Fantasie vollzogenen Ehebruch von Eduard und Charlotte, die
beide, während sie noch einmal miteinander Sex haben, an ihre
"wahlverwandtschaftlichen" Geliebten denken.
Johann Wolfgang von
Goethe:
Die
Wahlverwandtschaften
Erster Teil
Zwölftes Kapitel
Als die Gesellschaft zum Frühstück wieder zusammenkam, hätte ein
aufmerksamer Beobachter an dem Betragen der einzelnen die
Verschiedenheit der innern Gesinnungen und Empfindungen abnehmen
können. Der Graf und die Baronesse begegneten sich mit dem heitern
Behagen, das ein Paar Liebende empfinden, die sich nach erduldeter
Trennung ihrer wechselseitigen Neigung abermals versichert halten,
dagegen Charlotte und Eduard gleichsam beschämt und reuig dem
Hauptmann und Ottilien entgegentraten. Denn so ist die Liebe
beschaffen, dass sie allein recht zu haben glaubt und alle anderen
Rechte vor ihr verschwinden. Ottilie war kindlich heiter, nach ihrer
Weise konnte man sie offen nennen. Ernst erschien der Hauptmann; ihm
war bei der Unterredung mit dem Grafen, indem dieser alles in ihm
aufregte, was einige Zeit geruht und geschlafen hatte, nur zu
fühlbar geworden, dass er eigentlich hier seine Bestimmung nicht
erfülle und im Grunde bloß in einem halbtätigen Müßiggang
hinschlendere. Kaum hatten sich die beiden Gäste entfernt, als schon
wieder neuer Besuch eintraf, Charlotten willkommen, die aus sich
selbst herauszugehen, sich zu zerstreuen wünschte; Eduarden
ungelegen, der eine doppelte Neigung fühlte, sich mit Ottilien zu
beschäftigen; Ottilien gleichfalls unerwünscht, die mit ihrer auf
morgen früh so nötigen Abschrift noch nicht fertig war. Und so eilte
sie auch, als die Fremden sich spät entfernten, sogleich auf ihr
Zimmer.
Es war Abend geworden. Eduard, Charlotte und der Hauptmann, welche
die Fremden, ehe sie sich in den Wagen setzten, eine Strecke zu Fuß
begleitet hatten, wurden einig, noch einen Spaziergang nach den
Teichen zu machen. Ein Kahn war angekommen, den Eduard mit
ansehnlichen Kosten aus der Ferne verschrieben hatte. Man wollte
versuchen, ob er sich leicht bewegen und lenken lasse.
Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten
Eichbäumen angebunden, auf die man schon bei künftigen Anlagen
gerechnet hatte. Hier sollte ein Landungsplatz angebracht, unter den
Bäumen ein architektonischer Ruhesitz aufgeführt werden, wonach
diejenigen, die über den See fahren, zu steuern hätten.
»Wo wird man denn nun drüben die Landung am besten anlegen?« fragte
Eduard. »Ich sollte denken, bei meinen Platanen.«
»Sie stehen ein wenig zu weit rechts,« sagte der Hauptmann. »Landet
man weiter unten, so ist man dem Schlosse näher; doch muss man es
überlegen.«
Der Hauptmann stand schon im Hinterteile des Kahns und hatte ein
Ruder ergriffen. Charlotte stieg ein, Eduard gleichfalls und fasste
das andre Ruder; aber als er eben im Abstoßen begriffen war,
gedachte er Ottiliens, gedachte, dass ihn diese Wasserfahrt
verspäten, wer weiß erst wann zurückführen würde. Er entschloss sich
kurz und gut, sprang wieder ans Land, reichte dem Hauptmann das
andre Ruder und eilte, sich flüchtig entschuldigend, nach Hause.
Dort vernahm er, Ottilie habe sich eingeschlossen, sie schreibe. Bei
dem angenehmen Gefühle, dass sie für ihn etwas tue, empfand er das
lebhafteste Missbehagen, sie nicht gegenwärtig zu sehen. Seine
Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke. Er ging in dem großen
Saale auf und ab, versuchte allerlei, und nichts vermochte seine
Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie wünschte er zu sehen, allein zu
sehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zurückkäme. Es ward
Nacht, die Kerzen wurden angezündet.
Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit. Das Gefühl,
etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über
sich selbst gehoben. Sie legte das Original und die Abschrift vor
Eduard auf den Tisch. »Wollen wir kollationieren?« sagte sie
lächelnd. Eduard wusste nicht, was er erwidern sollte. Er sah sie
an, er besah die Abschrift. Die ersten Blätter waren mit der größten
Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben, dann
schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden;
aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen
überlief! »Um Gottes willen!« rief er aus, »was ist das? Das ist
meine Hand!« Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter,
besonders der Schluss war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben
hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten
Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: »Du liebst
mich!« rief er aus, »Ottilie, du liebst mich!« und sie hielten
einander umfasst. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu
unterscheiden gewesen.
Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er
nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen.
Sie standen voreinander, er hielt ihre Hände, sie sahen einander in
die Augen, im Begriff, sich wieder zu umarmen.
Charlotte mit dem Hauptmann trat herein. Zu den Entschuldigungen
eines längeren Außenbleibens lächelte Eduard heimlich. ›O wie viel
zu früh kommt ihr!‹ sagte er zu sich selbst.
Sie setzten sich zum Abendessen. Die Personen des heutigen Besuchs
wurden beurteilt. Eduard, liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem
jeden, immer schonend, oft billigend. Charlotte, die nicht durchaus
seiner Meinung war, bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm,
dass er, der sonst über die scheidende Gesellschaft immer das
strengste Zungengericht er gehen lasse, heute so mild und
nachsichtig sei.
Mit Feuer und herzlicher Überzeugung rief Eduard: »Man muss nur Ein
Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die übrigen alle
liebenswürdig vor!« Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte
sah vor sich hin.
Der Hauptmann nahm das Wort und sagte: »Mit den Gefühlen der
Hochachtung, der Verehrung ist es doch auch etwas Ähnliches. Man
erkennt nur erst das Schätzenswerte in der Welt, wenn man solche
Gesinnungen an Einem Gegenstande zu üben Gelegenheit findet.«
Charlotte suchte bald in ihr Schlafzimmer zu gelangen, um sich
der Erinnerung dessen zu überlassen, was diesen Abend zwischen ihr
und dem Hauptmann vorgegangen war.
Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und
Freund dem schwankenden Element selbst überantwortete, sah nunmehr
Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten
hatte, in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier
Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen. Sie empfand
eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das
Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde
Windhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das
Blinken und Widerblinken der ersten Sterne: alles hatte etwas
Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille. Es schien ihr, der
Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen.
Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht
weinen.
Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die
Anlagen werden sollten. Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns,
dass er sich leicht mit zwei Rudern von einer Person bewegen und
regieren lasse. Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme
Empfindung, manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein
eigner Fähr- und Steuermann zu sein.
Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs
Herz. ›Sagt er das mit Vorsatz?‹ dachte sie bei sich selbst. ›Weiß
er schon davon? vermutet ers? Oder sagt er es zufällig, so dass er
mir bewusstlos mein Schicksal vorausverkündigt?‹ Es ergriff sie eine
große Wehmut, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmöglichst zu landen
und mit ihr nach dem Schlosse zurückzukehren.
Es war das erste Mal, dass der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob
er gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte, so waren ihm
doch die einzelnen Stellen unbekannt. Dunkel fing es an zu werden;
er richtete seinen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort zum
Aussteigen vermutete und den Fußpfad nicht entfernt wusste, der nach
dem Schlosse führte. Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen
abgelenkt, als Charlotte mit einer Art von Ängstlichkeit den Wunsch
wiederholte, bald am Lande zu sein. Er näherte sich mit erneuten
Anstrengungen dem Ufer, aber leider fühlte er sich in einiger
Entfernung davon angehalten; er hatte sich festgefahren, und seine
Bemühungen, wieder loszukommen, waren vergebens. Was war zu tun? Ihm
blieb nichts übrig, als in das Wasser zu steigen, das seicht genug
war, und die Freundin an das Land zu tragen. Glücklich brachte er
die liebe Bürde hinüber, stark genug, um nicht zu schwanken oder ihr
einige Sorgen zu geben; aber doch hatte sie ängstlich ihre Arme um
seinen Hals geschlungen.
Er hielt sie fest und drückte sie an sich. Erst auf einem
Rasenabhang ließ er sie nieder, nicht ohne Bewegung und Verwirrung.
Sie lag noch an seinem Halse; er schloss sie aufs neue in seine Arme
und drückte einen lebhaften Kuss auf ihre Lippen; aber auch im
Augenblick lag er zu ihren Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand
und rief: »Charlotte, werden Sie mir vergeben?«
Der Kuss, den der Freund gewagt, den sie ihm beinahe zurückgegeben,
brachte Charlotten wieder zu sich selbst. Sie drückte seine Hand,
aber sie hob ihn nicht auf. Doch indem sie sich zu ihm
hinunterneigte und eine Hand auf seine Schultern legte, rief sie
aus: »Dass dieser Augenblick in unserm Leben Epoche mache, können
wir nicht verhindern; aber dass sie unser wert sei, hängt von uns
ab. Sie müssen scheiden, lieber Freund, und Sie werden scheiden. Der
Graf macht Anstalt, Ihr Schicksal zu verbessern; es freut und
schmerzt mich. Ich wollte es verschweigen, bis es gewiss wäre; der
Augenblick nötigt mich, dies Geheimnis zu entdecken. Nur insofern
kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen, wenn wir den Mut haben,
unsre Lage zu ändern, da es von uns nicht abhängt, unsre Gesinnung
zu ändern.« Sie hub ihn auf und ergriff seinen Arm, um sich darauf
zu stützen, und so kamen sie stillschweigend nach dem Schlosse.
Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin
Eduards empfinden und betrachten musste. Ihr kam bei diesen
Widersprüchen ihr tüchtiger und durchs Leben mannigfaltig geübter
Charakter zu Hülfe. Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewusst zu
sein, sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer,
durch ernste Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu
nähern; ja sie musste über sich selbst lächeln, indem sie des
wunderlichen Nachtbesuches gedachte. Doch schnell ergriff sie eine
seltsame Ahnung, ein freudig bängliches Erzittern, das in fromme
Wünsche und Hoffnungen sich auflöste. Gerührt kniete sie nieder, sie
wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan.
Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern
vorüber. Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt. Bald ergreift
sie eine süße Müdigkeit und
ruhig schläft sie ein.
Quelle: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 6,
Hamburg 1948 ff, S. 322-327.
http://www.zeno.org/nid/20004853539 - gemeinfrei
»Illustrationen
von Hans Meid (1883-1957)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024,
an die moderne Rechtschreibung behutsam angepasst
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