Die Komposition (Struktur) von
•
Goethes
• Drama
• »Egmont«
ist verschiedentlich mit dem Strukturmodell von
Freytag
(1863) dargestellt worden. Danach zeichnet sich ein gelungenes
Drama durch seine pyramidale Struktur aus.
Anwendung findet das
Modell heutzutage aber nur zur Darstellung bestimmter Strukturprinzipien
von • Dramen der
geschlossenen Form. Allerdings lässt sich Goethes »Egmont« diesem
Formtyp nicht eindeutig zuordnen,
was die Aussagekraft der Pyramidaldarstellung des Dramas deutlich mindert.

Insbesondere die Tatsache, dass die beiden vordergründig
doch wenig "dramatisch" wirkenden
•Zwischenakte
des
•
3. Aufzugs den Höhepunkt (Peripetie)
des Dramas darstellen, ist auf den ersten Blick wenig einleuchtend.
Berücksichtigt man allerdings die nachfolgende Handlung wird der
"harte" Szenenkontrast zwischen der
Ablösung der
•
Regentin durch den
• Herzog
von Alba und damit das Heraufziehen höchster Gefahr einerseits
(•
Palast
der Regentin) und
dem von Lebens- und Liebeslust durchzogenen Besuch
• Egmonts
bei • Klärchen
anderserseits (•
Klärchens Wohnung)
als Höhepunkt der dramatischen Handlung erkennbar.
Dass, im Übrigen, der dritte Akt auch von Goethe selbst als Höhepunkt
verstanden worden ist, lässt sich auch mit einem von Goethe autorisierten
Urteil des Schriftstellers
»»Karl
Philipp Moritz (1756-1793) über das Ende des 3. Aufzugs
belegen: "Hier sei der höchste Punkt des Stücks. Er und Klärchen. Politik ist
ihm nichts gegen dieses Verhältnis; an dieser Szene hängt nun sein
Tod und Klärchens freiwilliger Tod." (zit. n.:
Jürgen Schröder, Politische Erlösung
der Geschichte - Goethes Egmont 1981/1994, S.54)
Goethe hält sich im
•»Egmont« nicht an die herkömmliche,
•
klassische Lehre von den drei
Einheiten, sondern bevorzugt eine Akt- und
Szenengestaltung, die an den Auffassungen und Techniken von »William
Shakespeares (1564-1616)
orientiert ist. In den Akten findet
immer wieder ein Schauplatzwechsel statt (z. B. im 1. Akt:
•
Platz in Brüssel
(Hinweis
darauf findet sich im Personenverzeichnis),
•
Palast der Regentin,
•
Bürgerhaus).
Diese Schauplatzwechsel werden mit Szenentiteln im
Nebentext signalisiert.
Unterhalb dieser Großszenen wird von Goethe selbst im Text keine
Gliederungseinheit nach dem Muster herkömmlicher Auftritte im Nebentext
mit Szenentitel signalisiert. Aus den Auf- und Abtritten der Figuren lässt
sich die herkömmliche Szeneneinteilung aber durchaus gewinnen, wenn man
die entsprechenden Bemerkungen im Nebentext zugrunde legt. Dies ist für
die Analyse des
•
Handlungsverlaufs aber durchaus sinnvoll, da sie die
jeweilige Konfiguration
und die ihre zugrunde liegenden
Konfigurationswechsel
verdeutlicht.
Die "Ortsfülle" des Dramas hat die
Aufgabe, "den Helden mit möglichst vielen Aspekten seines
Gegenspielers Welt zu konfrontieren" (Klotz
1969, S. 120) und die die Autonomie der "Zwischenakte", die
"weitgehend isoliert voneinander als herausgerissene Stücke des Großen
Ganzen" dastehen (Klotz
1969, S.150), sind Kennzeichen des
•
Dramas der offenen Form.
Die literaturwissenschaftliche Beurteilung der Komposition
des Dramas hängt nach
Jürgen Schröder (1981/1994,
S. 56) vor allem davon ab, wie die Figur
•
Egmont
gesehen wird. So sind die Einwände und Zweifel gegen die innere Einheit
und Konsistenz des Dramas seiner Ansicht nach vor allem darauf
zurückzuführen, dass Egmont mehr als Einzelperson und nicht als
symbolischer Repräsentant "der in sich geschlossenen,
bürgerlich-niederländischen Geschichtswelt" aufgefasst werde.
Diese Betrachtung hat auch Auswirkungen auf die Beurteilung der
Handlung des Dramas.
Zumindest in den ersten drei Aufzügen des Dramas finde nämlich keine
wirkliche Handlung statt und, auf das gesamte Drama bezogen, geschieht am
Ende nur, was schon am Anfang des Dramas sichtbar ist. So gesehen ist
•
Goethes
•
Drama
• »Egmont«
für
Jürgen Schröder (1981/1994
S. 57f.)
"im strengen Sine ein historisches Drama ohne Handlung", was vor allem
darauf zurückzuführen ist, dass die "naturgeschichtliche Welt der
Niederlande so gar nicht auf dramatisches Handeln angelegt" sei:
"Die ersten drei Aufzüge entrollen einen Geschichtsraum und einen
Geschichtszustand, in den zunehmend die Schatten der fremden Bedrohung
hineinfallen. (Selbst die Regentin und Machiavell empfinden sie als
fremd!) Der IV. und V. Aufzug zeigen einerseits die tiefe Lähmung und
Betäubung, in die die Niederländer durch Albas Einmarsch und Gewaltregime
verfallen sind, auf der anderen Seite ein intensives inneres Drama, in dem
Egmont (aber auch Klärchen) mehr und mehr zum Bewusstsein seiner
Wesenseinheit mit Volk und Freiheit der Niederlande (V. Aufzug) und damit
zum vollen historischen Bewusstsein seiner selbst, seiner exemplarischen
Identität gelangt. In diesem inneren, zunehmend musikalisch-poetischen
Prozess wird gleichzeitig die zukünftige historische Stufe der
Niederlande, ihr Freiheitskampf gegen Spanien, symbolisch und
allegorisch antizipiert. Im
Schicksal Egmonts veranschaulicht sich das Erwachen und der Übergang einer
undramatischen bürgerlichen Gesichtswelt in die fällige Auseinandersetzung
mit dem herrschenden Absolutismus - wenn man so will: eine noch
unerprobte, philosophisch-poetisch angeeignete bürgerliche Geschichtswelt
ist im Begriffe, ihre historische Unschuld zu verlieren - wenn anders sie
Goethe durch die poetische Antizipation des Sieges in seinem Drama nicht
zugleich erhalten hätte. [...] Bei Goethe, im Jahre 1787, geht die
Wahrheit der Geschichte noch in der Wahrheit der Kunst auf."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.01.2024