Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832) begann im Alter von 26 Jahren
die Arbeit an seinem Drama »Egmont«,
die sich über den Zeitraum von 1775 bis 1787 erstreckte. In diesen mehr als
zwölf Jahren unternahm er insgesamt vier Anläufe (1775, 1778/79, 1782,
1787), um "dieses lang vertrödelte Stück", wie er einmal sagt, zu
vollenden. Daher kann man im Drama auch die Einflüsse verschiedener
Literaturepochen finden.
Sie haben Spuren hinterlassen mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen vom Inhalt und Wesen
und von den Gegenständen und der Aufgabe der Kunst. Das war auch
der Grund, weshalb Literaturhistoriker das Drama lange Zeit wegen seiner auffälligen Uneinheitlichkeit kritisiert
haben. So bemängelte man die
Vermischung der divergierenden Stilelemente aus den Literaturepochen des
Sturm und Drang (1760-1785)
und der
Weimarer Klassik (1786-1805)
ihren Ausdruck gefunden haben.
»»William
Shakespeares (1564-1616) Einfluss ist z. B. an den im »Egmont« vorkommenden
Volksszenen zu erkennen, aber auch darin, dass Goethedie klassischen
Regeln der
drei Einheiten bewusst
außer Acht ließ und die Handlung des Egmont mit zahlreichen Ortswechseln
und Zeitsprüngen gestaltete.
Der Vorwurf der Uneinheitlichkeit des Stückes kann dabei
auch auf Goethes eigene Vorstellungen verweisen, die sich im Zuge der sich
hinziehenden Arbeit am »Egmont« auch veränderten. So hat Goethe wohl
ursprünglich vorgehabt, mit seinem Egmont ein Drama zu schaffen, das
zwischen den beiden Polen Schauspiel und Oper zu verorten sein sollte.
Daher plante er über die Liedstrophen
Klärchens im
1.
und im 3. Akt hinaus, Musik zur Einleitung und für die Zwischenakte
und spielt sogar mit dem Gedanken, den Text nur im Zusammenhang mit einer
Musikpartitur zu veröffentlichen. Am Opernhaften des Dramas, insbesondere
an den Liedstrophen Klärchens und der opernhafte Schlussapotheose mit der
Traumerscheinung Klärchens schieden sich allerdings gestern wie heute
die Geister.
Schon
Friedrich Schiller (1759-1805),
der das Stück auf Wunsch Goethes 1796 bearbeitete und mit dessen Duldung
diese opernhaften Züge aus seiner Inszenierung eliminierte, konnte damit
nichts anfangen, und viele Regisseure nach ihm taten ein Gleiches.
Schillers 1788 anonym veröffentlichte Rezension des Dramas
glich, wie man heute sagt, einem Verriss, und seinen Grundzüge bei der
Bearbeitung des Dramas folgte man auf den deutschen Theater bis ins 19.
Jahrhundert hinein. »»Ludwig
van Beethoven (1770-1824) war es schließlich zu danken, dass
man mit seiner Musik zum Stück (Egmont op. 84) seit 1810 allmählich zur
Originalfassung des Stückes zurückkehrte.
Briefstellen aus dem Jahr 1774
legen zum ersten Mal Zeugnis davon ab, dass Goethe sich mit dem dem Drama
bzw. seinem
Stoff beschäftigte. Vor seiner Abreise von Frankfurt in die
kleine Residenzstadt Weimar Anfang November 1775, in die ihn der nahezu
gleichaltrige Herzog
»»Karl August von Sachsen-Weimar
(1757-1828) eingeladen hatte, scheint er aber kaum
daran weitergearbeitet zu haben. Erst in Briefen an die verheiratete
Charlotte von Stein (1742-1827), die Goethe mehr als nur verehrte und die
ihm freundschaftlich zugetan war, kann man lesen, dass ihn der
Egmont-Stoff auch weiterhin nicht losließ. Vom Dezember 1776 datiert ein Eintrag im Tagebuch
Goethes, das er vom März des gleichen Jahres an führt, dass er am »Egmont«
schreibt. Und doch: Die politisch-gesellschaftlichen Umstände, in den
Goethe nun in Weimar lebt, sind der Fertigstellung verschiedener
literarischer Projekte, die Goethe in Frankfurt begonnen hatte nicht
gerade förderlich. Drei Jahre nach seiner Ankunft in Weimar stand
neuerlich ein großer europäischer Krieg vor der der Tür, der
»»Bayerische Erbfolgekrieg (1778-1779),
in dem das Haus
Habsburg-Lothringen unter
dem für seine alternde Mutter
»»Maria Theresia (1717-1780, Kg. ab
1740) mitregierenden
»»Joseph II. (1765-1790, ab 1765
Mitregent) seine Ansprüche auf Niederbayern und die Oberpfalz
gegen den preußischen König
»»Friedrich II., (= Friedrich der
Große, 1712-1786, König seit 1740) durchsetzen will. Goethe hat
wenig Verständnis für das politische Ränkespiel seines Herzogs, der sich
mit einem Bund kleinerer Fürsten erfolglos neben dem
österreichisch-preußischen Machtspiel mit allerlei Intrigen eigenständig
positionieren wollte. Goethe ist andererseits bis dahin ganz in seiner
Tätigkeit im weimarischen Staatsdienst aufgegangen, er ist viel übers Land
unterwegs und nimmt seine Arbeit als
Mitglied der obersten Regierungsbehörde sehr ernst, aber in
seinem
Gartenhaus an der Ilm, im
herzoglichen Park, in dem er seit seiner Ankunft in Weimar
1775
wohnt, "quält sich Goethe, wenigstens seit 1780 mit
Selbstzweifeln. War es falsch gewesen hierher zu kommen? [...] Ein Stürmer
und Dränger hatte sich in herzogliche Dienste begeben. Ein Freund des
Volkes und der kleinen Leute. Jetzt zerreißt ihn die Erkenntnis, dass
nahezu alle Reformprojekte an den Machttatsachen dieser kleinen
Feudalregierung gescheitert sind. Der herzogliche Freund Carl August blieb
ein Selbstherrscher." (Mayer
1977, S.44) So nimmt es kein Wunder, dass auch das literarische
Schaffen Goethes in dieser Zeit stockt. "Sowohl die in Frankfurt weit
gediehenen Projekt Egmont und Faust, wie auch die neuen
Weimarer Entwürfe: zu einem großen Roman mit dem Titel Wilhelm Meisters
theatralische Sendung, wie auch zu einem Schauspiel ganz
eigentümlicher Art, Iphigenie auf Tauris. Die Arbeit am Faust
wird abgebrochen." (ebd.)
Und ganz besonders ist der »Egmont« von Goethes Neueinschätzung der Lage.
"Mit dem Egmont geht es nicht weiter. Schuld daran tragen
unmittelbar die neuen Erkenntnisse im Herzogtum. Als siegreichen
Freiheitsheld, der zwar zugrunde geht, aber durch die Nachwelt bestätigt
wird, hatte man den rebellischen Grafen Egmont entworfen. Jetzt muss in
Weimar der vierte Akt geschrieben werden als Auseinandersetzung zwischen
Egmont, mit sich Goethe identifiziert, und der Staatsvernunft des Herzogs
Alba, des Henkers. Goethe kommt nicht weiter. Immer deutlicher spürt er,
dass Albas Argumente stichhaltig sind beim Kontrast mit Egmonts
hochherzigem Pathos." (ebd.)
1781 teilt Goethe der von ihm seit 1775 nahezu ein Jahrzehnt geliebten
Hofdame
»»Charlotte von
Stein (1742-1827), die
mit Stallmeister Friedrich von Stein verheiratet ist, brieflich mit: "Ich bekümmere mich um
nichts und schreibe Dramas. Mein 'Egmont' ist bald fertig, und wenn der
fatale vierte Akt nicht wäre, den ich hasse und notwendig umschreiben
muss, würde ich mit diesem Jahr auch dieses
lang vertrödelte Stück
beschließen." (12.12.1781) Doch obwohl er zu diesem Zeitpunkt wohl guter
Dinge war, das Drama zu einem Abschluss zu bringen, zog sich das Ganze
noch weitere sechs Jahre hin.
Im Frühjahr 1782 äußert er sich in einem
weiteren Brief an Frau von Stein zwar weiterhin optimistisch, aber lässt
doch durchschimmern, dass er der Sache noch nicht Herr werden konnte: "Nun
will ich mich hinsetzen und einen alten Geschichtsschreiber durchlesen,
damit 'Egmont' endlich lebendig werde, oder auch, wenn Du willst, dass er
zu Grabe komme ... Zum 'Egmont' habe ich die Hoffnung, doch wird's
langsamer gehn, als ich dachte. Es ist ein wunderbares Stück. Wenn ich's
noch zu schreiben hätte, schrieb' ich es anders, und vielleicht gar nicht.
Da es nun aber da steht, so mag es stehen, ich will nur das
Allzuaufgeknöpfte, Studentenhafte der Manier zu tilgen suchen, das der
Würde des Gegenstands widerspricht." (20.3.1782) Goethes Stellung am
weimarischen Hof in dieser Zeit ist von
»»Johann Gottfried Herder (1744-1803),
den Goethe seit seiner Studienzeit in
Straßburg (1770-71) kennt, kritisch beschrieben worden: "Er ist
jetzt Wirklicher Geheimer Rat, Kammerpräsident, Präsident des
Kriegscollegii, Aufseher des Bauwesens bis zum Wegebau hinunter, dabei
auch directeur des plaisirs, Hofpoet, Verfasser von schönen
Festivitäten, Hofopern, Ballets, Redoutenaufzügen, Inskriptionen,
Kunstwerke etc., Director der Zeichenschule, in der er den Winter über
Vorlesungen über die Osteologie gehalten, selbst überall der erste Acteur,
Tänzer, kurz das factotum des Weimarischen und, so Gott will, bald der
majordomus sämtlicher Ernestinischer Häuser, bei denen er zur Anbetung
umherzieht. Er ist baronisiert und an seinem Geburtstag wird die
Standeserhöhung erklärt werden. Er ist aus seinem Garten in die Stadt
gezogen und macht ein adlig Htaus, hält Lesegesellschaften, die bald in
Assembleen verwandeln werden etc. etc. Bei alle dem gehts in Geschäften
(d. h. der Regierung) wie es gehen will ..."(Brief
Herders an seinen Freund Hamann im Juli 1782, zit. n.:
Friedenthal 1963, S. 262)
Diese kritischen Bemerkungen geben indes die Wirklichkeit wohl ziemlich
getreu wieder, denn offenbar erwartet man von Goethe, "dass er bei jeder
Gelegenheit mit seiner Feder aufwartet, seine Talente zur Verfügung
stellt. Er weigert sich keinesfalls, ergreift diese Aufgaben mit
Vergnügen. Sein Spieltrieb wird aufs angenehmste befriedigt. Bis ins
höchste Alter liebt er Maskeraden, Aufzüge, »lebende Bilder«,
Verkleidungen." (Friedenthal
1963, S. 262) Dabei ist das Dichten in Weimar, wie auch
anderswo, eine "Unterhaltung wie das Kartenspiel" und wird von der Frau
von Stein ebenso wie von der Herzogin-Mutter
»»Anna Amalia
(1739-1807) und dem Herzog selbst als geselliger Zeitvertreib
betrieben. Sie spielen bei Liebhaberaufführungen mit, bei jeder Einfall
recht ist, um "Rettung vor der stets drohenden Langeweile" (ebd.,
S.263) zu bringen.
Ohne sein
Egmont-Projekt also mit letzter Konsequenz vorantreiben zu wollen, blieb
Goethe aber entschlossen, das Werk zu Ende zu bringen. Dies gelang ihm
erst in einer neuen Lebensphase, während seiner
1. Reise nach Italien
(September 1786-88). Neben seiner Beschäftigung mit antiker Kunst
brachte Goethe bei seinem, nur durch eine Reise nach Neapel und Sizilien
unterbrochenen Aufenthalt in sein Drama "Iphigenie" in Versform,
arbeitete an den Dramen "Faust" (1808), "Torquato Tasso" (1788/89) und an
seinem Entwicklungs- und Bildungsroman "Wilhelm Meisters Lehrjahre"
(1795/96) und - beendete endlich den »Egmont« (August 1787). In einem
Brief bat der den Komponisten Philipp Christoph Kayser (1755-1823), der
auch Gedichte und Singspiele Goethes vertonte, "die Symphonie, die
Zwischenakte, die Lieder und einige Stellen des fünften Akts, die Musik
verlangen" (14.8.1787) und drückte seine Hoffnung aus, dass sein »Egmont«
mit dieser Musikpartitur dann gleich auf verschiedenen Bühnen gespielt
werde. Allerdings bleibt dieser Erfolg aus und das Drama verschwindet bald
von den Bühnen. Mit der
eingangs schon erwähnten
Bearbeitung des Dramas durch
Friedrich Schiller
(1759-1805) für eine Aufführung in Weimar im Jahr 1796
(Gastspiel des seinerzeit berühmten Schauspielers
»»August Wilhelm Iffland, 1759-1814),
die allerdings tief greifende Einschnitte in den Goethe'schen Dramentext
vornahm, gewann das Drama aber wieder an Boden zurück und konnte sich im
19. Jahrhundert auf vielen Bühnen durchsetzen.
Informationen über seinen »Egmont«-Stoff fand Goethe vor allem in der in
Latein abgefassten Darstellung eines Jesuitenpaters namens
Famianus Strada (1572-1649) mit
dem Titel »De bello Belgico decades duae (veröffenlt. Mainz 1651). Aus dem
Werk des Anhängers der spanischen klerikalen Partei, das bestimmte
historische Personen sehr genau charakterisierte und bestimmte Ereignisse
sehr lebendig schilderte, ging manches ziemlich getreu in Goethes
Drama ein (z. B. die Charakterisierung Albas, Oraniens sowie Margarete von
Parmas oder die Darstellung der Politik der spanischen Habsburger). Außer
Strada zog Goethe auch die eher unter protestantischer Perspektive von
Emanuel van Meteren (1535-1612)
verfasste Schrift »Eygentliche und vollkommene historische Beschreibung
des Niederländischen Krieges (hochdt. Übers. 1627) heran. Dessen ungeachtet
löste sich Goethe, dem eben kein Geschichts-, sondern ein Charakterdrama
vorschwebte, von historischer Detailtreue. Was sich in Wirklichkeit über
einen Zeitraum von nahezu zwei Jahren vollzog, zwischen Egmonts Verhaftung
am 9. September 1567 und seiner Hinrichtung auf dem Marktplatz von Brüssel
am 5. Mai 1568 lagen allein schon acht Monate, wird im »Egmont« zeitlich
verdichtet, auch wenn das Drama keine genauen Zeitangaben macht. Und die
Figur des Egmont im Drama hat deutlich andere Züge und handelt in einem
anderen Kontext als Historischer Hintergrund. Die Dramenfigur ist um einiges jünger,
unverheiratet und im Gegensatz zu seinem historischen Vorbild eine Figur
mit außergewöhnlichem Edelmut, die mit ihrem Charisma als Kriegsheld das
ganze Volk in seinen Bann zieht.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.01.2024
|