Johann Wolfgang von Goethes
etwa eineinhalbjährige
Beziehung zu Friederike Brion (geb.
19.4.1752 Niederrödern im Elsass, gest. 3.4.1813
Meißenheim) war eine tief greifende Erfahrung für den gerade 21-Jährigen
Studenten der Rechte in Straßburg.
Goethe lernt die Familie Brion durch seinen Studienkollegen
Friederich
Leopold Weyland (1750 - 1785) kennen, der in Straßburg Medizin studierte.
Weyand nahm Goethe zu einem seiner Ausflüge zu seinen Verwandten mit, von
deren Gastlichkeit und Liebenswürdigkeit er ihm immer wieder vorschwärmte.
In Sesenheim, heute wie damals etwa 40 km von Straßburg entfernt, aber
damals eine gute Tagesreise weit weg, ist ein behagliches und im Großen
und Ganzen wohlhabendes Dorf, in dem
Johann Jacob Brion (1717 - 1787)
als protestantischer Pfarrer mit
Frau, zwei Töchtern und einem Sohn lebt. Er
entstammt einer aus Frankreich geflohenen Hugenottenfamilie in der
Normandie, ein Schicksal, das auch die Vorfahren Goethes, die Familie des
Schneiders Göthé (1657- ca. 1730) erlitten haben. Im Hause Brion geht
es keineswegs steif zu, "man tanzt, spielt
Pfänderspiele, neckt sich,
liebt sich, vermummt sich, sitzt in der Laube beisammen oder macht weite
Spaziergänge durch den Wald oder hinunter zum Rhein." (Friedenthal
1963, S.97)
"Ich lenkte nach einem Wäldchen, das ganz nah eine Erderhöhung
bekrönte, um mich darin bis zur bestimmten Zeit zu verbergen. Doch wie
wunderlich ward mir zu Mute, als ich hineintrat: denn es zeigte sich mir
ein reinlicher Platz mit Bänken, von deren jeder man eine hübsche Aussicht
in die Gegend gewann. Hier war das Dorf und der Kirchturm, hier Drusenheim
und dahinter die waldigen Rheininseln, gegenüber die Vogesischen Gebirge
und zuletzt das Straßburger Münster. Diese verschiedenen himmelhellen
Gemälde waren durch buschige Rahmen eingefasst, so dass man nichts
Erfreulicheres und Angenehmeres sehen konnte. Ich setzte mich auf eine der
Bänke und bemerkte an dem stärksten Baum ein kleines längliches Brett mit
der Inschrift: Friederikens Ruhe. Es fiel mir nicht ein, dass ich gekommen
sein könnte, diese Ruhe zu stören: denn eine aufkeimende Leidenschaft hat
das Schöne, dass, wie sie sich ihres Ursprungs unbewusst ist, sie auch
keinen Gedanken eines Endes haben und, wie sie sich froh und heiter fühlt,
nicht ahnden kann, dass sie wohl auch Unheil stiften dürfte.
Kaum hatte ich Zeit gehabt mich umzusehen, und verlor mich eben in süße
Träumereien, als ich jemand kommen hörte; es war Friederike selbst "
(aus:
Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3.
Teil, 10. Buch
Als Goethe erstmals das Haus betritt, gibt er sich auch mit seiner
wenig ansehnlichen Kleidung als
armer Theologiestudent aus, wird herzlich
aufgenommen und bleibt über Nacht. Am nächsten Morgen schon wirft er sich
aber in Schale, legt das triste Theologenoutfit ab, denn eine der Töchter
des Pfarrers, Friederike, die blonde junge Frau mit ihren langen Zöpfen,
hat es ihm angetan.
"Schlank und leicht ... schritt sie, und beinahe schien für die
gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus
heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige
Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine
Sorgen geben könnte..." (Dichtung und Wahrheit,
3. Teil, 10. Buch)
Verliebt und voller Leidenschaft für Friederike
entstehen Gedichte und
Lieder, die die Stimmungslage Goethes in dieser Zeit
deutlich widerspiegeln. Auch sein Gedicht »Willkommen und Abschied«, das Goethe auch später
umarbeitet, entsteht in dieser Zeit. Die meisten
dieser kleinen Gedichte freilich, die Goethe später in Leipzig Bigliettos
nannte, sind, ohne dass er sie selbst in seine Sammlungen aufgenommen hat,
später im Sesenheimer Liederbuch publiziert worden, "in fragwürdiger
Fassung und vermengt mit den Versen des nächsten Liebhabers." (Friedenthal
1963, S.103). Vielleicht war das auch das Schicksal des
nachfolgenden Gedichts:
Balde seh ich Rickgen wieder
Balde bald umarm ich Sie
Munter tanzten meine Lieder
Nach der süßten Melodie,
Ach wie schön hats mir
geklungen
Wenn sie meine Lieder sang
Lange hab ich nicht gesungen
Lange Liebe Liebe lang
Denn mich ängstgen tiefe
Schmerzen
Wenn mein Mädchen mir
entflieht
Und der wahre Gram im Herzen
Geht nicht über in ein Lied
Doch jetzt sing (ich) und ich
habe
Volle Freude süß und rein
ja, ich gäbe diese Gabe
Nicht für alle Klöster Wein.
Als Goethe in der Arbeit für seine Doktorarbeit steckt, verringern sich
die Besuche in Sesenheim, bei denen man, im Vertrauen auf die moralische
Untadeligkeit Goethes, Friederike und ihn bei ihren Ausflügen
erstaunlicherweise oft, wie er später in Dichtung und Wahrheit schreibt,
"unbeobachtet,"
lässt. Und Goethe kann sich erinnern, dass er "diese warmen Nächte an der Seite der Geliebten
oder in ihrer Nähe" sehr genossen hat. Aber auch über seine anhaltenden
Besuche in Sesenheim hinaus, steht er in einem
regelmäßigen Briefkontakt
mit Friederike, Briefe, von denen leider nur einer (15. Okt. 1770)
erhalten geblieben ist.
Und doch hat sich Goethe wohl nach einer Weile gefragt,
wohin ihn diese Beziehung führen sollte. Und wahrscheinlich hat er auch
gespürt, dass, auch wenn solche Erwartungen niemals ausgesprochen worden
sind, im Sesenheimer Kosmos das Ganze nur auf eine Verlobung, zuletzt gar
auf eine Heirat hinauslaufen konnte, eine für den Vater Goethes gewiss
gänzlich unstandesgemäße Verbindung. Daher nimmt es nicht Wunder, dass
Goethe beginnt, sich ein Stück weit von Friederike und ihrer Welt zu
distanzieren. Als Friederike mit ihrer Schwester nämlich einmal zu einem
Besuch von Verwandten nach Straßburg reist, "da
man sich denn lieber in der Stadt und mit einigem Zwange als gar nicht
sehen wollte", kommt es, wie Goethe sagt, zu einer ernsten
Prüfung seiner Liebe zu ihr. In ihrer ländlichen Tracht, ganz "deutsch"
gekleidet, wirken die beiden Brion-Töchter in der städtischen Gesellschaft
schlicht "mägdehaft";
Friederike, die er in ihrer ländlichen Umgebung. "auf einem Hintergrunde
von schwankenden Baumzweigen, beweglichen Bächen, nickenden Blumenwiesen
und einem meilenweit freien Horizonte" zu sehen gewohnt gewesen war, kann
seinen gesellschaftlichen Ansprüchen als Mitglied des städtischen Bildungsbürgers
eben in keiner Weise genügen. So stellt Goethe in seinen Erinnerungen
lakonisch fest: "Endlich sah ich sie abfahren",
und es dauert nicht lange, ehe er endgültig von seiner ehemals
leidenschaftlichen Liebe Abschied nimmt. (vgl.
Goethe, Dichtung und Wahrheit, Teil
3, Elftes Buch)
Noch einmal schreibt Goethe Friederike Brion einen Brief zum Abschied,
den diese beantwortet. Und noch einmal wallen in Goethe Gefühle auf, derer
er u. a. durch ausgedehnte Spaziergänge Herr zu werden versucht. So schreibt er in
»Dichtung und Wahrheit«:
"Die Antwort
Friedrikens auf einen schriftlichen Abschied zerriss mir das Herz. Es
war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die
sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust, den
sie erlitt, und sah keine Möglichkeit ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu
lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, dass sie mir
fehlte, und, was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eignes Unglück
nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich
verlassen, hier war ich zum ersten Mal schuldig; ich hatte das schönste
Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren
Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst
peinlich, ja unerträglich. Aber der Mensch will leben; daher nahm ich
aufrichtigen Teil an andern, ich suchte ihre Verlegenheiten zu
entwirren, und, was sich trennen wollte, zu verbinden, damit es ihnen
nicht ergehen möchte wie mir. Man pflegte mich daher den Vertrauten zu
nennen, auch, wegen meines Umherschweifens in der Gegend, den Wanderer."
(aus:
Goethe, Dichtung und Wahrheit, Teil
3, Zwölftes Buch)
Im Sommer 1772 verliebt sich der Dichter Jakob Michael
Reinhold Lenz (1751-1792) in die unglückliche Friederike. Doch die Erinnerung an
Goethe lässt Friederike nicht los. Lenz droht "in seiner überschwänglichen
und vielleicht schon vom späteren Irrsinn angeschatteten Natur" (Friedenthal
1963, S.104) ihr gegenüber sogar mit dem
Suizid, wenn sie seine
Liebe nicht erhören sollte. "Und mit alledem schreibt er die schönsten
Gedichte auf die Unselige [...] Da sieht Lenz sie in ihrer Kammer vor dem
Spiegel, wie sie immer noch für Goethe sich die Haare macht, die schwarze
Taffetschürze zurechtrückt:
»Denn immer, immer, immer doch
Schwebt ihr das Bild an den Wanden noch,
Von einem Menschen, welcher kam
Und ihr als Kind das Herze nahm,
Fast ausgelöscht ist sein Gesicht,
Doch seiner Worte Kraft noch nicht,
Und jener Stunden Seligkeit,
Ach, jener Träume Wirklichkeit ...« " (Friedenthal
1963, S.104f.)
Im Alter von 61 Jahren stirbt Friederike Brion, die bis zum Tode ihres
Vaters (1785) im Elternhaus, danach bei ihrem ebenfalls Pfarrer gewordenen
Bruder, lebt. Mit Handarbeiten und Französischunterricht trägt sie zu
ihrem Lebensunterhalt bei. Goethe selbst scheint von dem späteren Leben
und dem Tod Friederike nichts gewusst zu haben. Es hat ihn wohl auch nicht
weiter interessiert.
Der nach der Veröffentlichung von Goethes Autobiographie »Dichtung und
Wahrheit« 1812/14 über Sesenheim hereinbrechenden Rummel ist Friederike
Brion damit
erspart geblieben.
Die Beziehung zwischen dem 21-jährigen
Johann Wolfgang von Goethe
und der 19-jährigen Friederike Brion hielt etwa eineinhalb Jahre an. Sie
wurde im Nachhinein zu einem "Märchen" besonderer Art stilisiert. Hier das
Genie, dort die einfache Pfarrerstochter und die Liebe Goethes wurde
idealisiert als Hinwendung zum Volk und zum Volkstümlichen
interpretiert. So nimmt es auch nicht Wunder, dass der Ort des Geschehens,
das Dorf Sesenheim im Elsass, etwa 40 km nordöstlich von Straßburg gelegen
(heute: ca. 1.500 Einwohner), zu einem Wallfahrtsort von Goethe-Liebhabern
avancierte.
Heute findet man in Sesenheim nur noch wenige Plätze, die mit Goethe
und seiner Liebe Friederike in Verbindung zu bringen sind. Auf linken
Seite der »Rue Frédérique Brion« liegt noch heute das Pfarrhaus, das aber
nicht mehr so aussieht wie in den Jahren 1770 - 71 und bei seinem Besuch bei
der Familie Brion und dem Wiedersehen mit
Friederike im September 1779 auf
seiner
2. Reise in die Schweiz,
die er zusammen mit dem
Herzog Carl August von
Sachsen-Weimar-Eisenach durchführt. Das heutige Gebäude, in dem
einige Erinnerungsstücke an Friederike und ihren Vater aufbewahrt werden,
wurde 1835 errichtet. Von den übrigen Gebäuden aus der Zeit von Goethes
Aufenthalt in Sesenheim ist die 1958 restaurierte Goethe-Scheune mit
ihrer weithin bekannten Bank davor erhalten geblieben, auf der ein Auszug aus den
autobiographischen Aufzeichnungen Goethes dem Leser Informationen über
seine Ausflüge mit Friederike zu den Rheininseln gibt. Im Garten gegenüber
steht ein Gebäude, das ein wenig wie ein kleiner antiker Tempel aussieht.
In früheren Zeiten als Wachhäuschen genutzt, beherbergt es nun seit 1961
Schriftstücke, Bilder und eine Nachbildung der bekannten und von d'Angers geschaffenen Marmorbüste Goethes, deren Original in Weimar steht,
ohnehin also nicht das Antlitz des jungen Goethe der Straßburger
Studienzeit. Im Gasthaus »Au Boeuf« gibt es dazu noch ein kleines
Privatmuseum, in dem einige Ausstellungstücke an Goethe und Friederike
Brion erinnern.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024