Auf "Rohmaterial" im Gedächtnis zugreifen
Wenn wir einen Text niederschreiben, greifen wir im
Allgemeinen auf ein vielgestaltiges Rohmaterial in unserem Gehirn
zurück. Als Gedanken, Bilder, Gefühle usw. steht es uns dort in
unterschiedlich codierter Form im Gedächtnis zur Verfügung.
Bestimmte Elemente dieses Rohmaterials bilden dabei
Schemata (kognitive Schemata,
emotionale Schemata).
Diese wiederum fungieren als Grundlage der
Konzepte, mit
denen wir uns und unsere Umwelt wahrnehmen und überhaupt handeln
können (konzeptionelle
Deutungsmuster)
Jeder Text entsteht im Kopf und nicht auf dem Papier
Im Prozess des Schreibens können wir dem Rohmaterial
aus unserem Gedächtnis die Form eines
Textes geben.
Konstruktivistisch betrachtet entsteht dieser Text erst im Prozess
des Schreibens selbst und so ist es auch konsequent, wenn gesagt wird:
Jeder Text entsteht im Kopf und nicht auf dem Papier.
Damit wird auch unterstrichen, dass jeder Text eine im höchsten Grad individuell-persönliche
Konstruktion ist, die sich nicht mit "objektiven" Kriterien von
Textualität beschreiben lässt.
Natürlich kann jeder im Prinzip seine Texte im Kopf und auf dem Papier
so gestalten, wie es seinen eigenen Vorstellungen entspricht. Und wäre
dem so, wäre eine gelungene Verständigung unter den Menschen pures
Glück, denn in einem solchen Falle sprächen wir Menschen keine
gemeinsame Sprache und besäßen keine Vorstellungen darüber und Regeln
dafür, wie man mit Sprache erfolgreich kommuniziert.
Sich-Verständigen in einem individuellen Schreibprozess
Wenn wir uns über unsere gesprochenen oder geschriebenen Texte
verständigen können, so liegt das u. a. daran, dass
-
wir die Sprache einer bestimmten Sprachgemeinschaft sprechen bzw.
verstehen
-
wir über einen gewissen Vorrat von Wissen verfügen, das wir mit
anderen teilen, mit denen wir uns darüber verständigt haben
-
wir die Art, wie wir solches Wissen konstruieren, häufig mit
gemeinsamen Regeln konventionalisiert haben
-
wir, wenn wir einen Text für andere verfassen, schon eine
Vorstellung von den gemeinsamen Wissensbeständen haben, so dass wir unseren
Text für den oder die anderen verständlich gestalten können.
Das Rohmaterial beim Schreiben in eine lineare Form bringen
Wenn man sein Rohmaterial zu Papier bringen will, merkt man mitunter
schnell, dass man oft nicht so einfach niederschreiben kann, was einem
dazu im Kopf herumgeht.
Die größte Schwierigkeit ist dabei: Was vielgestaltig unter Einbeziehung von
Emotionen und sinnlichen
Eindrücken in unserem Gedächtnis miteinander vernetzt ist, soll beim
Schreiben in eine lineare Form, ein Wort nach dem anderen, gebracht
werden.
-
Vielleicht sollen gar Gefühle und Stimmungen im Dienste einer
möglichst emotionsfreien und sachlichen Darstellung beim Schreiben
"herausgefiltert" werden, wie dies bei bestimmten
schulischen Schreibformen wie der
freien Problem- und Sacherörterung und der
Texterörterung verlangt wird.
-
Unter Umständen aber ist
aber auch das
Gegenteil verlangt: Unsere Texte sollen dann eine möglichst große
"emotionale" Färbung erhalten, ein Merkmal, ohne das jeder Liebesbrief
sofort Makulatur würde. Und auch im Bereich schulischer Schreibformen
hat solches Unterfangen, z. B. beim
kommentierenden Leserbrief, mittlerweile wieder eine weit
verbreitete Aufsatzform gefunden.
Das unterscheidet Einfälle vom niedergeschriebenen Text
Paul R. Portmann-Tselikas (o. J., 1998?) hat zur Verdeutlichung des
Sachverhalts Merkmale von Einfällen und Texten in einem stark
vereinfachenden Schema einander gegenübergestellt:
Vertextung ist ein komplexer konstruktiver Prozess
Die Vertextung selbst stellt einen komplexen konstruktiven
Prozess dar, der "den Weg von der Assoziation und vom Einfall zum
verbalen, begrifflichen Erfassen" ermöglicht.
Dabei ist Schreiben
von einer innerer Dynamik geprägt, die wie von selbst dafür sorgt, "dass
Fragen gestellt, Klärungen gesucht und mitteilbare gedankliche Ordnung
geschaffen werden. Nichts anderes ist gemeint, wenn immer wieder gesagt
wird, Schreiben fördere das Denken, zumindest eine wichtige, in unserer
Gesellschaft zentrale Form verbalen Denkens, das Mittel des Lernens,
Instrument der kognitiven Neugier und für einige auch Medium der
Selbstreflexion ist." (Portmann-Tselikas (o. J., 1998?)
Vertexten ist Versprachlichung und Verbegrifflichung
Wenn wir unsere Einfälle in zusammenhängender Form zu Papier bringen, müssen wir sie in
eine bestimmte textuelle Form bringen. Diese muss die kommunikativen Zwecke
erfüllen, die wir dabei anstreben (Adressatenorientierung,
Schreibziele).
Paul R. Portmann-Tselikas (o. J., 1998?) führt dazu aus:
"Um eine textuelle
Ordnung zu schaffen, müssen wir unsere primären Ideen bearbeiten und
umarbeiten, sie miteinander vergleichen, Schlüsse aus ihnen ziehen und
Verallgemeinerungen wagen." In diesem Zusammenhang muss, seiner Ansicht
nach, aber festgehalten werden:
- Beim Vertexten des Rohmaterials aus dem Gedächtnis wird
es "versprachlicht" und / oder begrifflich gefasst.
Portmann-Tselikas spricht dabei von
Versprachlichung und
Verbegrifflichung.
Das bedeutet: "Was uns zu einem Thema spontan einfällt, das
ist häufig nicht sprachlich im Gedächtnis gegeben: Es sind
einzelne Wörter oder Floskeln, aber u. U. auch sehr sprachferne
Bilder, Einstellungen um Impulse. Texte dagegen beruhen auf
expliziten, sprachlichen Mitteilungen. Das heißt: Den ersten Assoziationen muss
ein vereindeutigend interpretierender sprachlicher Ausdruck gegeben
werden." (ebd., Hervorh. d. Verf.)
- Beim Schreiben gibt man seinem Wissen eine neue Form.
Das bedeutet: Schreiben führt nicht einfach nur zu einem Text
als äußerem Produkt, sondern "wir geben
unserem Wissen eine neue Form: Wir bereichern es um neue Einsichten
und Zusammenhänge, wir merken aber vielleicht auch, dass unsere
Kenntnisse Lücken haben und dass wir dazu gedrängt sind, Fragen zu
stellen, die wir auf unserem gegenwärtigen Stand nicht zu
beantworten vermögen." (ebd., Hervorh. d. Verf.)
Schreiben erfolgt am besten auf der Basis einer erprobten
Vertextungsstrategie
Das Niederschreiben von Texten geht uns meist dann vergleichsweise
leicht von der Hand, wenn wir ohne inneren oder äußeren Druck,
weitgehend unbelastet, schreiben dürfen.
Aber auch wenn wir
hinreichend Erfahrung im Schreiben bestimmter Texte gewonnen haben,
lässt die gewonnene Routine Texte sicher leichter aus der Feder fließen
bzw. auf die Tastatur übertragen.
Je komplexer indessen die
Schreibaufgabe, je komplexer das ganze
Setting ist, in dem Schreiben
stattfindet, desto störungsanfälliger wird das Schreiben, desto
mehr Sand gerät ins Getriebe bei der Vertextung des Rohmaterials aus
unserem Gedächtnis.
Dann verlangt die Vertextung nämlich mehr Zeit, mehr
Überlegung, und wer kann, folgt am besten einer erprobten
Vertextungsstrategie bzw. Schreibstrategie, besonders dann, wenn zu Beginn des Schreibens die
Vorstellung darüber, wie der erforderliche Text eigentlich aussehen
soll, noch einigermaßen unklar ist.
→Heinrich
von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.01.2024
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