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YouTube-Video: Was sind Semantische Netzwerke? -
Psychologie mit Prof. Erb (8:26)
Was Wissen
eigentlich ist, wie es in unserem
▪
Gedächtnis gespeichert wird und welche Mechanismen dafür
sorgen, dass uns dieses Wissen, wenn wir es benötigen, wieder zur
Verfügung steht oder auch nicht, beschäftigt uns als Menschen immer
wieder in unserem Alltag. Und dementsprechend haben wir auch mehr
oder weniger ausgereifte Vorstellungen oder ▪ Alltagstheorien darüber,
wie das alles funktioniert. Mit ihnen kommen wir im Allgemeinen
zurecht, wenn uns das Gedächtnis nicht wieder einmal ein Schnippchen
schlägt, wir uns z. B. einfach nicht erklären können, warum wir den
Namen einer bestimmten Person, die wir schon lange kennen, immer
wieder vergessen. Gewöhnlich weiß jeder*, soweit er/sie sich daran
erinnern kann, von solchen Gedächtnisgeschichten oder anderen
Gedächtniskapriolen, wie wir manchmal sagen, zu berichten, weil sie
auch Teil unseres
autobiographischen Gedächtnisses geworden sind.
Vom Hölzchen aufs
Stöckchen kommen ...
An unsere
Alltagvorstellung kommt am ehesten wohl die Vorstellung heran, dass
das, was wir wissen, irgendwie miteinander verknüpft ist und einem
mal schnell zur Verfügung steht, sich ein andermal erst nach und
nach wieder einstellt oder einfach ganz vergessen ist oder nur
vergessen zu sein scheint.
Dann aber hören wir
irgendeinen Vogel singen und plötzlich steht uns der Kanarienvogel vor
Augen, den wir in unserer Kindheit zu Hause hatten. Und schon stellt
sich ein, dass der eigene "Piepmatz" keiner von der knallgelben
Sorte gewesen ist, sondern ein eher graugelbes Gefieder hatte und
die Erinnerung daran, dass man dies zunächst gar nicht toll gefunden
hat. Und man erinnert sich vielleicht an den Tag, an dem er
entflogen ist, an das Wohnzimmer, wo der Käfig gestanden hat, als
man ihn öffnete, und das doofe Fenster, das leider noch immer etwas
geöffnet war, weil Mutter jeden Morgen lüftete, um den kalten
Zigarettengeruch (man riecht ihn gerade zu wieder) aus dem Zimmer zu
bringen. Das war, so erinnert man sich, auch dringend nötig, weil
insbesondere der eigene Vater viele Jahre lang Kettenraucher gewesen
ist und später an dessen Folgen verstorben ist. Und man spürt, dass
die Augen bei der Erinnerung daran noch immer feucht werden
... Was hier als eine Abfolge verschiedener
Assoziationen
in einer Art
Assoziationskette "erzählt" wird, hat, das spüren wir auch
intuitiv, mit unserem Gedächtnis zu tun. Und so gesehen, spricht
auch nicht viel dagegen die Verbindungen und Beziehungen, die zwischen den
konkreten Objekten, Konzepten (Kategorien, Knoten, nodes) bestehen,
zumindest auch assoziativer Natur sind. Ein solches
assoziatives Netzwerk könnte dann so ähnlich arbeiten,
wie es die obige "Erzählung" darstellt.
Im Übrigen liegen solche
Assoziationsketten auch vielen ▪
kreativen Techniken zugrunde wie z. B. beim ▪
Clustering oder ▪
Brainstorming, wie
sie in Schule und Beruf häufig zum Einsatz kommen. Das erklärt also
neben ihrer Affinität zu unseren sonstigen ▪ Alltagstheorien
über das Denken auch, warum Netzwerkmodelle unseres Denkens so
populär, weil anschaulich, sind.
Das
Beispiel, wie wir "vom Hölzchen aufs Stöckchen
kommen", wie man
redensartlich sagt,
soll ausdrücken, dass
man mehr und mehr vom eigentlichen Thema abkommen kann, wenn man
seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf lässt. Auch wenn die
"Erzählung" den tatsächlichen Ablauf der ▪
mnemonischen Prozesse,
die sich dabei im
▪
Gedächtnis abspielen, nicht wiedergeben kann, zeigt es
doch, dass wir in diesem Fall auf verschiedene Speichersysteme in
unserem ▪
Langzeitgedächtnis
zurückgreifen. In dessen untergeordneten System, dem ▪
deklarativen Gedächtnis werden dabei Einträge (Repräsentationen)
im ▪
semantischen und im ▪
episodischen Gedächtnissystem aktiviert.
In eine ähnliche
Richtung, allerdings mit anderer Zielsetzung, geht wohl auch die
behavioristische Theorie
vom Reiz–Reaktions-Lernen, welche die Konzeptbildung, also den
Prozess, wie wir vom konkreten Objekt zu einem von dessen Merkmalen
(Attributen) abstrahierenden Begriff (Kategorien, Konzepte) kommen,
auf den Aufbau von Assoziationen zwischen konkreten Objekten bzw.
den von ihr wahrgenommenen Merkmalen (Reizen ...) und kategorialen
Zuordnungen (Reaktionen ...)" zurückführt. (Hoffmann/Engelkamp
22017, 5.1.2 Konzeptbildung als Reiz-Reaktionslernen,
in Klammern Gesetztes im Original fett, d. Verf.).
Je stärker und stabiler bestimmte Assoziationen dadurch werden, dass
die Merkmale, auf die sie zurückgehen, auch an anderen Objekten
festgestellt werden, desto eher werden alle diese Objekte zu einem
(generalisierenden) Konzept assoziiert. Wenn wir also eine bestimmte
Apfelsorte, sagen wir einen Golden Delicous in den Händen
halten, betrachten und essen, werden wir beim Verzehr eines grünen
Granny Smith diesen wahrscheinlich mit dem Golden Delicous
assoziieren und nicht mit einer Grapefruit. Und je öfter wir
das tun, desto stabiler wird diese Assoziation werden und sich, wenn
weitere »Apfelsorten
dazukommen (Elstar, Kalterer Böhmer, Boskop oder Ravensberger
Renette ....) zu einem generalisierten Konzept
Apfel entwickeln.
Semantische Netzwerke
im semantischen Gedächtnis
Die Wissenschaft
nimmt solche Vorgänge, wie sie in der obigen "Erzählung" dargestellt
werden, natürlich anders, analytisch und vor allem systematisch,
unter die Lupe. Sie will erklären, wie wir Wissen in unserem
Gedächtnis erwerben, dieses organisieren und strukturieren, auf
welche Weise wir es letztlich repräsentieren.
Eine sehr
prominente Form zur Erklärung dieser Vorgänge sind
funktionsorientierte Theorien mittlerer Reichweite (vgl. (Wentura/Frings
2013, S.33), die die ▪ Wissensrepräsentation in Form von
Netzwerken modellieren. Dabei sind solche Modelle natürlich
hypothetische Konstrukte, so dass in diesem Zusammenhang sogar von
einer Netzwerkmetapher
gesprochen wird. (vgl.
ebd.,
S.32)
Solche Netzwerke,
die Bedeutungen von Erfahrungen repräsentieren, werden als
semantische Netzwerke bezeichnet. "bei dem die Begriffe intern über
sprachähnliche Symbole repräsentiert, die miteinander vernetzt sind"
(Wentura/Frings
2013, S.31).
Auch wenn sie manchen Kognitionspsychologen
"inzwischen etwas »angestaubt«" (ebd.,
S.30) und ebenso wie die kognitiven ▪
Schemata im Vergleich zu den ähnlichkeitsbasierten ▪
Prototypen- oder ▪
Exemplaransätzen "inadäqat" (Anderson
72013, S.111) vorkommen, hat dies ihrer Anschaulichkeit und der daraus
resultierenden Popularität indessen kaum Abbruch getan, zumal sie
mit unseren ▪ Alltagstheorien über das
Denken und das Gedächtnis besonders gut zu harmonisieren scheinen.
Netzwerkmodelle
nehmen an, dass unser Wissen im Gedächtnis wie in einem Fischernetz aus einzelnen
Knoten und ihren Verbindungen geknüpft ist. Jeder dieser Knoten (nods) steht
dann für eine ▪ Kategorie (Konzept, Proposition), die in Verbindung
mit anderen Kategorien steht. Wie die Kategorien gebildet werden,
wie also die Konzeptbildung selbst vonstatten geht,
ist damit nicht unbedingt zu erklären.
Netzwerkmodelle
modellieren dabei vor allem Vorgänge, die sich in unserem ▪
semantischen Gedächtnis abspielen, dem Bereich des ▪
(deklarativen) Gedächtnisses also, der allgemein als Speicher
für das
deklarative Wissen (z. B.
Weltwissen,
Faktenwissen,
Allgemeinwissen,
enzyklopädisches Wissen, explizites Wissen,
Fachwissen) steht, welches wir im Laufe unseres Lebens erworben
haben (generisches
Wissen).
Was wir im semantischen Gedächtnis gespeichert haben, z. B.
Informationen wie Kanarienvögel sind gelb und können singen
sind dabei vom konkreten Exemplar abstrahierte Kategorien, die wir
als mentales Konzept KANARIENVOGEL im Gedächtnis gespeichert haben.
Da das
konzeptuelle Wissen, das im semantischen Gedächtnis
gespeichert ist, in der Regel sprachlicher Natur
ist,
können wir meistens auch in dieser oder jener Form verbalisieren, was wir wissen.
Es gibt
unterschiedliche Vorstellungen über semantische Netzwerke
Man kann sich die
Netzwerkarchitektur unseres gespeicherten Wissens auf
unterschiedliche Art und Weise vorstellen und deshalb auch
unterschiedliche Netzwerke konstruieren. Je nachdem, was sie leisten
sollen, eine theoretisch fundierte Erklärung oder ein Modell, das
sich empirisch an bestimmten Erinnerungs- und
Wiedererinnerungseffekten nachweisen lässt, gelten für die
Netzwerkkonstrukte natürlich auch andere Bedingungen.
Grundsätzlich kann
man unter dem Aspekt, wie sie die Organisation des Wissens jeweils
modellieren, zwischen zwei Netzwerkmodellen unterscheiden, die
relationale Beziehungen zwischen den Kategorien (Konzepten)
abbilden:
-
Hierarchisch
organisierte semantische Netzwerke (z. B. das ältere
Modell Collins/von gehen davon aus, dass
die Bedeutungen von Erfahrungen die wir als Wissen speichern, im
Rahmen einer logischen
Begriffshierarchie in logischen Über- und
Unterordnungsbeziehungen organisiert werden, über die zugleich
die Verbindung der Knoten des Netzwerks laufen. Um bestimmte
kategorisierte Informationen aus dem Gedächtnis abrufen zu
können, müssen bestimmte Knoten(Kategorien), die nach dem
Prinzip der "kognitiven Verdichtung" gebildet worden sind, abgearbeitet
werden. Semantische Netzwerke dieser Art ist das von
▪ Collins und Quillian (1969) modellierte
hierarchische Netzwerk oder auch ▪
propositionale Netzwerke, bei denen die Verknüpfung der
Knoten mit logischen Aussagen in Verbindung steht (vgl.
Gruber 2018,
S.47) und in einer besonderen Form visualisiert werden kann. Auch ▪
propositionale Netzwerke, die ebenfalls hierarchische
Beziehungen von Bedeutungen (Aussagen) abbilden, lassen sich im
weiteren Sinne als semantische Netzwerke auffassen. Sie bringen
allerdings in ihrer besonderen Art und Weise die Verknüpfung der
Knoten des Netzwerks mit logischen Aussagen in Verbindung. (vgl.
Gruber 2018,
S.47)
-
Erfahrungsbedingte semantische Netzwerke, wie sie von
Allan Collins und Elizabeth Loftus vorgestellt (1975)
wurden, versuchen bestimmte Schwächen hierarchisch organisierter
semantischer Netzwerke zu überwinden, indem sie deren
"hierarchische Struktur zugunsten einer Struktur auf, die auf
den persönlichen Erfahrungen einer Person beruht", aufgeben.
(vgl. ebd.,
S.48). Damit wollen sie auch Probleme überwinden,
die damit zusammenhängen, dass eine bestimmte Kategorie wie
STRAUSS nicht alle jene Merkmale aufweist, die ihr
die übergeordnete KATEGORIE eigentlich verlangt und die diese an ihre
untergeordneten Kategorien in einem streng hierarchischen System
"vererben" müsste (Transitivität).
In dem neueren Modell können auch direkte Verbindungen zwischen
zwei beliebigen Knoten gebildet werden, die auf
lexikalischen
Einträgen beruhen.
In diesem überarbeiteten Modell werden
Objekte (z.B. Feuerwehrauto), Merkmale (z.B. rot), Verben (z.B.
Essen) und sogar die Verbindungen zwischen all diesen als
Konzepte mit unterschiedlichen Knoten behandelt. Zwei beliebige
Wörter können miteinander verknüpft werden, ohne Zwischenknoten,
und die Dicke (oder manchmal Länge) der Verbindung bestimmt, wie
eng diese Konzepte zusammen organisiert sind
Dabei darf man sich
diese Netzwerke allerdings nicht als statische Gebilde vorstellen.
Sie haben nämlich - ähnlich wie ▪
Schemata - ihre eigene Dynamik: Das Netz, das wie ein
Fischernetz aus zahlreichen Knoten (Begriffen, Konzepten,
Kategorien) besteht, kann sich nämlich verändern, indem sich die
Beziehungen (Relationen) dieser Knoten zueinander verändern oder
einfach durch Integration neuen Wissen weitere Knoten in dem
bestehenden Netz geknüpft und mit vorhandenen verbunden werden.
Dementsprechend unterscheiden sich unsere semantischen Netzwerke
auch voneinander, auch wenn in ihnen in einer gleichen Welt (z. B.
einer Kultur) die Bedeutung vieler Kategorien konventionell
festgelegt ist.
Wer also z. B.
Weinexpertin* ist, verfügt, was den Knoten bzw. das Konzept WEIN
angeht, natürlich über, zunächst einmal nach unten hin gedacht, ein
weitaus differenzierteres Netz mit untergeordneten Kategorien, kann
z. B. mit der BLUME eines Weines etwas anfangen und weiß neben
anderen Aspekten auch Bescheid darüber, dass ein »Cabernet
Sauvignon eine ursprünglich aus dem französischen »Bordelais
stammende Rotweinsorte ist, die solange der Wein "jung" ist,
"fruchtig, rau und gerbstoffbetont mit kräftiger 'Nase'" daherkommt,
und erst im Laufe seiner Reifung jene feinen Röstaromen, Aromen von
schwarzen Johannisbeeren usw. entwickelt, die diesen Wein auf der
ganzen Welt so beliebt gemacht haben. Einer gewöhnlichen
Weintrinkerin* fällt dazu vielleicht nicht mehr ein, als dass ihr
dieser Wein einfach schmeckt. Dass die individuellen semantischen
Netzwerke auch eine soziale Dimension haben, wird einem schnell
klar, wenn man sich eine Situation vorstellt, in der man als die
einzige "einfache Weintrinkerin" in ein Seminar von Weinsommeliers
geraten würde, und die Aufgabe hätte, einen bestimmten Wein mit den
gemeinhin üblichen Kategorien zu beschreiben. Schaut man über dieses
Beispiel hinaus, dann kann man sich mit Hilfe der semantischen
Netzwerke zumindest vorstellen, wie es bei bestimmten "Querdenkern"
in der für sie wohl typischen Echokammer bzw. »Filterblase
während der »COVID-19-Pandemie
2020/21 geknüpft gewesen sein mag, wenn sich bestimmte populistische
Stereotype und »verschwörungstheoretische
Konzepte als Knoten (Lügenpresse, »QAnon
oder andere »Falschinformationen
zu COVID-19 etc.) verbinden und immer wieder gegenseitig
aktivieren.
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YouTube-Video: Was sind Semantische Netzwerke? -
Psychologie mit Prof. Erb (8:26)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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