In diesem Zusammenhang spielt die
Gestaltung eines
guten Schulklima als Mittel der Primärprävention eine
maßgebliche Rolle. Dieses wiederum ist u. a. davon abhängig, wie es um die
psychische und
physische Lehrer- und Schülergesundheit in den Schulen bestellt
ist.
Im Rahmen der
Suizidprävention
gehärt das Schulklima, die Art wie in einer Schule miteinander im Allgemeinen und
in Konfliktfällen im Besonderen umgegangen wird, darin sind sich die
Suizidforscher weitgehend einig, zu den tragenden Säulen der
Primärprävention suizidaler Handlungen.
Wenn Schülerinnen und Schüler die
Schule häufig als "anonyme Lernfabrik" betrachten, dann zeigt dies, dass
auch die Gestaltung einer angenehmen Lernatmosphäre, einen wichtigen
Belastungsfaktor der Schule "entschärfen" kann, der sehr viel zu der weit
verbreiteten und immer wieder beklagten Lernunlust von Schülerinnen und
Schülern beiträgt.
Wer sich heute wie viele Schülerinnen und Schüler
innerlich vom Lernangebot distanziert und die Auseinandersetzung mit den
angebotenen oder geforderten Lerninhalten nur noch als zweitrangige
Angelegenheit betrachtet, entfaltet sein Interesse am Schulfach
bestenfalls noch durch eine positiv erlebte Beziehung zu seinem Lehrer.
(vgl.
Hagstedt/Hildebrand-Nilshon 1980,
zit. bei
Bründel 1993, S. 20).
Was unter einem guten Schulklima im Allgemeinen zu verstehen ist, ist
einem steten Wandel unterworfen, der mit veränderten Positionen der
Wissenschaft auf der einen, aber natürlich auch mit dem allgemeinen
gesellschaftlichen Wandel zusammenhängt. Dass es aber damit nicht zum
Besten bestellt ist, zeigen Untersuchungen zur psychischen und physischen
Gesundheit der im
Setting Schule lebenden und
agierenden Personen (Schüler, Lehrer). Die Daten über die
psychische und
physische Lehrer- und Schülergesundheit sind alarmierend.
Die Schaffung eines guten Schulklimas und die Gestaltung einer
angenehmen Lernatmosphäre setzt voraus, dass die psychische und physische
Lehrer- und Schülergesundheit "stimmt". Nur dann werden die ihnen
abverlangten Aufgaben, auch Rahmen der
Suizidprävention
bewältigt werden können.
Viele Lehrerinnen und Lehrer sehen den Aufgaben der Schule bei der
Suizidprävention mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie befürchten, da sie
für solche Aufgaben nicht ausgebildet wurden, "verheizt" zu werden und
fühlen sich gänzlich überfordert mit solchen Aufgaben, die auf die vielen
anderen, schon als Überbelastung empfundenen Pflichten noch eine weitere
draufsetzt. Diese Tatsachen macht die
psychische und
physische Lehrergesundheit natürlich auch zum Thema im
Zusammenhang mit der Suizidprävention und der dabei geforderten positiven
Gestaltung des Schulklimas und einer neuen Lernkultur.
Im Rahmen einer Studie der Universität Freiburg unter Leitung von
Professor Joachim Bauer von der Klinik für psychosomatische Medizin , die
im Juli 2004 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wurden zehn südbadische
Gymnasien untersucht. Dabei wurde festgestellt,
-
dass 35 Prozent
der Pädagogen ausgebrannt sind
-
dass die Gründe
für diese Burnout-Konstellation in der hohen Verausgabung, Erschöpfung
und Resignation zu suchen sind
-
dass ein Fünftel
der 438 untersuchten Lehrer durch Stress schwer beeinträchtigt und
medizinisch behandlungsbedürftig sind (Auf Deutschland umgerechnet sind
das 158 600 (!) der 793 000 Lehrer.)
-
dass Lehrerinnen
(43 Prozent) einen höheren Burnout-Anteil aufweisen als Lehrer (27
Prozent) auf, Geschiedene (55 Prozent) einen höheren Anteil als Singles
(45 Prozent) oder in Partnerschaft lebende Pädagogen (30 Prozent). Das
Dienstalter hat dagegen keinen Einfluss, sondern maßgebend sind die
Dispositionen, die der einzelne für diese berufliche Verschleißsituation
mitbringt.
Kein Wunder, dass der Mediziner, der in der entsprechenden
dpa-Meldung
vom 5.7.2004 zu Wort kommt, als Konsequenz und Reaktion auf die
schlechten PISA-Ergebnisse deutscher Schüler nicht so sehr neue
Bildungsstandards für notwendig hält, sondern die Verbesserung der
innerschulischen Beziehungsgestaltung. Anders als in Industrie und
Verwaltung sei der Arbeitsprozess der Schule, also Lehren und Lernen,
vollständig eingebettet in zwischenmenschliche Beziehungsabläufe.
Schulische Beziehungen zwischen Lehrern untereinander, Lehrern und
Schülern und Eltern und Lehrern seien zu einem Stressfaktor geworden.
Zudem böten die Pausen keine Rückzugsmöglichkeiten mehr. Viele Lehrer
könnten auch zu Hause nicht mehr zwischen Arbeit und Privatem trennen.
Nach Ansicht des Forschers muss vor allem die Zusammenarbeit zwischen
Schule und Eltern verbessert werden. Angesichts einer verheerenden Lage
bei der Schülergesundheit und des wachsenden Anteils verhaltensgestörter
Schüler müssten die Lehrer dafür qualifiziert werden, mit diesen
schwierigen psychologischen Situationen umzugehen. In der übergroßen
Mehrheit seien Lehrer keine faulen Säcke, sondern Schwerstarbeiter im
Klassenzimmer, urteilte der Mediziner. Nahezu zwei Drittel (63 Prozent)
der untersuchten Lehrer zeige eine sehr hohe oder hohe
Verausgabungsbereitschaft, berichtete Bauer. Als besonders belastend
empfanden die Lehrer große Klassen, das
Schülerverhalten, die Stundenzahl,
die Koordinierung beruflichen und privater Verpflichtungen sowie außerunterrichtliche Pflichten.
Dass sich an der
Situation insgesamt wenig geändert hat, unterstreicht auch die
DAK-Studie "Lehrergesundheit - Was hält Lehrkräfte gesund?" zur
aus dem Jahre 2011. Die größte Herausforderung im Schulalltag sahen
34 Prozent der Lehrkräfte m Juni 2023 im Verhalten der Schüler und
Schülerinnen. Außerdem wurden die Arbeitsbelastung und der
Zeitmangel (31 Prozent) sowie der Lehrkräftemangel (21 Prozent)
häufig genannt. (vgl.
Statista) Interessant ist dabei auch die nachfolgende Statistik,
die wir hier aber nicht weiter kommentieren.
Dass in gleichem Maße die
psychische und
physische Schülergesundheit eine maßgebliche Rolle als
Voraussetzung für ein gutes Schul- und Lernklima angesehen werden muss,
versteht sich von selbst. So bezeichnete Bauer bei der Präsentation seiner
Studie auch die Schülergesundheit als Besorgnis erregend. Dabei
verwies er auf die Jugendgesundheitsstudie Stuttgart, bei der 51 Prozent von 2000
untersuchten Kindern unter anhaltenden psychosomatischen Beschwerden
litten. Bei einer Studie in Aachen zeigten
mehr als 15 Prozent von 500 Kindern psychiatrische Auffälligkeiten.
«Eltern wissen" so stellt der Mediziner fest, "nur teilweise über
die Beschwerden und Probleme ihrer Kinder Bescheid, da bei einem Teil der
Kinder keine ausreichende Betreuung im häuslichen Umfeld stattfindet."
Und noch immer leiden unzählige Schülerinnen und Schüler in Deutschland
an Schulangst, der Angst vor dem
Schulbesuch, die häufig ohne ersichtlichen Grund schon in der Vorschule,
dem Kindergarten auftritt, und ihren ersten Höhepunkt im zweiten Schuljahr
erreicht. Dazu kommen hier und im späteren Schulleben "widersprüchliche
Erwartungshaltungen verschiedener Sozialisationsträger, emotionale
Vernachlässigung und inkonsequentes Erziehungsverhalten", die oft
"gestörte Interaktions- und Kommunikationsformen" nach sich ziehen und "zu
einem Abbruch von Beziehungen" führen. (Colla-Müller
1984, S.20)
Kein
Wunder also, dass die provokative Fragestellung "Macht
Schule krank?", die vielerorts schon Symposien,
Podiumsdiskussionen und Fortbildungen betitelt, heute von vielen mit einem
klaren Ja beantwortet wird und Schlagzeilen wie "Kranke Schule, kranke
Lehrer, kranke Kinder" (Welt
am Sonntag, 20.8. 2004) die Sache auf den Punkt bringen. Der
verantwortliche Redakteur des dazu gehörenden Artikels entwirft dazu ein
düsteres, aber wohl für viele Schulen keineswegs überzogenes Bild:
"Die Lehrer sind krank, weil das Schulsystem sie krank macht: Nur zwei
Minuten pro Unterrichtsstunde lernen Schüler im Durchschnitt etwas Neues.
In manchen Klassen nimmt die Hälfte der Kinder Ritalin zur Beruhigung. Das
zermürbt den besten Lehrer. "Das Problem der Schule liegt nicht im Fehlen
von Standards, sondern in der Unmöglichkeit, im Unterricht eine Situation
herzustellen, die Lernen möglich macht", hat Joachim Bauer festgestellt.
Der Lehrerjob - ein Horrorjob.
Die grassierende Gewalt an den Schulen verschlechtert das Lernklima.
Schüler berauben sich, erpressen sich, mobben sich. Frühere
Schulhofraufereien sind heute Schlägereien. "Die treten noch, wenn der
andere längst am Boden liegt", klagen Pädagogen. Wenn ein Lehrer
dazwischengeht, kann er selbst zum Opfer werden. "Du Wichser", "Fass mich
nicht an" oder "alter Penner" seien gängige Ansprachen für die ehemalige
Respektperson "Lehrer", erklärt Marina Galka. Sie war selbst Lehrerin. 24
Jahre lang. Dann gab sie den Beruf auf. Inzwischen hilft sie als
Therapeutin ehemaligen Kollegen, die desillusioniert in ihre Praxis
kommen. "Die Unberechenbarkeit des bevorstehenden Tagesablaufs ist ein
Stressfaktor, dem nur starke Persönlichkeiten einigermaßen entspannt
begegnen können."