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Direktdemokratische Entscheidungsprozesse

Auswirkungen direkter Demokratie

Empirische Befunde im Pro und Contra

 
 
  Partizipation ist ein Grundprinzip jeder demokratischen Gesellschaftsordnung. Ohne die politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere durch Wahlen und Abstimmungen, lässt sich die politische Herrschaft in Systemen direkter oder auch indirekter Demokratie nicht legitimieren. Dabei versteht man unter Partizipation Handlungen, "die Bürger freiwillig mit dem Ziel vornehmen, Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen." (Kaase 1997, S.160)
Nach den Erfahrungen mit Volksabstimmungen in der Weimarer Republik, die nach Auffassung der Schöpfer des Grundgesetzes von 1949 ganz wesentlich zur Polarisierung und Radikalisierung der Öffentlichkeit beigetragen und damit den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt haben, hat man im Grundgesetz auf Volksentscheide auf Bundesebene weitgehend verzichtet.
Ungeachtet solcher Überlegungen bringen auch zahlreiche Bürgerinnen und Bürger heute immer wieder zum Ausdruck, dass sie mehr Möglichkeiten haben wollen, um politisch mitzubestimmen.
In der "Vertrauens-, Repräsentations- oder Legitimationskrise" (Decker 2007, S.20) in der sich der Parteienstaat befindet, glauben sich offenbar viele Menschen nicht mehr hinreichend von ihren einmal gewählten Partei-Abgeordneten repräsentiert. (→Parteienverdrossenheit).
Neben Forderungen, die das repräsentative System insgesamt abschaffen und durch eine direkte Demokratie ersetzen wollen, gibt es aber auch Stimmen, welche die Verankerung des Volksentscheides im Grundgesetz verlangen, ohne zugleich das repräsentative System als Ganzes aushebeln zu wollen.

Die Debatte über die Frage: "Soll der Volksentscheid ins Grundgesetz?" kann mit demokratietheoretischen Argumenten geführt werden. Es können aber auch empirische Ergebnisse mit direktdemokratischen Verfahren in anderen Ländern herangezogen werden. Hier soll mit einer Zusammenstellung von Forschungsergebnissen letzteres versucht werden. Dabei versteht sich die Zusammenstellung natürlich als nicht abgeschlossen, sondern kann jederzeit weiter ergänzt werden.

Pro direkte Demokratie Contra direkte Demokratie
In Ländern, in denen es mehr Möglichkeiten der Direktdemokratie gibt, ist die allgemeine Lebenszufriedenheit der Bürger höher. (vgl. Vatter 2007, S.105 zit. n. Decker u. a. 2013, S.112)  
"Plebiszite sind das verlässlichste Instrument, um gesellschaftliche Stimmungen zu ergründen." (Teuwsen/Willmann 2009, S.6)  
  Die politischen Prozesse verlaufen in einer direkten Demokratie deutlich langsamer als in einem repräsentativen System. (vgl. Decker u. a. 2013, S.112 unter Bezugnahmen auf Moser/Obinger 2007)
Erfahrungen mit der Direktdemokratie in der Schweiz zeigen, dass die Tendenz von Volksentscheiden, eher an "Bewährtem" festzuhalten, also eine insgesamt eher konservative und konservierende Rolle zu spielen, nicht automatisch zu einer insgesamt rückschrittlichen Politik führen muss. vgl. Decker u. a. 2013, S.112 unter Bezugnahmen auf Moser/Obinger 2007) Reformen und Veränderungen kommen in einer Direktdemokratie meistens nur in kleinen Schritten voran. (vgl. Decker u. a. 2013, S.112 unter Bezugnahmen auf Moser/Obinger 2007)
Immer mehr Menschen äußern sich unzufrieden mit den politischen Entscheidungen, wie sie bei uns vor allem von den Parteien getroffen werden. Aus diesem Grunde fordern sie immer stärker, Volksabstimmungen in Sachfragen. Die Partizipationswirkungen über andere Formen politischer Beteiligung scheinen ihnen zu unverbindlich. (vgl. Decker u. a. 2013, S.124) Finden neben den Wahlen, die das wichtigste Element politischer Partizipation darstellen, noch häufiger Abstimmungen statt, dann könnte sich die Motivation, Wahl zu gehen, weiter verringern. ((vgl. Decker u. a. 2013, S.108)
Mehr direktdemokratische Einflussmöglichkeiten wirken sich sehr wahrscheinlich positiv auf die politische Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger aus (vgl. Decker u. a. 2013, S.125)  
Wo es mehr plebiszitäre Möglichkeiten für die Bürger gibt, ist auch das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger höher. (vgl. Vatter 2007, S.105 zit. n. Decker u. a. 2013, S.112)  
Auch wenn die Abstimmungsbeteiligung bei Abstimmungen gering ausfällt, wird die Direktdemokratie dort, wo sie möglich ist, hochgeschätzt. Insofern sind die Bürgerinnen und Bürger "nicht deshalb zufriedener, weil sie die plebiszitären Verfahren nutzen, sondern weil sie die Möglichkeit haben, sie zu nutzen." (Decker u. a. 2013, S.112 unter Verweis auf Stutzer/Frey 2000) Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei Abstimmungen fällt insgesamt noch deutlich geringer aus als die bei Wahlen. Dadurch verschärft sich das Problem der (sozialen) Selektivität, d.h. es nehmen vor allem die gebildeten, ökonomisch besser gestellten und ohnehin politisch Interessierten an den Abstimmungen teil. (vgl. Decker u. a. 2013, S.108)
Dass die Beteiligung an Abstimmungen auf kommunaler Ebene oder Länderebene gering ausfällt, ist kein Argument gegen die direktdemokratische Beteiligung. Was sich ändern muss, sind die Verfahren und die Verbindlichkeit plebiszitärer Elemente für die Politik und die politischen Parteien. (vgl. Decker u. a. 2013, S.124) Wo, z.B. auf kommunaler Ebene oder auf Länderebene zu Formen plebiszitärer Beteiligung kommt, nehmen nur wenige Bürgerinnen und Bürger an solchen Abstimmungen teil. (vgl. Decker u. a. 2013, S.124)
Wo sich die Bürger auf dem Weg der direkten Demokratie beteiligen können (z. B. Schweiz), zeigen sie gewöhnlich ein stärker ausgeprägtes politisches Interesse. (vgl. Decker u. a. 2013, S.112) Wenn mehr Abstimmungen stattfinden, bedeutet dies noch nicht, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auch anderweitig politisch engagieren. (Drewitz 2012) Es ist sogar davon auszugehen, dass die politische Partizipation insgesamt gleich bleiben wird (Nullsummenspiel). (Decker u. a. 2013, S.125)
Selbst wenn es oft Minderheiten sind, die Plebiszite durchsetzen, unterliegt die Abstimmung doch der Mehrheitsregel, so dass eben nicht von vornherein feststeht, wie das Plebiszit ausgeht. (vgl. Decker u. a. 2013, S.111) Zudem gestaltet sich das Abstimmungsverhalten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer Volksabstimmung weitaus komplexer. (s.u.) Das Abstimmungsverhalten der Teilnehmer an einem Plebiszit ist eine komplexe Angelegenheit und hängt davon ab, ob es sich um strukturelle oder kontingente Mehrheiten/Minderheiten handelt. Die Gefahr, dass sich Minderheiteninteressen gegen die Mehrheitsinteressen durchsetzen können, besteht im Übrigen nur bei kontingenten Mehr-/Minderheiten. Mit Volksentscheiden können Minderheiten versuchen ihre Interessen durchzusetzen, zumal sie es meistens sind, "die im Modell der direkten Demokratie »von unten« die Verfahren auslösen. ((vgl. Decker u. a. 2013, S.111 unter Verweis auf Grotz 2009, S.298)
Die strukturellen Mehr- bzw. Minderheiten sind durch Merkmale vorgeprägt, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (Nation/Ethnie, Religion, etc.) ergeben. Wenn es also z. B. in der Schweiz bei Volksabstimmungen "um die Rechte von kulturell integrierten »Ingroups« wie den eigenen Sprachgemeinschaften und Konfessionen geht" (Decker u. a. 2013, S.111) , ist ein minderheitenfreundliches Ergebnis durchaus zu erwarten. Wenn es aber, wie z. B. beim »Schweizer Minarettstreit um den Bau von Moscheen geht, bei der die muslimischen Minderheiten als Fremdgruppe wahrgenommen werden, dann ist eine Ablehnung des Minderheitenanliegens durch die Mehrheit bei der Volksabstimmung wahrscheinlich. (vgl. Decker u. a. 2013, S.111) Dass die Verhältnisse in Deutschland in diesem Fall sich von denen in der Schweiz kaum unterscheiden würden, lassen nichtrepräsentative Umfragen im Internet vermuten (z.B. Umfrage der Bild-Zeitung (Leipzig) über die Frage: "Sollten die Bürger über den Moscheebau abstimmen?" (8.9.2014). Dass sich dazu die Partei »AfD an die Spitze solcher von »islamophoben Vorstellungen geprägten strukturellen Mehrheiten stellen will und »Volksentscheide gegen den Moscheenbau auch in Deutschland fordert, ist dabei einmal mehr Ausdruck ihrer »rechtspopulistischen Überzeugungen. Bestimmte Minderheiten,  "die selbst über keine politischen Rechte verfügen, einem anderen Kulturkreis angehören oder sich erst seit kurzem im Land aufhalten"   bedürfen "eines besonderen Rechtsschutzes vor Volksentscheiden." (Vatter/Danaci 2010, S.219, zit. n. Decker u. a. 2013, S.111)
Kontingente Mehr- und Minderheiten können sich bei Volksabstimmungen ergeben, die jederzeit Thema werden können, wie z. B. Fragen zur sozialen Gerechtigkeit, Steuerfragen, die Nutzung der Atomenergie o. ä.. Bei kontingenten Themen besteht die prinzipielle Gefahr, dass sich eine aktive, gut organisierte und  Minderheit, die das Thema zur Abstimmung bringt, gegen eine "schweigende Mehrheit", die sich nicht an der Abstimmung beteiligt durchsetzt. (vgl. Decker u. a. 2013, S.111) In der repräsentativen Demokratie können Minderheiten sich nicht so leicht gegen die Mehrheit durchsetzen. (vgl. Decker u. a. 2013, S.112 unter Bezugnahme auf Abromeit 2003)

 

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 25.02.2015

 
     
     
   Arbeitsanregungen:
  1. Welche Argumente können Sie überzeugen?

  2. Verfassen Sie ein Statement, aus dem Ihre Meinung zur Frage hervorgeht: "Soll der Volksentscheid ins Grundgesetz der Bundesrepublik aufgenommen werden?"

  3. Neben diesen empirischen Studienergebnissen gibt es noch andere demokratietheoretische Thesen und oder sonstige Hypothesen zum Thema. Formulieren Sie je zwei solcher Vor- und Nacheile.
     

 
     
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