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Cleavage-Theorie

Überblick

 
 
 

Um zu erklären, wie die Parteiensysteme in den westeuropäischen Ländern historisch entstanden sind und auf welche gesellschaftlichen Prozesse ihre Entstehung und für sehr lange Zeit sehr stabilen Beziehungen zu ihren Wählerinnen und Wählern zurückzuführen ist, haben die beiden norwegischen Forscher »Seymour Martin Lipset (1922-2006) und »Stein Rokkan (1921-1979) gesellschaftliche Spannungen, Verwerfungen und soziale Trennlinien untersucht, die in der gemeinsamen modernen europäischen Geschichte prägend gewesen sind. Dabei stellten Lipset und Rokkan (1967) fest, dass es eine besondere Wechselbeziehung zwischen bestimmten  Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaften und der Existenz, Entwicklung und Struktur ihres Parteiensystems gibt. Allerdings werden nur Spannungen und Konflikte mit besonderen Merkmalen zu solchen Konfliktlinien.
Ganz allgemein beruht die Stärke des Ansatzes der beiden Forscher darauf, dass die Herausbildung von Parteien "nicht auf unterschiedliche Ideen, welche ohne Zeit und Raum von den Anhängern der verschiedenen Parteien aufgenommen wurden", sondern "auf die gesellschaftliche Entwicklung mit ihren Revolutionen, Konflikten und Spaltungen zurückgeführt wird." (Ladner 2004, S.21) Zugleich kann der Ansatz auch dazu verleiten,  die Entstehung und Entwicklung von Partei nur von den sozialen Veränderungen der jeweiligen Wählerschaft abzuleiten und eine quasi automatische Übersetzung von Konfliktlinien (Cleavages) in das Parteiensystem nahelegen. (vgl. ebd., S.35)

Der historisch-soziologische Ansatz von Lipset und Rokkan (1967) führt die Entstehung und die jeweils spezifische Formierung und Konfiguration von Parteiensystemen in Westeuropa auf das Vorhandensein bestimmter gesellschaftlicher Spannungen zurück.

Bei bestimmten Spannungen bildet sich, bildlich gesehen, ein Graben als soziale Trennlinie zwischen den jeweiligen Konfliktparteien (Cleavage) innerhalb der Gesellschaft.  

Was macht eine gesellschaftliche Konfliktlinie aus?

Nicht alle sozialen Spannungen, die es in einer Gesellschaft gibt, sind gesellschaftliche Konfliktlinien (cleavages). Manche, wie z.B. der Generationenkonflikt oder der Genderkonflikt) erfüllen derzeit die Bedingungen, die dafür gelten, nicht oder nur zu einem gewissen Teil.
Das muss aber nicht heißen, dass sich im Zuge der Globalisierung (Kosmopolitismus-Nationalismus-Cleavage) und des anhaltenden Strukturwandels, insbesondere wegen des demographischen Wandels, nicht ganz neue Konfliktlinien auftun werden.

Eine gesellschaftliche Konfliktlinie ist nach Stefano Bartolini und Peter Mair (1990, S.211-249) von drei Merkmalen gekennzeichnet, die von Detterbeck (2011, S.45) den folgenden Kategorien bezeichnet werden:

  1. Gesellschaftliche Interessenkonflikte
    Gesellschaftliche Großgruppen müssen auf der Grundlage von ökonomischer Lage, Status, Religion oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe voneinander abgegrenzt sein und in einem klaren sozialen Gegensatz zueinander stehen.
  2. Ideologische Zielkonflikte:
    Die entlang einer Konfliktlinie voneinander getrennten gesellschaftlichen Gruppen müssen sich ihrer besonderen Eigenarten und Identität und ihrer Interessen bewusst sein und damit eine politische Gemeinschaft mit einer kollektiven Identität darstellen. Man muss sich also z. B. zu den Arbeitern zählen oder sich als Katholik oder Muslim verstehen.
  3. Organisatorische Einkapselung:
    An einer Konfliktlinie müssen sich die voneinander getrennten gesellschaftlichen Großgruppen in irgendeiner Art und Weise organisieren, z. B. als Gewerkschaft, Kirche etc. So muss ein organisatorischer Zusammenhalt in einem politischen Lager entstehen, das sich in einem vergleichsweise geschlossenen subkulturellen Milieu als Solidargemeinschaft erlebt. (vgl. Detterbeck 2011, S.45, vgl. Köllner 2008, S.12)

Wenn alle drei Merkmale sich besonders wirkungsvoll miteinander verbinden, dann erklärt sich daraus, warum bestimmte Cleavages besonders lange existieren und ein Parteiensystem prägen können. Wirkmächtig werden sie aber wohl erst, wenn die sozialen Spannungen "mit Fragen der Identität und Ideologie verknüpft" werden. (Detterbeck ebd., unter Bezug auf Mair 2006, S.373)

In jedem Fall sollten die Konfliktlinien "nicht mit bloßen Interessenlagen gleichgesetzt oder gar auf materielle Interessenaspekte verkürzt werden." (Decker 2011, S.39) Ohne ihre Einbettung in eine "politisierte Sozialkultur" (Rohe 1992, S.22) können sie nicht die Rolle spielen, die ihnen in Bezug auf das Parteiensystem zugedacht wird. Nur dann können sie nämlich einerseits Ausdruck sozialer Verhältnisse zu sein, die "an Eigenschaften wie Erwerbsposition, Gruppenzugehörigkeit oder Lebensstil festgemacht werden. Und nur dann können sie zugleich "als analytische Klammer [...] eine Vielzahl von politischen Streitfragen zu wenigen Grundkonflikten zusammenfassen." (Decker 2011, S.39)

Nicht jeder Meinungsunterschied zwischen den Parteien markiert eine gesellschaftliche Konfliktlinie

Aus den Kriterien für eine gesellschaftliche Konfliktlinie ergibt sich, dass nicht jede politische Streitfrage im politischen Tagesgeschäft, zu dem die Parteien eine unterschiedliche Position vertreten, zugleich Ausdruck einer in der gesellschaftlichen Struktur verankerten Konfliktlinie ist.
So macht es nur dann Sinn von einer gesellschaftlichen Konfliktlinie zu sprechen, wenn "die damit verbundenen Interessen von anhaltender Relevanz sind, alternative politische Identitäten nicht (mehr) umfassend mobilisiert werden können, die formalen Rahmenbedingungen der Parteientätigkeit (Art des Wahlsystems, Struktur des Regierungssystems usw.) die Aufrechterhaltung von Konfliktlinien begünstigen und diese Konfliktlinien auch in organisatorischer Hinsicht von Parteien in den Wettbewerb um Wählerstimmen eingebracht werden." (Köllner 2008, S.12, vgl. auch: Kriesi 1998, S.167))

Unter welchen Bedingungen werden aus Cleavages Parteien?

Letzten Endes erzeugen die Konfliktlinien (Cleavages) also ein bestimmtes Parteiensystem. Dies ist freilich kein Automatismus, sondern an bestimmte Bedingungen gebunden. Zudem muss nicht jede einzelne Konfliktlinie auf jeder der einander gegenüberstehenden Seiten zur Entstehung einer konkurrierenden Partei führen.
Damit aus vorhandenen Cleavages Parteien werden, eine "Parteipolitisierung" stattfindet (vgl. Niedermayer 2007, S.31) müssen nämlich vier Hürden genommen werden (vgl. Lipset/Rokkan 1967, S.26ff., vgl. Ladner 2004, S.20)

Diese Cleavages (Konfliktlinien) führen im Zuge der vom allgemeinen Wahlrecht geförderten Politisierung der Gesellschaft zur Gründung von politischen Parteien, die sich der Interessen der im Konflikt miteinander stehenden Bevölkerungsgruppen annehmen. Auf diese Weise entsteht "eine Wechselbeziehung zwischen den Angehörigen der durch gemeinsame soziale und Lebensstilmerkmale charakterisierten Milieugruppen und den sie vertretenden Parteien." (Decker 2011, S.49)

Die Hauptcleavages sind Ergebnisse von Modernisierungsprozessen

Die Entstehung von Parteien geht im Konflikt- und Spannungslinien-Ansatz von Lipset und Rokkan (1967) historisch auf zwei →Modernisierungsprozesse der europäischen Entwicklung zurück:

Nach Lipset/Rokkan (1967) kommt es im Gefolge dieser beiden Modernisierungsprozesse zu vier Grundkonflikten, die die Gesellschaft spalten (Cleavages, Konfliktlinien). Sie durchziehen die Gesellschaft wie Gräben und sind Ausdruck einer bestimmten Art von Spannungen.
Für Lipset und Rokkan sind es vier Hauptcleavages, von denen die Entwicklung der europäischen Parteiensysteme ausgeht. Die Unterschiede zwischen den Parteiensystemen der verschiedenen Staaten erklären sich damit, dass diese Hauptcleavages zum Teil unterschiedlich ausgeprägt waren. Diese Cleavages sind

Die vier Hauptcleavages legten "die Grundsteine für die Organisation der Liberalen, der Katholiken, der agrarischen Kräfte und der Arbeiter." (Ladner 2004, S.33) Sie fanden sich aber auch nicht in allen Ländern. Lediglich das Cleavage zwischen Kapital und (Lohn-)Arbeit, der class conflict, fand sich in allen Ländern, die Lipset/Rokkan (1967) analysierten.

Dass die vier Hauptcleavages nicht überall in Westeuropa für die über viele Jahre herrschende Stabilität der einmal formierten Parteiensysteme die gleiche Bedeutung  hatten, zeigte sich unter anderem auch in Deutschland, das neben Frankreich und Italien zu den Ländern gehört, deren Parteiensystem nicht in einem bestimmten Format über einen längeren Zeitraum eingefroren ist. (Stabilitätsthese: Frozen Party System)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 26.08.2016

 

 
   
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