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Dass die • Weimarer Reichsverfassung zu den
wichtigsten
• Belastungsfaktoren der Weimarer Republik
zählt, ist unter Historikern unbestritten. In ihren Analysen heben sie
dabei unterschiedliche Aspekte der •
formalen Verfassungsordnung hervor und ziehen in
unterschiedlichem Maße weitere Faktoren bei der Beurteilung der
Verfassungsproblematik heran. Die nachfolgende Auswahl gibt dazu einen
Einblick.
Die Vorstellung, dass mit dem Reichspräsidenten eine dem
"Parlamentsabsolutismus" paroli bietende Gegenkraft installiert
werden konnte, (ist) kaum zutreffend… Man wird die Funktion des
Reichspräsidenten in der Weimarer Reichsverfassung daher anders
interpretieren müssen. Er stellte kein Gegengewicht gegen ein stabiles
Parlament dar, sondern war eine Art "Nothelfer" bei Versagen des
parlamentarischen Gesetzgebers. Seine Stunde kam in Krisenzeiten… An
sich war das keine schlechte Konstruktion. Allerdings kann sie die
Parteien, den parlamentarischen Gesetzgeber, dazu verführen, seine
vorrangige Verantwortung für den Staat auf die leichte Schulter zu nehmen
und auf den Präsidenten abzuschieben. "Dem Volk" , so sagte
schon Friedrich Stampfer1,
hatte die Reichsverfassung "zwei Chancen" gegeben: "Es
konnte einen brauchbaren Reichstag und einen brauchbaren
Reichspräsidenten wählen; jeder dieser beiden Faktoren konnte im Notfall
für sich allein die Staatsmaschine in Gang halten. Versagten beide, so
war freilich der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung nicht
aufzuhalten.
(aus:
Hans Boldt (1987),
S.61f.
1 Friedrich
Stampfer: Mitglied des Vorstandes der SPD in der Weimarer Republik
Das Nebeneinander von repräsentativen und plebiszitären Elementen machte
die entscheidende Strukturschwäche im politischen System der ersten
deutschen Republik aus [...]. In Deutschland schwächten die
plebiszitären Momente, allen voran der starke Präsident, das Parlament
[...]. Wenn das parlamentarische System nicht funktionierte, sprang der
Präsident ein. Dadurch wurde den Parteien die Flucht aus der
Verantwortung außerordentlich erleichtert. Die Funktionsschwäche des
parlamentarischen Systems war zugleich Ursache und Folge der
präsidentiellen Machtfülle. (aus:
Heinrich
A. Winkler, 1984, S.235)
Dass es dann während der Republik von Weimar nur zweimal zum
Volksentscheid kam und beide agitatorisch eingebrachten Gesetzentwürfe
nicht die erforderliche Mehrheit erhielten, zeigt deutlich, die
Unvereinbarkeit von Elementen der Urdemokratie mit den von den Bedingungen
der pluralistischen Industriegesellschaft geprägten Parlamentarismus der
modernen Repräsentativ-Demokratie. Das Referendum blieb als konstruktives
Verfassungselement bloße Theorie; die Möglichkeit, es agitatorisch
auszuspielen, aber bedeutete für das ungefestigte Ordnungsgefüge der
Republik eine zusätzliche Belastung. (aus:
Alfred
Milatz, 1965, S.57f.)
Die Weimarer Verfassung, die die Grundrechte von 1848 und die starke
Obrigkeit des Kaiserreichs verbinden wollte, rückte 1919 Deutschland
geistig an die Seite des Westens und stand doch in der deutschen Tradition
des Interventionsstaates und eines starken Interessenpluralismus. Ihre
Werte aber wurden von den Verfassungsgebern nicht, wie der einflussreiche
Staatsrechtslehrer Carl Schmitt damals so höhnend wie treffend bemerkte,
bürgerkriegsparteifähig gemacht; das heißt, es war gestattet, die
Verfassung zu bekämpfen, solange legal gehandelt wurde. Warum aber
unterblieb ein wirksamer Schutz der Verfassung? Die drei
Verfassungsparteien hatten tiefe ideologische Vorbehalte gegeneinander. Zu
späterer Zeit wollte die SPD die Verfassung weiterentwickeln. Und so
wollte es auch das Zentrum. Aber beide wollten in eine andere Richtung
gehen. Wirkliche Verfassungspartei war allein die kleine, linksliberale
Deutsche Demokratische Partei. [...]
Die Republikaner von Weimar wussten, dass die Nation zerrissen und der
Parlamentarismus schwach war als Rahmen des Konsens. War es ihnen erlaubt,
den Schutz der Verfassung und damit Ausnahmezustand, Armee und
Beamtenkörper einem mächtigen, vom Volk in direkter Wahl bestellten Hüter
in die Hände zu geben, dem Reichspräsidenten? Das hat nicht nur das
Parlament demoralisiert, das in jeder Krise die Verantwortung an eine
höhere und mächtigere Instanz abgeben konnte und ohnehin durch
Volksbegehren und Volksentscheid dem institutionalisierten Misstrauen des
Verfassungsgebers ausgesetzt war. Der Reichspräsident hielt seitdem den
Schlüssel zu einer anderen Republik in der Hand.(aus:
Michael Stürmer
1987, S.327f.)
Auch ein relatives Mehrheitswahlrecht hätte die Republik nicht vor
Gefahren schützen können, die aus radikalen Sinnesänderungen der
Wählerschaft erwuchsen.[...]
Die Rolle der Splitterparteien der Weimarer Zeit wird häufig
überschätzt. Die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems von
Weimar wurde weniger durch das Vorhandensein einiger kleiner Fraktionen
beeinträchtigt, als vielmehr durch die Koalitionsprobleme zwischen den
größeren Parteien. Und diese Schwierigkeiten waren [...] zu einem
erheblichen Grad darauf zurückzuführen, dass der »Antimarxismus« in
den bürgerlichen Parteien stetig an Gewicht gewann.[...]
Schon 1920 trat bei der bürgerlichen Mitte eine Tendenz nach rechts in
Erscheinung [...].(aus:
Eberhard
Kolb 1984, S.166-169)
Es
war weniger die mangelnde Rigidität der Verfassung, die die
nationalsozialistische Machtergreifung ermöglichte, als vielmehr - unter
anderem - die Entwicklung des Parteiensystems, die Hitler zu einer
Massenbasis verhalf und die verfassungstreuen Parteien dezimierte. Hier
taucht die Frage auf, ob eine Änderung des Wahlrechts diese Entwicklung
hätte verhindern können. Doch lässt sich nicht schlüssig beweisen, dass
etwa ein Übergang zum relativen (nicht zu dem im Kaiserreich geltenden
absoluten!) Mehrheitswahlrecht die Parteien in Deutschland
koalitionsbereiter gemacht und vor allem die verfassungstreuen Parteien
stabilisiert und das Emporkommen extremer Parteien in der Wirtschaftskrise
verhindert hätte. Stimmungen und politische Einstellungen der Wählerschaft
und in den Parteien selbst, die in der Weimarer Zeit destruktiv wirkten,
sind letztlich kaum vom Wahlrecht abhängig. (aus:
Hans Boldt (1987), S.61)
Die Begeisterung der Verfassungsväter für ein Höchstmaß an
demokratischem Verfahren führte in zweifacher Hinsicht später zu
Schwierigkeiten. Zweifellos stellt die Verhältniswahl die beste Methode
dar, die je ersonnen worden ist, um zu garantieren, dass alle
Meinungsschattierungen vertreten sind. Bei den Reichstagswahlen angewandt,
erschwerte sie jedoch den Gesetzgebungsprozess dadurch, dass sie die
Anzahl der Parteien erhöhte. Dies machte Koalitionsregierungen
unumgänglich und ermöglichte antirepublikanischen Splittergruppen, die
sonst aus Mangel an Aufmerksamkeit möglicherweise zugrunde gegangen
wären, eine parlamentarische Vertretung. Einen weiteren Beweis für die
ängstliche Rücksichtnahme auf die Souveränität des Volkes lieferten
die Bestimmungen über die Gesetzesinitiative und den Volksentscheid. Auch
diese hatten verhängnisvolle Folgen, vielleicht weil sie nicht
hinreichend gegen Missbrauch abgesichert waren. Die Bedingungen für einen
Volksentscheid konnte man so leicht erfüllen, dass Feinde der Republik
ihn als Mittel der Obstruktion benutzten. (aus:
Gordon A. Craig,
Geschichte Europas 1815-1980, 1989, S.444)
Es hat in den späteren Jahren nicht an Versuchen gefehlt, das Wahlrecht
[...] zugunsten eines der Persönlichkeitswahl entgegenkommenden
Mehrheitswahlrechts zu verändern. Indessen lässt sich die in der
Mittelphase der Republik noch voranschreitende Parteienzersplitterung nur
in sehr geringem Umfang auf das Verhältniswahlrecht zurückführen;
Listenwahl begünstigte die Kandidatur von Verbandsvertretern und
verstärkte damit den freilich ohnehin bestehenden Druck der
Interessengruppen auf die Fraktionen. Problematischer war, dass die
Parteien sich auf die Beibehaltung der bisherigen Wahlkreiseinteilung
einigten. Das Proportionalwahlrecht entsprach zudem der herrschenden
Mentalität, die das Parlament als Spiegelbild der pluralistischen
Interessen der Gesellschaft begriff und dessen Aufgabe nicht primär in
der Regierungsbildung, sondern im Ausgleich gesellschaftlicher Interessen
in der Gesetzgebung erblickte. Das Wahlrecht stellte daher allenfalls ein
Symptom, nicht aber die Ursache des Gebrechens dar, dass die Parteien vor
der Übernahme politischer Gesamtverantwortung zurückschreckten. (aus:
Mommsen
(1989/1998), S.86)
Die Fragmentierung der politischen Kultur der Weimarer Republik
spiegelte sich auch in den Wahlergebnissen wieder. [...] Das nahezu reine
Verhältniswahlrecht [...] trug ganz entscheidend zur starken
Zersplitterung bei, die das Weimarer Parteiensystem kennzeichnete. Auch
wenn viele der kleinen und kleinsten Parteien oft nur bei einer Wahl oder
in einem Wahlkreis kandidierten und dann wieder verschwanden oder sich neu
gruppierten [...], entstand der Eindruck einer partikularistischen
Deformierung des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses.
Andererseits jedoch konservierte das Verhältniswahlrecht vor allem die
sozial-moralische Fragmentierung: Zumindest für die größeren
Teilkulturen bestand absolute Gewissheit, ihre Repräsentanten auch ohne
politische Absprachen mit anderen Gruppierungen in den Reichstag entsenden
zu können; die bestehenden Milieu- oder spezielle Interessenparteien
bildeten hierbei die politische Organisationsform. [...] Die enge
Milieubindung verhinderte die soziale und programmatische Öffnung der
Parteien gegenüber anderen politischen Teilkulturen und damit die
Herausbildung moderner Volksparteien ebenso wie den Ausgleich der
unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Interessen. Durch die
einseitige Ausrichtung auf ihre jeweilige Klientel waren die Parteien
nämlich weitgehend unfähig zum Kompromiss, was angesichts einer
fehlenden dominanten politischen Kultur in der Weimarer Republik zur
Systemintegration jedoch unabdingbar gewesen wäre. (aus:
Megerle,
Klaus (1994) S.76)
Zu langen und engagierten Debatten kam es über den Grundrechtsteil der
Verfassung. [...] Die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen
Gruppen bemühten sich jetzt, ihre speziellen Forderungen und
Vorstellungen in der Verfassung unterzubringen, z.B. konnte das Zentrum
zahlreiche Artikel über Kirche und Schule durchzusetzen, auf der anderen
Seite wurde der Arbeiterschaft die Möglichkeit einer Überführung
"geeigneter privater wirtschaftlicher Unternehmungen in
Gemeineigentum" und die Verankerung der Arbeiterräte in der
Verfassung zugestanden (Art.
156,
165). Während einzelne
Artikel den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status quo
festschrieben, boten andere Artikel eine Handhabe zur Veränderung der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. So liegt dem
Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung kein konsistentes
Gesellschaftsbild und gesellschaftspolitisches Programm zugrunde. Vielmehr
spiegelt sich darin die soziale und ideologische Zerklüftung einer
modernen, pluralistischen Industriegesellschaft [...] sie war ein System
politischer und sozialer Kompromisse, welche die gemäßigte
Arbeiterbewegung und die demokratischen Teile des Bürgertums nach dem
Sturz des Kaiserreichs eingegangen waren [...].(aus:
Eberhard Kolb, 1984,
S.19f.)
Der Abschnitt über »Das
Wirtschaftsleben« ist im Verfassungstext das Ergebnis eines
Kompromisses zwischen den verschiedenen wirtschafts- und
gesellschaftspolitischen Richtungen, die in Regierung und
Nationalversammlung miteinander rangen. Diesen Aussagen fehlt die
systematische Geschlossenheit [...]. Einige Artikel haben rein
deklamatorischen Charakter, andere aber sind gewichtig in ihrer
gesellschaftspolitischen Substanz. [...] Liberalem Gedankengut entstammen
die Aussagen über die »wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen« (Artikel
151), die gesichert, und das Eigentum (Artikel
153), das gewährleistet sein soll. Der sozialistischen Grundforderung
entsprechen die Artikel, die die Möglichkeit von Enteignung sowie der
Vergesellschaftung wirtschaftlicher Unternehmungen vorsehen (Artikel
153 und
156). Das
System der Sozialpolitik wird verfassungsrechtlich verankert (Artikel
161) und durch ein unbeschränktes Koalitionsrecht für alle Berufe,
d.h. auch für Beamte ergänzt (Artikel
159). [...] Entsprechend dem von der Reichsregierung am 4. März 1919
gegebenen Versprechen sind auch die Räte in die Verfassung hineingenommen
worden (Artikel 165). Sie bleiben aber auf den wirtschaftlichen Bereich
beschränkt (aus:
Karl-Dietrich Erdmann
1980, S.122f.)
Das deutsche System sollte den - angeblich am englischen Vorbild
abgelesenen - wahren Parlamentarismus realisieren. Man gelangte auf diese
Weise zu einer eigentümlichen Konstruktion des parlamentarischen Systems,
in dem Elemente des parlamentarischen mit solchen des präsidentiellen
Regierungssystems verschmolzen waren - wobei bei der Ausgestaltung des
Präsidentenamtes sowohl das amerikanische und das französische
Präsidentenamt als auch die monarchische Tradition eine vorbildhafte
Rolle spielten.
Die Gefahr eines Absolutismus des Parlaments, einer Hypertrophie1,
der Repräsentivverfassung wurde auf diese Weise vermieden. Jedoch um
dies Preise einer anderen Gefahr willen, die blickt man auf die gesamte
Geschichte der Weimarer Republik - wahrscheinlich schlimmer und größer
war. Von ihr kann man zumindest mit Sicherheit sagen, dass sie am
Untergang der Weimarer Republik maßgeblichen Anteil hatte. Es entstand
nämlich durch die Gleichgewichtskonstruktion zwischen Präsident und
Parlament ein gefährlicher Dualismus im deutschen
Verfassungssystem. Spätestens seit den Präsidialregierungen ab 1930
stellte sich klar und eindeutig heraus, dass die Vermischung von Elementen
des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems nicht nur
die Balance zwischen Parlament und Regierung verhinderte. Sie schuf
auch einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dessen beiden Polen die
Regierung, verfassungsmäßig von beiden abhängig, keinen festen Stand
finden konnte. Der Effekt, den die Einbeziehung des Präsidenten in den
Regierungsprozess des Weimarer Systems bewirkte, war die völlige Verkümmerung
des Parlamentarismus. Da der Reichspräsident durch den Artikel 48
(Absatz 2) jederzeit ein Instrument in der Hand hatte, durch
Notverordnungen zu regieren, war es dem Reichstag ermöglicht, sich vor
der politischen Verantwortung und Entscheidung - wenn nötig - zu
drücken. Um das Gesicht gegenüber den Wählern zu wahren, konnte man
eine Regierung einfach fallen lassen, von der man mit Sicherheit wusste,
dass sie vom Reichspräsidenten durch das Notverordnungsrecht im Amte
gehalten würde. Diese eigentümlich Konstruktion der Weimarer Verfassung
gab den Parteien die Gelegenheit, sich durch Misstrauenserklärungen gegen
die Regierung oder einzelne Minister in den Augen der Wähler ein Alibi zu
verschaffen, während die Regierung trotzdem - durch den Präsidenten
bevollmächtigt - weiterregierte. (aus:
Theo
Stammen 1971, S.147f.)
An der Weimarer Reichsverfassung hat es nicht in erster Linie gelegen,
dass die Demokratie scheiterte. Gewiss war auch sie das Produkt von
Kompromissen, so waren Grundrechte nur im hinteren Teil aufgeführt. Aber
man hätte mit dieser Verfassung arbeiten können, wenn die Mehrheit sich
zu ihren liberalen und demokratischen Grundprinzipien bekannt hätte. Doch
ebendiese demokratische Mehrheit gab es ja seit 1920 schon nicht mehr.
So musste man sich damit begnügen, die Bestimmungen der Verfassung
vordergründig zu respektieren, das heißt zu manipulieren. Diese ließen
sich auch für antidemokratische Zielsetzungen nutzen, so bei den
plebiszitär-demokratischen Einrichtungen des Volksbegehrens und des
Volksentscheids, die gerade Hitler im Volksbegehren gegen den Young-Plan
zur endgültigen Regelung der Reparationen für eine wilde Agitation gegen
die Republik einzusetzen verstand.
Man müsse "die Leute erziehen zu Widersetzlichkeit und zum
Widerstand gegen Forderungen, die den Untergang der deutschen Nation
bedeuten", trommelte Hitler Ende 1929 im Zirkus Krone für das
"Gesetz gegen die Versklavung des deutschen Volkes", wie er den
Volksentscheid gegen den Young-Plan nannte.
Die Volkswahl des Präsidenten hatte Hindenburg zum höchsten
Repräsentanten der Republik gemacht. Nicht zuletzt waren es die
außerordentlichen Vollmachten des Präsidenten für den Notstandsfall im
Artikel
48 der Weimarer Verfassung, die es ihm ermöglichten, unter Umgehung
des Parlaments mit präsidialen Notverordnungen zu regieren. Diese
Präsidialvollmacht führte ab 1930 zur Ausschaltung der parlamentarischen
Demokratie und sie wurde das Einfallstor für die Errichtung der
nationalsozialistischen Diktatur Hitlers.
Man hat von der Weimarer Reichsverfassung geglaubt, sie sei besonders
demokratisch, und das traf auch zu. Aber da sie von Parteien und
"Staatsdienern" gehandhabt wurde, die von der Demokratie als
Staatsform wenig oder gar nichts hielten, halfen die besten
verfassungsrechtlichen Vorkehrungen wenig. (aus: Der Spiegel 33/1999)
Volksentscheide sind kein taugliches Mittel zur Lösung der Probleme einer
Industriegesellschaft wie der unsrigen. Eine Entscheidung wird nicht
dadurch besser und demokratischer, indem sie nicht durch das gewählte
Parlament, sondern vom Bürger direkt getroffen wird. Man kann nicht
einfach mit Ja oder Nein etwa über den Aufbau der neuen Bundesländer
abstimmen. Und Volksentscheide über Einzelfragen fügen sich nicht in
eine abgestimmte politische Gesamtkonzeption. Zudem fiele der in einer
Demokratie notwendige Kompromiss nahezu aus. Der politische
Entscheidungsprozess würde emotionalisiert. Demagogen hätten leichtes
Spiel, wenn es zum Beispiel um die Todesstrafe geht. Bestimmte Bereiche
müssten vom Plebiszit generell ausgenommen werden. Wer würde schon für
Steuererhöhungen stimmen, wenn er selbst davon betroffen wäre?
Die plebiszitären Erfahrungen in den Ländern und Gemeinden sind nicht
auf den Bund übertragbar. Weil deren Verhältnisse weniger komplex sind.
Werden plebiszitäre Möglichkeiten dort erst einmal genutzt, stehen meist
Interessenverbände oder politische Parteien dahinter. Plebiszite können
gar ein Weniger an Demokratie bedeuten, wenn nämlich die Beteiligung der
Bevölkerung an einem Volksentscheid gering ist und so letztlich
Minderheiten entscheiden.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben deshalb ganz bewusst auf
den Volksentscheid verzichtet und dadurch die politische Stabilität
unseres Staates gefestigt.
(aus:
focus, 12/1993,
S.44)
Franz Möller
(1930-2018), 1976 bis 1994 für die CDU im Bundestag, Vertreter der CDU/CSU-Fraktion
in der Verfassungskommission zur Neugestaltung des GG nach der deutschen
Einheit)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
24.09.2023
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