Das •
reine
Verhältniswahlrecht in der •Weimarer Republik
gehört zu den • Belastungsfaktoren, die
von der • formalen
Verfassungsordnung der •
Weimarer Reichsverfassung von 1919
ausgegangen sind.
In •
Artikel
22 der • Weimarer Reichsverfassung
(WRV) wird die Verhältniswahl für die Wahlen zum Reichstag
festgeschrieben, die Einzelheiten der Durchführung im »Reichswahlgesetz
von 1920.
Die
Parteienzersplitterung, welche die reine Verhältniswahl, erzeugte,
wird auch aus dem nebenstehenden
Stimmzettel zur Reichstagswahl 1928 ersichtlich. Sie hat die
Regierungsbildung und die Stabilität der Reichsregierungen nicht gerade
gefördert.
Die Meinungen der Historiker darüber, welche Bedeutung dem
Verhältniswahlrecht letzten
Endes für das Scheitern der Weimarer Republik zukommt, gehen allerdings durchaus
auseinander, wenngleich ein gemeinsamer Grundtenor ist, die Bedeutung
des Wahlsystems im Vergleich zu anderen Faktoren nicht zu hoch
anzusetzen.
So tut man nicht gut daran, die Rolle der Splitterparteien in der
Weimarer Republik zu überschätzen, zumal "die Funktionsfähigkeit des
parlamentarischen Systems von Weimar (...) weniger durch das
Vorhandensein einiger kleiner Fraktionen beeinträchtigt (wurde), als
vielmehr durch die Koalitionsprobleme zwischen den größeren Parteien"
(Kolb 1984, S.166-169).
Das Wahlsystem, so meint es wohl die Mehrzahl
der Historiker, stellt " allenfalls ein Symptom, nicht aber die Ursache
des Gebrechens dar, dass die Parteien vor der Übernahme politischer
Gesamtverantwortung zurückschreckten." (Mommsen
1989/1998, S.86)
Aber gegen diese Einschätzung melden sich
inzwischen auch andere zu Wort. So betont
Megerle (1994, S.76) ausdrücklich den Beitrag zur "Fragmentierung der
politischen Kultur", den das zur Parteienzersplitterung im Weimarer
Parteiensystem "ganz entscheidend" betragende Verhältniswahlrecht
gefördert habe: "Auch wenn viele der kleinen und kleinsten Parteien oft
nur bei einer Wahl oder in einem Wahlkreis kandidierten und dann wieder
verschwanden oder sich neu gruppierten [...], entstand der Eindruck
einer partikularistischen Deformierung des politischen Willensbildungs-
und Entscheidungsprozesses. Andererseits jedoch konservierte das
Verhältniswahlrecht vor allem die sozial-moralische Fragmentierung:
Zumindest für die größeren Teilkulturen bestand absolute Gewissheit,
ihre Repräsentanten auch ohne politische Absprachen mit anderen
Gruppierungen in den Reichstag entsenden zu können; die bestehenden
Milieu- oder spezielle Interessenparteien bildeten hierbei die
politische Organisationsform. [...] Die enge Milieubindung verhinderte
die soziale und programmatische Öffnung der Parteien gegenüber anderen
politischen Teilkulturen und damit die Herausbildung moderner
Volksparteien ebenso wie den Ausgleich der unterschiedlichen
gesellschaftlichen und politischen Interessen. Durch die einseitige
Ausrichtung auf ihre jeweilige Klientel waren die Parteien nämlich
weitgehend unfähig zum Kompromiss, was angesichts einer fehlenden
dominanten politischen Kultur in der Weimarer Republik zur
Systemintegration jedoch unabdingbar gewesen wäre."
Ob ein
»Mehrheitswahlsystem
oder ein Verhältniswahlsystem mit Sperrklausel tatsächlich zu einer
Stabilisierung der verfassungstreuen Parteien geführt hätten, sich
moderne Volksparteien entwickelt und "das Emporkommen extremer
Parteien in der Wirtschaftskrise verhindert" hätten (Boldt 1987, S.61)
ist allerdings zweifelhaft und die Überwindung der "Fragmentierung der
politischen Kultur" eine umfangreiche und langwierige Angelegenheit.
Die Wahlentscheidungen der Wählerinnen und Wähler sind jedenfalls im
Prinzip kaum und in jedem Fall nicht direkt vom Wahlsystem abhängig.
Allerdings lässt sich wohl kaum ernsthaft widerlegen, dass das
Wahlsystem "antirepublikanischen Splittergruppen, die sonst aus Mangel
an Aufmerksamkeit möglicherweise zugrunde gegangen wären, eine
parlamentarische Vertretung (ermöglichte)".
(Craig,
Geschichte Europas 1815-1980, 1989, S.444)
Ob das Wahlsystem nach den
Erfahrungen des Kaiserreichs und der Novemberrevolution auf die
"ängstliche Rücksichtnahme auf die Souveränität des Volkes" (ebd.)
zurückgeführt werden kann, lässt sich vermuten. Zumindest sah die
Sozialdemokratie die Einführung der Verhältniswahl für eine der
Errungenschaften der Novemberrevolution und damit als unverzichtbaren
Bestandteil der Demokratie. Überlegungen, das Wahlrecht in Richtung
einer Mehrheitswahl zu ändern, kamen für die SPD aufgrund ihres
Demokratieverständnisses überhaupt nicht in Frage.
In jedem Fall
"(entsprach) das Proportionalwahlrecht (...) der herrschenden
Mentalität, die das Parlament als Spiegelbild der pluralistischen
Interessen der Gesellschaft begriff und dessen Aufgabe nicht primär in
der Regierungsbildung, sondern im Ausgleich gesellschaftlicher
Interessen in der Gesetzgebung erblickte." (Mommsen
(1989/1998), S.86)
Im Übrigen kann ein vergleichender Blick auf andere Länder und
Staaten Europas nicht schaden, in denen das Verhältniswahlrecht
keineswegs jene Auswirkungen hatte, wie in der Weimarer Republik.
Und
auch die Tatsache, dass man in der Bundesrepublik Deutschland nach der
nationalsozialistischen Diktatur am Verhältniswahlrecht festhielt,
wenngleich das Wahlsystem nicht in der Verfassung verankert ist, zeigt,
dass man den grundlegenden Vorteil der Verhältnis- gegenüber der
Mehrheitswahl, nämlich mit seinem Proporzsystem den in der Stimmenanzahl
für bestimmte Parteien ausgedrückten Wählerwillen in Abgeordnetensitze
unmittelbar umzurechnen, auch weiterhin wertschätzte.
Bis zum Einzug der
Grünen 1983 in den Bundestag schuf es - auch als Ergebnis der 5 %Sperrklausel - ein stabiles
•
Zweieinhalb-Parteiensystem, ohne je die Gefahr einer
Parteienzersplitterung hervorzurufen. (•
Abriss der Geschichte des
Parteiensystems in Deutschland)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.09.2023