A
Resolution über die weltpolitische Lage
I
Der Zusammenbruch des
deutschen Imperialismus kennzeichnet den Bankrott der deutschen
Weltpolitik seit 1890.
Die deutsche Weltpolitik
war der Ausdruck der inneren ökonomischen und politischen Struktur
Deutschlands, wie sie sich nach der Niederwerfung der deutschen
Revolution von 1848 und der Schaffung des Deutschen Reiches als
Bundesstaat der deutschen Fürsten durch preußische Bajonette
konsolidiert hatte. Die Grundlage der deutschen Reaktion war die Allianz
zwischen Fürsten und Junkertum mit dem Finanzkapital, die in den
Hochschutzzöllen und der Schlagkraft des deutschen Militarismus das
Element verbindenden gemeinsamen Interesses fand.
Die Zertrümmerung des
deutschen Imperialismus hat die deutsche Verfassung und die deutsche
Wirtschaftsorganisation aufs tiefste erschüttert und schafft dadurch
eine revolutionäre Situation, die alle Probleme neu entrollt, die die
deutsche Bourgeoisie in der Revolution von 1848 nicht zu lösen fähig
war.
II
Der Sieg der Entente bedeutet den Sieg des anglo-amerikanischen
Weltkapitalismus. Indem Wilson die Völkerbundsidee zum Mittelpunkt
seines Friedensprogramms macht, verlangt er die Einordnung des deutschen
nationalen Kapitals in das weltkapitalistische System der Entente. Der
"Völkerbund" ist die Organisation der Herrschaft der Weltbourgeoisie zum
Zwecke der "gerechten" Verteilung des Weltprofits.
III
In dieser weltpolitischen Situation ist in die Hände des deutschen
Proletariats die Entscheidung darüber gelegt, ob die proletarische
Revolution, die in Russland ihren Anfang nahm, durch die Machtentfaltung
der Weltbourgeoisie erdrosselt werden soll. Seine Stellung kann deshalb
nicht zweifelhaft sein: Das deutsche Proletariat proklamiert unter
Anknüpfung an das revolutionäre Programm der kommunistischen Partei von
1848 die deutsche sozialistische Republik, die mit der russischen
Sowjetrepublik solidarisch ist, zur Entfesselung des Kampfes des
Proletariats der Welt gegen die Bourgeoisie der Welt - der
proletarischen Diktatur gegen den kapitalistischen Völkerbund.
B Aufruf an
die Bevölkerung
Wir sind in die letzte
Periode des Krieges eingetreten. Nach 50 Monaten zeigt sich sein Werk
so, wie es nach unserer Auffassung sein musste: Auf der einen Seite die
Masse derjenigen, die diese lange Zeit in den Schützengräben vertierten,
Leib und Leben, ihr Blut und ihre Gesundheit opferten, um das
"Vaterland" zu verteidigen, dieweil der Krieg selbst das wenige, was sie
vom Vaterlande hatten, ihre Familien, ihre wirtschaftliche Existenz
vernichtete; auf der anderen Seite die Schar derer, die zu Hause in
Behaglichkeit sitzen, die Konjunktur des Krieges ausnutzen, um den
Proletariern an der Front und deren Klassengenossen zu Hause in
Kriegslieferungen, mit Lebensmittelwucher das Geld aus der Tasche zu
stehlen.
Dieses Resultat des
Krieges hat in allen Ländern der Welt nicht nur die objektiven
Grundlagen der Revolution verstärkt, sondern den Zeitpunkt des
unmittelbaren Beginnens der Revolution herangeführt.
Für Deutschland kommt ein
Besonderes hinzu.
Dieser Krieg, mit der
frechsten Lüge der Weltgeschichte - der vom schmählichen Überfall -
begonnen, stellt endlich, nach vierjähriger Häufung von Lüge auf Lüge,
das deutsche Proletariat vor die nackte Tatsache, dass Deutschlands
Imperialismus politisch und militärisch vernichtend geschlagen ist.
Das Übermaß dieses
Leidens und der schimpfliche Missbrauch mit der Gutgläubigkeit der
Proletarier hat aber in Deutschland bereits über den Zeitpunkt des
Beginns revolutionärer Kämpfe hinausgeführt.
Sie haben in der Armee
begonnen. Massenweise Desertionen, unzählige Scharen von Urlaubern, die
mit großer Verspätung oder überhaupt nicht an die Front zurückkehren,
bataillons- und divisionsweises Überlaufen beweisen, dass die Soldaten
begonnen haben, ihr Joch abzuwerfen, dass die Armee, das wichtigste
Werkzeug der Reaktion, zerbricht.
Diese erste Regung der
Revolution findet aber schon die Konterrevolution auf ihrem Posten. Mit
der Einräumung scheinbarer Rechte sucht sie, da die Gewaltmittel
versagen, die Bewegung einzudämmen. Parlamentarisierung und preußisches
Wahlrecht sollen das Proletariat geneigt machen, weiter zu dulden und
so, wenn schon der Raubzug nach außen missglückt ist, der Bourgeoisie
die Früchte des Diebstahls am eigenen Volke sichern und die schwankenden
Throne Wilhelms II. und der übrigen souveränen Herren Deutschlands
stützen.
In diesem Bestreben haben sie
die freundliche Unterstützung jener Sozialisten gefunden, deren Geschäft
es seit dem 4. August 1914 ist, das Vertrauen, das sie aus
Friedenszeiten her in den Volksmassen besaßen, der Junker- und
Kapitalistenbande zur Verfügung zu stellen, damit sie um so unbesorgter
das Volk belügen und bestehlen können. Sie, die am 4. August 1914
erklärten, das sie das "Vaterland" - will heißen das Vaterland der
Kapitalisten und Junker - gegenüber dem äußeren Feinde nicht im Stich
lassen, lassen es auch gegenüber dem Andrängen der Proletariermassen
nicht im Stich. In der Person Scheidemanns und Bauers haben sie ihre
Agenten in die Regierung entsandt, um dort unter Führung des Prinzen Max
von Baden den Fürsten ihren Thron und den Kapitalisten ihre
Kassenschränke zu retten.
Darüber hinaus aber und
gemeinsam mit ihren Klassengenossen in den "feindlichen" Ländern, die ja
in einer ähnlichen Gefahr sich befinden, versuchen die deutschen
Kapitalisten und Junker ein neues Lügengewebe um das Proletariat zu
stricken. Sie, die Wilhelm II., Poincaré, Lloyd George, Wilson und alle
anderen kleineren Götter, die vier Jahre lang ihre Völker abschlachten
ließen, verwandeln sich auf einmal in die Hohenpriester eines
'Völkerbundes. Der Sinn der Heuchelei ist klar: Geschwächt an Kapital
und Kanonenfutter, wie die imperialistischen Staaten aus diesem Kriege
hervorgehen, sind sie auf eine Reihe von Jahren nicht imstande, Kriege
zu führen, und haben nur eines zu fürchten: dass der Proletarier selbst
den Willen zeige, mit eigener Tat die Quelle künftiger Kriege zu
verstopfen. Um diesen Willen und diese Energie einzuschläfern, erfindet
man den "Völkerbund", in dem sich in Wirklichkeit nur die Mörder dieses
Krieges verbinden und der nichts anderes ist als die Heilige Allianz von
vor hundert Jahren, in der sich gleichfalls die Monarchen verbanden, um
den Frieden zu sichern mit dem Erfolge, dass das 19. Jahrhundert mit
Blut getränkt war wie keines zuvor.
In Anbetracht dieser Lage
überhaupt und in Deutschland im besonderen ergeben sich für das deutsche
Proletariat folgende Aufgaben:
Nachdem die Soldaten an der
Front unter soviel schwierigen Umständen - dem Druck der Kriegsjahre -
den revolutionären Kampf begonnen haben, ist es Pflicht der Massen zu
Hause, den Brüdern an der Front nicht nur nicht in den Rücken zu fallen,
sondern mit aller Macht den Kampf zu unterstützen und aufzunehmen. Es
hat dies um so mehr zu geschehen, als es von den parlamentarischen
Vertretern der Arbeiterschaft, nach deren Haltung gegenüber dem
Matrosenstreik im vorigen Jahre und nach deren Haltung in der jetzigen
Situation, in der sie für Parlamentarismus, Völkerbund und preußisches
Wahlrecht schwärmen und sich so zu - wenn auch unfreiwilligen -Förderern
der Reaktion machen, nichts zu erwarten hat.
Unbekümmert um Gesetze und
Verordnungen der kommandierenden Generale muss das Proletariat mit allen
Mitteln verlangen:
-
Unverzügliche
Freilassung all derer, die für die Sache des Proletariats in den
Gefängnissen und Zuchthäusern, sei es in Schutzhaft oder in
Strafhaft, schmachten; Befreiung aller Soldaten, die wegen
militärischer und politischer Verbrechen verurteilt sind; Entlassung
aller Soldaten, die aus politischen Gründen eingezogen sind oder im
Heer zurückgehalten werden; Aufhebung aller Beschränkungen, die aus
politischen Gründen über Soldaten verhängt wurden.
-
Sofortige Aufhebung
des Belagerungszustandes.
-
Sofortige Aufhebung
des Hilfsdienstgesetzes.
Darüber hinaus hat das
Proletariat zu fordern:
-
Annullierung
sämtlicher Kriegsanleihen ohne jede Entschädigung.
-
Enteignung des
gesamten Bankkapitals, der Bergwerke und Hütten, wesentliche
Verkürzung der Arbeitszeit, Festsetzung von Mindestlöhnen.
-
Enteignung alles
Groß- und Mittelgrundbesitzes, Übergabe der Leitung der Produktion
an Delegierte der Landarbeiter und Kleinbauern.
-
Durchgreifende
Umgestaltung des Heerwesens, nämlich:
-
Verleihung des
Vereins- und Versammlungsrechtes an die Soldaten in dienstlichen
und außerdienstlichen Angelegenheiten.
-
Aufhebung des
Disziplinarstrafrechtes der Vorgesetzten; die Disziplin wird
durch Soldatendelegierte aufrechterhalten.
-
Aufhebung der
Kriegsgerichte.
-
Entfernung von
Vorgesetzten auf Mehrheitsbeschluss der ihnen Untergebenen hin.
-
Abschaffung der
Todes- und Zuchthausstrafe für politische und militärische Vergehen.
-
Übergabe der
Lebensmittelverteilung an Vertrauensleute der Arbeiter.
-
Abschaffung der
Einzelstaaten und Dynastien.
Proletarier, die
Erreichung dieser Ziele bedeutet noch nicht die Erreichung eures Zieles,
sie sind der Prüfstein dafür, ob die Demokratisierung, die die
herrschenden Klassen und deren Agenten euch vorflunkern, echt ist. Der
Kampf um die wirkliche Demokratisierung geht nicht um Parlament,
Wahlrecht oder Abgeordnetenminister und anderen Schwindel; er gilt den
realen Grundlagen aller Feinde des Volkes: Besitz an Grund und Boden und
Kapital, Herrschaft über die bewaffnete Macht und über die Justiz.
Das alte Gebäude der
Kapitalistenherrschaft ist morsch geworden.
Proletarier! Nach 50
Monaten des Leidens ist jetzt eure Stunde gekommen. Zeigt euch ihrer
würdig! Seht auf eure Brüder in Russland! Seht auf eure Brüder an der
Front!
Den Frieden und mit ihm
das Brot, das euch die Besitzenden nicht geben können, müsst ihr selbst
jetzt holen; für euch, für eure Kinder, für eure Brüder auf der ganzen
Welt!
Es lebe die soziale
Revolution!
Es lebe der Frieden der
Völker!
Nieder die Regierung!
Tod dem Kapitalismus!
Die Gruppe Internationale (Spartakus-Gruppe)
Die Linksradikalen
Deutschlands
(aus: Welt-Revolution (Moskau), Nr. 55 vom 24. Oktober 1918.
(in: Berthold, L. und Diehl, E. (Hrg.): Revolutionäre deutsche
Parteiprogramme, Berlin 1967, S. 101 - 106, zit. n.
Marxistische Bibliothek, 10.07.07)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.09.2023