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Die Entwicklung sozial konstruierter Scham in der frühen Neuzeit und im Barock

Nacktheit auf dem Rückzug

 
GESCHICHTE
Grundbegriffe der Geschichte Europäische Geschichte Frühe Neuzeit (1350-1789) Zeitalter der Renaissance (ca.1350-1450) Zeitalter der Entdeckungen (1415-1531) Reformation und Glaubenskriege (1517-1648) Absolutismus und Aufklärung (ca. 1650-1789) Entstehung des frühmodernen Territorialstaats im Absolutismus Didaktische und methodische Aspekte Überblick Ausgangspunkt: Vielfalt sozialer Gruppen mit zahlreichen Sonderrechten und Lebensformen Schlüsselmonopole staatlicher Herrschaft Sozialdisziplinierung als Mittel der Staatsentwicklung Überblick Aspekte der Sozialdisziplinierung (Oestreich/Schulze)Sexualstrafrecht in der frühen Neuzeit [ Die Entwicklung sozial konstruierter Scham in der frühen Neuzeit und im Barock Überblick Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen Nacktheit auf dem Rückzug  Das höfische Ankleideritual des Fürsten (Lever) Die höfische Form der Erotik im Barock ] Die Rolle der territorialen Konfessionskirchen Beginn des bürgerlichen Zeitalters ▪ Deutsche Geschichte
 

Ehebruch
Vorehelicher  und außerehelicher Geschlechtsverkehr

 ▪ Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen
Das höfische Ankleideritual des Fürsten (Lever)
Die höfische Form der Erotik im Barock
(Literaturgeschichte:) Die höfische Form der Erotik im Barock
▪ teachSam-Projekt: Sex und Sexualisierung

»Badstuben-Museum Wangen im Allgäu
»Ougenweide: Im Badehaus (1976) (Lyrics, YouTube)
»irregang: Im Badehaus (Lyrics, YouTube)

Im Mittelalter, in dem in der Malerei zwar jede körperliche Blöße verhüllt und vermieden wurde, wusste man "doch in anderen Bereichen [...] »nackte Tatsachen« durchaus zu schätzen." (Bologne 2001, S.2)

Nacktheit jedenfalls war bis ins Spätmittelalter hinein wenig tabuisiert, auch wenn die Kirche Nacktheit und Schamlosigkeit immer wieder zur "Sünde" erklärte und auch die Lust als "sündhaft" geißelte. (vgl. Scheuch 2004, S.13.f.)

Für die meisten Menschen dieser Zeit aber war der Anblick nackter Menschen nichts Besonderes und dementsprechend nicht peinlich.

In vielen Haushalten schlief man, bis die Pestwellen dem ein Ende bereiteten, nackt gemeinsam mit der ganzen Hausgemeinschaft in einem Bett.

In öffentlichen »Badehäusern als Einrichtungen der Körperpflege, Orten zur Behandlung von Krankheiten und sich einfach zu treffen, deren Zahl ab dem im 17. Jahrhundert aber aus verschiedenen Gründen rückläufig war, hatten beide Geschlechter offenbar wenig Hemmungen sich zu entblößen, soweit man dies auch aus zeitgenössischen Darstellungen schließen kann.

Kinder mussten wohl nicht eigens sexuell aufgeklärt werden, weil die Erwachsenen selbst die Mauern um nackte Körper und sexuelle Handlungen noch nicht so hochgezogen hatten, dass sie zu einer "dichte(n) Mauer der Heimlichkeit um den Heranwachsenden" (Elias 1997, Bd. 1, S.342) wurden, die selbst das Sprechen über Sexualität jenseits das Triebhafte sublimierender Formen auch dann noch beträchtlich erschwerte, als dieses Thema längst ausschließlich in den familiären Bereich abgedrängt war.

Aber auch dort zog ja im Laufe der Geschichte das obligatorische Nachthemd ein, das die Kinder wohl nur dann zu sehen bekamen, wenn einer der beiden Eltern einmal das für die Kinder zu einer Art Tabuzone erklärten separaten Elternschlafzimmer in diesem Aufzug verließ, das ansonsten "die angeblich schmutzigen Vorgänge vor den reinen Kinderblicken" (Heimgartner 2004) fernhalten sollte.

Nacktbaden im städtischen Badehaus

Das öffentliche »Badehaus war im Mittelalter und zu Beginn der frühen Neuzeit ein Ort für die Körperpflege und zur Behandlung von Krankheiten. Diese nahm der Bader vor, der seinen Kundinnen und Kunden die Haare schnitt und die Bärte schor, sie zur Ader ließ und  schröpfte. Aber auch kleiner medizinische Eingriffe gehörten zu seiner Handwerkskunst: So öffnete er Abszesse, befreite Läusen und sonstigen Parasiten und zog, wenn nötig, auch schmerzende Zähne. In Einzelfällen nahm er auch Amputationen ganzer Gliedmaßen vor. Dort, wo die Pest oder andere Seuchen wüteten, wurde er oftmals auch dazu verpflichtet, als sogenannter »Pestarzt Kontakt zu den Infizierten zu halten und sie mit seinen natürlich ganz und gar unwirksamen Methoden zu behandeln.

Neben ihrer Bedeutung für die Körperpflege und die Gesundheit der Menschen gehörten Badehäuser auch als beliebte gesellschaftliche Treffpunkte zur Alltagskultur in Städten.

Ihre Vorläufer waren die in den römischen Thermen vorhandenen Schwitzbäder, die an verschiedenen Orten im Mittelalter noch in Betrieb waren.

Die Badehäuser die angesichts der Funktionen, die sie im Alltagsleben einnahmen, durchaus von öffentlichem Interesse waren, waren der Kirche und städtischen Behörden oft ein Dorn im Auge. Die Tatsache, dass der Badebetrieb darin durchaus auch nicht nach Geschlechtern getrennt war, war in ihren Augen nicht nur ein Affront gegen Sitte und Moral, sondern auch ein Verhalten, das den Fortbestand des Gemeinwesens beeinträchtigte.

Das lag auch daran, dass Badehäuser oft, wohl nicht ganz zu Unrecht, einen schlechten Ruf hatten. Sie trugen, wie auch das Bad schlechthin, "den Stempel der Erotik" (Duby 1999, S.346). Jedenfalls scheint ihr Besuch so "riskant gewesen gewesen zu sein", dass "mancher eifersüchtige Ehemann (...) in seiner Privatwohnung ein Dampfbad einbauen (ließ)." (ebd.) Das kam auch ihren Frauen entgegen, die ohnehin in der Regel ihre Toilette unbeobachtet" im stillen Kämmerlein" verrichten wollten.

Wo es ging, versuchten die städtischen Obrigkeiten unter dem Beifall der Kirche, zumindest die Trennung der Geschlechter wieder durchzusetzen. Schon 1295 stand das Badehaus Männern und Frauen nur an unterschiedlichen Wochentagen offen. Wer sich darüber hinwegsetzte, dem wurden die abgelegten Kleider weggenommen und er musste "nackt oder auch nur im Hemd heimkehren", was "schlimmer (war) als eine Geldbuße." Bologne 2001, S.18f.).In anderen Orten wurde eine räumliche Trennung vorgenommen.

Trotz alledem, die Badehäuser wurden mehr und mehr auch ein Ort, an dem sich Verliebte und nicht verheiratete Liebende verabredeten und sich "Augenblicke der Intimität" (Duby 1999, S.347) erschleichen konnten.

So kam es offenbar auch immer wieder dazu, dass auch Badehausbetreiber in der Tatsache, unverheiratete Paare "gemeinsam in die gleichen Wannen" (Naphy 2003, S. 76) zu lassen, kein Problem sahen, selbst wenn die Behörden dies eigentlich untersagten. Auch wenn sie, wie im Rahmen einer Gerichtsverhandlung zu diesem Thema in Genf 1558 einräumten, "dass die Dinge kompliziert werden könnten, wenn ein Paar bade und jemand hinzukäme", gaben sie doch an, das Ganze nicht für unziemlich zu halten, "da das »Paar« eine Einheit bilde und daher nichts Schlimmes passieren würde". (ebd.) Eine Argumentation, denen sich die Behörden allerdings nicht anschließen wollten.

Auch wenn das Nacktbaden vor allem in den Städten protestantischer Länder schon seit der Renaissance vielerorts eingeschränkt wurde (Bologne 2001, S.33), war Nacktbaden  in vielen europäischen Ländern in Seen und Flüssen für die einfache Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert hinein durchaus noch üblich.

Was den Unmut der Obrigkeiten auslöste, war aber weniger die Tatsache, dass sich Männer und Frauen im Adams- und Evakostüm zeigten, sondern die allseits beklagte Sittenlosigkeit, die darin herrschte und die Prostitution, die in vielen dieser Badehäuser praktiziert wurde. Verheiratete Frauen waren darin angesichts der geltenden christlichen und gesellschaftlichen Normen in der städtischen Gesellschaft aber wohl eher die Ausnahme, Ausdruck einer Doppelmoral, die den Männern die freizügige Begegnung mit anderen unverheirateten Frauen aber ermöglichte. Einen Kleiderzwang für Badegäste gab es jedenfalls nicht.

Diese Klagen beziehen sich aber sicher nur auf einen Teil der Badehäuser und Dampfbäder, denn "das gemischte Bad bedeutete nicht von vornherein Sittenverfall" (ebd., S.30) und wer dahin ging, gab sich noch lange nicht der "Unzucht" hin, auch wenn die "Ruhebetten in vielsagender Nähe zu den Badezubern" standen. (ebd.)

Dass im Zuge der weiteren Entwicklung immer mehr Badehäuser geschlossen wurden, lag nicht nur an den städtischen Sittenwächtern. Viele wurden einfach unrentabel, weil das Holz sich verteuerte. Zudem änderten sich auch Gewohnheiten: Statt ins Badehaus zur Körperpflege zu gehen, ging man zur Leibwäsche über, die mit einem weitaus geringeren Aufwand durchgeführt werden konnte.

Die Schließung der meisten Badehäuser bis Ende des 16. Jahrhunderts wurde vor allem dadurch beschleunigt, dass durch die seit dem 16. Jahrhundert belegten epidemisch verbreiteten Geschlechtskrankheiten (z. B. »Syphilis) die neue Schamhaftigkeit wegen des Seuchenschutzes noch juristisch flankiert wurde.

Dass die Badehäuser, wo sich die Menschen in großer räumlicher Nähe lokale Treiber von Seuchen waren, war jedenfalls auch den Zeitgenossen klar, selbst wenn sie keine genauen Vorstellungen über die Übertragung bestimmter Krankheiten besaßen und sich oft vehement dagegen gewehrt haben.

So wurde die »Syphilis, eine Geschlechtskrankheit, die immer wieder grassierte, nicht durch "unzüchtige" Handlungen der Badegäste, sondern durch das von den Badern ausgeführte »Schröpfen verbreitet, das besonders beliebt war.

Dabei wurde den Badegästen beim beliebten »blutigen Schröpfen, einer Form des »Blutenlassens nach alter Tradition, z. B. mit einer »Blutlanzette der Rücken aufgekratzt, dann das Schröpfglas mit Unterdruck aufgesetzt. Dieser sorgte dann dafür sorgte, dass das Blut stärker aus diesen verletzten Hautpartien herausfloss. (vgl. ebd.)

Nacktbaden in Seen und Flüssen 

Neben dem Nacktbaden in den Badehäusern gingen die Menschen aber auch draußen zum Baden und taten dies im Allgemeinen nackt. Im Meer, an Seen oder Flüssen, über all entledigten sich Menschen ihrer Kleidung offenbar ohne jede Scham, um, selbst im Besein zahlreicher Schaulistiger, zu baden.

Mit der Renaissance kommt es im Zuge immer weiter verbreitenden Maßnahmen zur Regulierung und Disziplinierung des Verhaltens der Menschen im Allgemeinen und im Bereich der Sexualität im Besonderen, aber immer mehr zu Verboten des Nacktbadens in der Öffentlichkeit. In Paris duldete man im 16. Jahrhundert zwar noch eine Weile, wenn Männer am Seine-Ufer nackt ins Wasser stiegen, während nacktbadende Frauen, die, wie ein Zeitgenosse monierte, mit ihrem Anblick »ein Feuer bei den Zuschauern« entzündeten, das zur »Promiskuität führe, schon früher auf Anordnung der Obrigkeit verfolgt werden. (vgl. ebd.)

Im Gegensatz zu den lange geduldeten Badehäusern wurde das wilde Nacktbaden also in vielen Regionen untersagt. Wer erwischt wurde, wo es untersagt war, musste mit empfindlichen Strafen rechnen, die sicher auch eine abschreckende Wirkung entfalteten.

So mussten 1541 acht Personen, die beim Nacktbaden im Main erwischt worden waren, für vier Wochen ins Gefängnis bei Wasser und Brot. (ebd.) Im Visier der Verfolger waren dabei meistens nacktbadende Frauen, weil ihr Anblick bei den männlichen Zuschauern "ein Feuer entzünde(te)", wie ein sich darüber seitenlang monierender Zeitgenosse nicht verhehlen konnte. (ebd., S.34)

Nacktbaden im privaten Umfeld

Im privaten Umfeld bewahrt sich das Nacktbaden jedoch noch längere Zeit "den geselligen Charakter aus der Zeit des Mittelalters" (ebd., S.40)

Das Motiv einer Dame, die beim Baden überrascht wird, wie es in der Bildenden Kunst seit dem 16. Jahrhundert immer wieder vorkommt, ist insofern wohl weniger als "Vorwand zur Darstellung einer schönen Frau als Akt" (ebd.) zu sehen, sondern entspricht durchaus den gesellschaftlichen Umgangsformen der Zeit, die zuließen, dass eine Dame ihre Besucher im Bad empfangen durfte, ohne damit gegen Sitte und Anstand zu verstoßen. (vgl. ebd.)

Allerdings blieb Nacktbaden auf die Dauer "nicht länger unschuldig" (ebd., S.35) und vor allem Könige und Fürsten und deren Gefolge zogen sich - Ausdruck der "Verhöflichung der Oberschicht" (Elias) - ehe sie ins Wasser stiegen, geschützt hinter den Büschen vor den Blicken, dazu nach Geschlechtern getrennt, ein Hemd über, eine Gewohnheit im Übrigen, die sich lange Zeit gehalten hat.

Und nicht übersehen werden darf auch, dass es stets eine ▪ geschlechtsspezifische Seite der Scham gab, auch im gesellschaftlichen Umgang mit Nacktheit sichtbar wurde.

So galt in dieser männlich dominierten Welt denn auch Keuschheit vor allem für Frauen "als eine höchste Tugend [...] und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom Laster sprach, [...] dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben »fleischlicher Gelüste« (Willems 2012, Bd. I, S.51), das Frauen ohnehin nicht, jedenfalls nicht in selbstbestimmter Weise, zugebilligt wurde.

Ehebruch
Vorehelicher  und außerehelicher Geschlechtsverkehr

 ▪ Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen
Das höfische Ankleideritual des Fürsten (Lever)
Die höfische Form der Erotik im Barock
(Literaturgeschichte:) Die höfische Form der Erotik im Barock
▪ teachSam-Projekt: Sex und Sexualisierung

»Badstuben-Museum Wangen im Allgäu
»Ougenweide: Im Badehaus (1976) (Lyrics, YouTube)
»irregang: Im Badehaus (Lyrics, YouTube)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 30.01.2024

 
 

 
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