Das Verhältnis von
Liebe
und Erotik ist stets eine Geschichte von »Keuschheit,
»Scham,
Schuld und »Prüderie.
Stets sind sie soziale Konstrukte der jeweils herrschenden Gefühlskultur ihrer Zeit.
Aus diesem Grund unterliegen sie auch in besonders ausgeprägter Weise dem
fortwährenden sozialen Wandel. So kann man auch mit
gewissem Recht sagen, dass "nichts den Ablauf der Zeit anschaulicher
(macht) als der Wandel jener Übereinkunft hinsichtlich des Gebotenen
oder Erlaubten" (Greiner
22014, S.19)
Scham und Schamgefühl werden als komplexe Begriffe wegen ihrer begrifflichen Reichweite in
unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen mit unterschiedlichen Bedeutungen
versehen. Grundlegend ist aber wohl die
Unterscheidung zwischen der körperlichen, sexuellen Scham, die als
eine "Gefühlsscham" (Bologne
2001, S.2) bezeichnet werden kann, und der "grundlegende(n)
Veranlagung des Menschen, ein Gefühl der Scham zu empfinden." (ebd.)
Dabei lassen sich noch weitergehende Differenzierungen vornehmen.
Bei der »Körperscham
geht es dabei vor allem um die gesellschaftlich, vorwiegend von
religiösen Vorgaben normierte »Nacktheit
im privaten und im öffentlichen Bereich.
Irgendwie scheint es in allen Epochen der Geschichte "ein gewisses
Gleichgewicht zwischen exzessiver Freizügigkeit und exzessiver
Prüderie" (Bologne
2001, S.2) gegeben zu haben. In der Renaissance und im 19.
Jahrhundert zeigt man sich gegenüber Darstellungen von Nacktheit in
der Kunst sehr freizügig, "während man sich im Alltagsleben in das
Korsett übertriebener Schamhaftigkeit zwängt." (ebd.
Die Regulierung und
Sanktionierung des Sexuellen und seine offene Kriminalisierung ist
vor allem die Folge von Reformation und Gegenreformation und der von
Kirche und neuem Fürstenstaat betriebenen ▪
Sozialdisziplinierung, die auch
darauf beruhte, dass "der Sexualtrieb, wie viele andere Triebe,
einer immer strengeren Regelung und Umformung unterworfen" wurde
(Elias.
1997, Bd. 1, S.342).
Dabei hat die
sexuelle Repression natürlich auch lange vor der frühen Neuzeit eine
Geschichte. Schon im frühen Christentum forderten Mönche dazu auf,
in sexueller Enthaltsamkeit zölibatär zu leben, aber erst nach dem »Konzil
von Trient (1563) konnte der schon 400 Jahre zuvor auf dem
»Zweiten
Laterankonzil (1139) für
höhere geistliche Würdenträger und Priester geforderte Zölibat
durchgesetzt werden.
Auch in der
Renaissance warnte die Kirche ständig vor den Folgen der Wollust und
predigte das Ideal der sexuellen Enthaltsamkeit für beide
Geschlechter, vor allem jedoch für Frauen. Allerdings standen die
Warnungen und Forderungen der Kirche das oft auch in einem klaren
Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität.
Vor Ort
nämlich beschränkten sich die maßgeblichen Instanzen lange darauf,
"ein stillschweigendes Gleichgewicht zu etablieren" (Muchembled
2008, S.39), das darauf gründete, "dass alle Gemeindemitglieder
ein wachsames Auge auf übermäßige Ausschweifungen" hatten:
"Illegitime körperliche Beziehungen, außerhalb des ehelichen
Alkovens oder ohne Zustimmung der männlichen Verwandten eines
verführten Mädchens, verlangen grundsätzlich nach Blutrache, aber
die Sexualität erweist sich dennoch als recht freizügig und
zahlreiche Bastarde wurden gezeugt, auch wenn es weniger zügellos
zugeht als bei Königen und Höflingen."
Schon in der
sogenannten "Peinlichen Gerichtsordnung" des »Heiligen
Römischen Reiches, der »Constitutio
Criminalis Carolina« (kurz: Carolina),
einem Gesetzeswerk, das 1532 auf dem Reichstag von Regensburg
verabschiedet wurde, lassen sich die Einflüsse christlicher
Moralvorstellungen und des christlichen Sexualrechts erkennen, auch
wenn ansonsten das römische Recht auch in diesem Bereich noch
überwog. (vgl.
Eder 2002,
S.54)
Was in der Carolina
als Sexualdelikte angesehen wurde, hatte mit den Bereichen sexuellen
Handelns zu tun, die nach Ansicht ihrer Verfasser, eine Gefahr für
die christliche Ehe, die Fortpflanzung und die männliche Autorität
und Ehre darstellen konnten. Dementsprechend stellte sie diese unter
einen besonderen Schutz, während sie zugleich "die »heißen« Themen
vorehelicher Geschlechtsverkehr und Prostitution [...] schon allein
wegen der großen Differenz zwischen dem Recht und der sozio-sexuellen Praxis" (ebd. 2002,
S.54) außen vor ließ und nicht sanktionierte.
Hochgehalten wurden
allerdings die Rechtsprinzipien der Blutsverwandtschaft, der
Jungfräulichkeit und die Vorstellung einer "natürlichen" sexuellen
Ordnung und einer ebenso "natürlichen" sexuellen Praxis, die im Zuge
der Zeit und der weiteren Sozialdisziplinierung (Oestreich) und dem
fortschreitenden, aber keineswegs geradlinig verlaufenden
Zivilisationsprozesses (Elias) mit Gesetzen und
Policey-Ordnungen von oben durchgesetzt und von den Menschen
internalisiert wurden.
Mehr und mehr wurde damit das, was Kirchen
und der entstehende Fürstenstaat bei der Schaffung des neuen
Untertanenverbands wollten, damit auch in Vorstellungen von »Keuschheit,
»Scham,
Schuld und »Prüderie
"übersetzt" und wurden als soziale Konstrukte Ausdruck der jeweils
herrschenden Gefühlskultur ihrer Zeit und der damit verbundenen
sozialen Kontrolle.
Was die Carolina zu
den strafbaren Delikten zählte: "Unkeuschheit wider die Natur,
Blutschande, gewaltsame Entführung, Notzucht, Ehebruch, zweifache
Ehe, Kuppelei und die «Straff der jhenen so jre eheweiber oder
kinder durch böses genieß willen williglich zu vnkeuschen wercken
verkauffen» (Art. 122)",(ebd. 2002,
S.55) dazu noch Kindsmord oder Kindesweglegung, hielten sich
so nicht nur in den Gesetzeswerken bis ins 18. Jahrhundert, sondern
verankerten sich auch im moralischen Bewusstsein der Menschen.
Insgesamt diente
die Regulierung und
Sanktionierung des Sexuellen, in das der frühmoderne Staat immer stärker
mit seinem ▪ Sexualstrafrecht und
Polizeiverordnungen eingriff, zur Stabilisierung der kirchlichen und
weltlichen Herrschaft und der Sozial- und
Geschlechterhierarchien, auf denen sie beruhten.
Sie führten in der
frühen Neuzeit zum ▪ Vorrücken
der Scham- und Peinlichkeitsschwellen, zwangen die ▪
Nacktheit zum Rückzug,
konstruierten die Scham mehr und mehr sozial im Dienste der
entstehenden Staatlichkeit ( z. B. ▪
Lever des Fürsten) und
entwickelte im Rahmen
"mit der beschleunigten Verhöflichung
der Oberschicht" (Elias
1939/1976.,
Bd. 2, S.415)" die ▪
höfische Form der Erotik im Barock, die auf einer besonderen
Spannung zwischen Gebotenem und Erlaubten beruhte.
In der ▪
Literaturepoche Barock (1600-1720) wurde das Erotische in
der Kunst und Literatur dazu in einer auf die Kultivierung
sexuellen Verlangens hin orientierten Art und Wiese ▪
lizenziert.
Scham hat und hatte
schon immer eine geschlechtspezifische Seite. Sie ging zu Lasten
von Frauen, deren Sexualität mit
religiös-moralischen Verboten in besonderem Maße unterdrückt werden
sollte.
Über die sexuelle
Unterdrückung Frauen, so der Kern religiösen Überzeugungen, ließe
sich das sexuelle Verhalten insgesamt in moralisch vertretbarer
Weise kanalisieren und Ehe und Familie stärken. Daher versuchten die
Kirchen mit verschiedenen
Maßnahmen der sogenannten »Kirchenzucht
eine strengere Sexual- und Ehemoral durchzusetzen, die in der
sozialen und sozio-sexuellen Praxis "unzüchtiges" Verhalten von
Frauen stets stärker gewichtete als das der Männer.
Vorstellungen und
Wertungen weiblicher Sexualität orientierten sich bis ins 16.
Jahrhundert hinein am
biblischen Sündenfall mit Eva als sündiger
Verführerin. Daraus entwickelte sich eine geradezu "obsessive Angst
vor der weiblichen Sexualität" (Bologne
2001, S.6)
Das geht soweit, dass sich im 16. Jahrhundert "selbst
die Mediziner darin einig (sind), das sexuelle Verlangen als ein
eher weibliches Phänomen zu definieren. Der Mann brauche den Koitus
nicht zur Erhaltung seiner Gesundheit, behauptet Bailly. Wenn dagegen
eine Frau keinen Umgang mit dem Mann habe, so müsse sie mit
ernsthaften Beschwerden reichen. " (Bologne
2001, S.6) Auch in der Sinnlichkeit ganz und gar zugewandten
Renaissance bleibt die weibliche Keuschheit eine hohe Tugend, ja
der Philosoph und Humanist »Michel
de Montaigne (1533-1592) verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass die Erregung
der Männer nachlasse, wenn sie eine Frau nackt zu Gesicht bekämen. (vgl.
ebd.)
So galt in dieser männlich dominierten Welt denn auch Keuschheit vor
allem für Frauen "als eine höchste Tugend [...] und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom
Laster
sprach, [...] dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben
»fleischlicher Gelüste« (Willems
2012, Bd. I, S.51), das Frauen ohnehin nicht, jedenfalls nicht
in selbstbestimmter Weise, zugebilligt wurde.
▪
Ehebruch
▪
Vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr
▪ Vorrücken
der Scham- und Peinlichkeitsschwellen
▪ Nacktheit auf dem Rückzug
▪
Das höfische Ankleideritual
des Fürsten
(Lever)
▪
Die höfische Form
der Erotik im Barock
▪
(Literaturgeschichte:) Die höfische Form der Erotik im Barock
▪ teachSam-Projekt: Sex und Sexualisierung
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.01.2024