Die christlichen Moraltheologen
beließen es nicht dabei, die großen religiösen und moralischen
Schranken
aufzuzeigen, innerhalb der das mehr oder weniger sündige
sexuelle Tun der Gläubigen sich zu vollziehen hatte. Um ihre
Vorstellungen von Moral und Sitte durchzusetzen, aber auch um ihren
Gläubigen in ganz konkreten Fragen über ihre sexuellen Praktiken
moralische Hilfestellung geben zu können, befassten sie sich mit den kleinsten Details
sexueller Praktiken.
So
wurden auch nur
bestimmte Sexualpraktiken legitimiert. Der Beischlaf durfte nur in
der sogenannten "Missionarsstellung"
vollzogen werden und war während der Schwangerschaft der Frau, an
den zahlreichen christlichen Feiertagen und während der österlichen
und vorweihnachtlichen Fastenzeit gänzlich untersagt. Zur Begründung
für die ausschließliche Legitimierung dieser Stellung beim
Geschlechtsverkehr wird Unterschiedliches vorgebracht.
Eine davon aber ist, dass auf diese Weise der Samen verlorengehe und
damit quasi eine Abtreibung zustande komme. Dass sich zwischen
solchen Auffassungen und den sexuellen Praktiken der Menschen
indessen Welten auftun konnten, zeigt die »Schule
der Mädchen
(L'Ecole de Filles1661) das wohl populärste und einflussreichste
erotische Buch seiner Zeit. Es wurde von der ansonsen ziemlich
unerbittlichen Zensur zur Zeit »Ludwigs
XIV. (1638-1715) trotz seiner freizügigen Darstellung
weitgehend verschont und stellte aus einer männlicher
Sicht
bis ins Detail gehenden Beschreibungen des Geschlechtsaktes in
allerlei unterschiedliche Stellungen und unterschiedlichste sexuelle
Praktiken dar, die der sexuellen Unterweisung und "Aufklärung" der
Protagonistin Fanchon, eines jungen, unberührten Mädchens, dienen
sollten. Dass das Buch trotz der ansonsten strengen Zensur und
Verfolgung zu seiner Entstehungszeit mehrere Auflagen erlebte, lag
wohl auch daran, dass ihr Verleger und Buchhändler Protektion aus
hochadeligen Kreisen erhalten hat (Muchembled
2008, S.143). In den nächsten zweihundert Jahren wurde das Werk
allerdings überall, wo es erschien, immer wieder verboten, wenn es
auch weiterhin unter der Hand zirkulierte und "von Kennern in
intellektuellen und weltoffenen Kreise geschätzt" (ebd , S.144)
worden ist.
Auf die sozio-sexuelle Praxis der Menschen
dürfte also, das verdeutlicht wohl auch die Rezeptionsgeschichte
der Schule der Mädchen, die bis ins Detail gehenden Vorgaben
der christlichen Sexualmoral, von den zutiefst gottesfürchtigen
Menschen einmal
abgesehen, wohl wenig Einfluss gehabt haben,
Die meisten Eheleute ließen sich wohl kaum in dieser Weise in ihre tatsächlich
praktizierte Sexualität hineinreden und dies selbst dann
nicht, wenn sie sie auf andere Art und Weise, u. U. auch mit einem
schlechten Gewissen, erlebten, wenn schon nicht wirklich auslebten.
Wie weit sie tatsächlich, wie in manchen Beichtspiegeln des 16. und 17. Jahrhunderts
verlangt, bei der Beichte genau und detailliert Auskünfte über ihr
eheliches Sexualleben gaben, um sich von "Sünden" auf diesem
Gebiet durch die vom Priester erteilte Absolution freisprechen
lassen zu können, ist von daher nicht sicher zu sagen. (vgl. u. a.
Gestrich 2003,
S.514)
Bei der Einmischung
der christlichen Kirchenlehrer in das
Sexualleben der Gläubigen spielte neben ihrem Anspruch, sich
zumindest intellektuell mit allen Facetten von Sexualität
auszukennen und die Christianisierung des Ehelebens voranzubringen,
wohl noch anderes mit. Anzunehmen ist nämlich, dass sie den
Priestern im Beichtstuhl z. B. Antworten auf Fragen im Zusammenhang
mit der praktizierten Sexualität wollten, denen diese sich in ihrer
täglichen seelsorgerischen Praxis gegenüber sahen. Die Beichtväter
waren dort gewiss mit vielen solcher Fragen konfrontiert, die sich
u. a. deshalb bei ihren Gläubigen zu echten Gewissensfragen
entwickelten, weil "Mann und Frau im Bett nicht frei von Scham
voreinander waren" und sich "– zumindest in bestimmten Kreisen –
nicht ohne Hemmungen dorthin (begaben)." (Flandrin
1992,
S.159) Inwieweit sich das, was der Beichtvater und seine Kirche in solchen Fällen
zur Buße und zur künftigen Besserung einforderte, wirklich in den sozio-sexuellen Praktiken der
Menschen dieser Zeit niederschlug, lässt sich allerdings bis heute nur schwer
beantworten.
Feststeht aber, dass die Ehepartner der damaligen Zeit
"im ehelichen Bett nicht allein (waren) – der Schatten des
Beichtvaters wachte über ihrem Treiben." (ebd.)
Wie er die gläubigen Sünder und Sünderinnen im Beichtstuhl darüber
befragte und was genau er wissen wollte, ging jedenfalls in die
Details, denn von ihnen hing schließlich auch das Maß der
auferlegten Buße ab.
Da kam zur Sprache,
wenn der Mann sich seiner Frau "wie einer Dirne", einer Geliebten
oder einer Mätresse gleich zur Befriedigung seiner "Fleischeslust"
näherte, wenn Männer "ihre Frauen in ihrem eigenen Bett tausend
Geilheiten, tausend Schlüpfrigkeiten, tausend neue Stellungen,
Wendungen, Arten" (»Pierre
de Bourdeille, seigneur de Brantôme (1540-1614), zit. n.
ebd.,
S.161) lehrten. Zugleich aber, und das ist ja eine "christliche
Erfindung" (ebd.,
S.162), ging die christliche Sexualmoral mit ihrer Definition
gegenseitiger ehelicher Pflichten (debitum) von der "Gleichheit
zwischen Mann und Frau auf dem Gebiet der Sexualität" aus, "die in
der westlichen Welt den traditionell gültigen Vorstellungen
widersprach" (ebd.). Jeder der beiden, ob Mann oder Frau, "hatte, wie Paulus
sagt, das Verfügungsrecht über den Körper des anderen." (ebd.,
S.151).
Trotzdem drohte den Frauen in der Wirklichkeit wohl eher das
Schicksal sexueller Unterwerfung unter den Willen des Mannes. So
bleibt denn auch "zu fragen, welches Recht auf Lust sie bei diesem
Handel hatte, der auf ihre Neigungen wahrscheinlich wenig Rücksicht
nahm." (ebd.)
Für die Theologen war das eher ein theoretisches Problem, auf das
sie auch eine theoretische Antwort hatten: "man glaubte, die Lust
stelle sich bei der Frau wie beim Mann automatisch im Augenblick der
Ejakulation ein." (ebd.)
Dass sich daraus eine Kaskade von Fragen und Antworten ergab, wie z.
B. "ob es nötig war, dass die Frau beim Beischlaf zum Samenerguss
kam" (ebd.)
oder ob der sexuelle Verkehr so lange anzudauern hatte, bis dies
erreicht war und vieles mehr kann hier nur angedeutet werden. Solche kasuistischen Erörterungen
trugen neben anderen Faktoren wie auch zu der
"zunehmenden Angst vor den Abgründen des Unterleibs" (ebd.)
beitrugen, gehört zu den internalisierten Regeln, die diese
Sexualmoral zu einem Motor der Sozialdisziplinierung werden ließen.
Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an die Dämonisierung der weiblichen Sexualität in den
Hexenverbrennungen des 16. Jahrhunderts, die "das Stereotyp der
alten Frau vom Land, die sich zügellos dem Satan hingibt,
(verbreiteten) " (Muchembled
2008, S.111)
Dennoch: So einfach
es auch aussehen mag, die Durchsetzung der christlichen Sexualmoral
war keineswegs einfach. Erst als sich die kirchlichen Ziele in
diesem Bereich mit den Interessen der weltlichen Herrschaft zu
einer Art Win-win-Situation für beide verbanden und die christliche
Sexualmoral auch zum Instrument der Herrschaftsausdehnung und –stabilisierung
der Landesherren über die Untertanengesellschaft (▪
Sozialdisziplinierung) wurde,
wurde sie dominierend. Das hatte zur Folge, dass es im Zuge von Reformation und Gegenreformation
zu einer beträchtlichen Zunahme der sexuellen Repression kam, die
sich in strafrechtlichen Regelungen und Verordnungen des Staates
gegen die Unzucht, den ▪ Ehebruch,
▪ vorehelichen und außerehelichen
Geschlechtsverkehr u. a. m. zeigten.
Wer sich z. B. mit
pornografischen Gedichten an der Zensur vorbeischmuggelte und in der
Öffentlichkeit hervortat, dem konnte wie »Claude
le Petit (1638-1662) im Frankreich »Ludwigs
XIV. (1638-1715), dessen »Versailler
Hof wie auch die Pariser Gesellschaft "alles andere als ein
Reich der Prüderie" (ebd.,
S.146) waren, passieren, dass an ihm ihm wegen dieser
gotteslästerlichen "Beleidigung der göttlichen Majestät" ein
blutiges Exempel zur Abschreckung vollzogen wurde. Der gebildete
Advokat und Dichter, der als sogenannter Libertin "seinen
Freiheitsdurst und seine Jugend der fortschreitenden religiösen und
politischen Erstarrung nach der Machtübernahme Ludwigs XIV. im Jahr
1661 entgegen(setzte)" (ebd.,
S.147), war dabei vor allem deshalb in das Fadenkreuz der Justiz
geraten, weil seine pornografischen Texte über ihre moralische
Frivolität hinaus vor allem als eine Gefahr für die bestehende
Ordnung angesehen wurden, weil sie die Gehorsamkeitsprinzipien, auf
die die Mächtigen der Zeit ihre Macht gründeten, in Frage gestellt
wurden. Auch mit seinem ▪"Sonett
aufs Ficken" (Sonnet foutatif,1662) bzw. in anderer Übersetzung
"Verficktes Sonett" (Tadeusz Namowicz )spottete er eben nicht nur
über die Autoritäten, sondern macht sich über deren hehrste
Grundsätze lustig", die sich gerade anschickten, die Sexualität
soweit zu "verhöflichen", dass sie sich diskret und orientiert an
der christlichen Sexualmoral auch einer sublimierenden Sprache
bediente. Am 1. September 1662 wurde das Exempel an dem jungen
Libertin statuiert: Er wird, in Abmilderung des ursprünglichen
Urteils, wonach ihm eine öffentliche Ehrenbuße vor dem Hauptportal
der Kirche Notre Dame, danach das Abhacken der rechten Hand und
anschließend die Verbrennung bei lebendigem Leib auf der Place de
Grève drohte, stattdessen als Gnadenakt die »heimliche Erdrosselung
am Galgen" gewährt, ehe sein Leichnam den Flammen übergeben wurde.
(vgl. (ebd.,
S.147f.)