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Mainzer Republik 1792/1793
"Das auffälligste Merkmal der jakobinischen literarischen
Praxis ist die Bevorzugung solcher Genres, die den traditionellen, an
klassischen und romantischen Mustern ausgebildeten Literaturbegriff sprengen
[...].
Ein durchgängiger Zug der jakobinischen Literaturpraxis ist die
dialogische Struktur, die fast alle Genres prägt und ihre konsequenteste
Ausprägung in der Konstituierung des Dialogs als Gattung erfährt. Dabei kann
der Dialog zwischen Autor und Leser sich in sehr unterschiedlicher Weise
realisieren. Er kann sich im
Rezeptionsvorgang selbst herstellen, wobei sehr
häufig fiktive Briefe bzw. die immanente
appellative oder dialogische
Strukturierung von Texten als kommunikationsfördernde Mittel eingesetzt
werden, oder aber die erstrebte Kommunikation wird bereits im Medium der
Literatur idealtypisch vorgezeichnet, wie dies z. B. im literarischen
Dialog, im Rollenspiel oder im Katechismus der Fall ist.
Alle diese Möglichkeiten werden von den jakobinischen Autoren in ihrer
Agitation eingesetzt. Die jakobinischen Zeitschriften sind als
Kommunikationsformen zwischen Autor und Leser konzipiert. [...]
Politische Reden und Flugschriften stellen ebenfalls sehr direkte Versuche
dar, eine Verbindung mit dem Hörer bzw. dem Leser herzustellen. Über den
traditionellen rhetorischen Aufbau hinaus, der in sich schon dialogische
Elemente enthält, greifen die Jakobiner in Reden und Flugschriften in ganz
auffälliger Weise auf dialogische Strukturen zurück. Am deutlichsten ist die
dialogische Struktur im Katechismus, im Rollenspiel und im Kalender, wo sie
zum Gattungsmerkmal wird, während sie im jakobinischen Schauspiel sehr viel
vermittelter als dramatische Form auf dem Theater zum Ausdruck kommt. Die in
Briefen abgefassten Reiseberichte der deutschen Jakobiner schließlich
stellen eine Form der Kommunikation dar, in der durch die fiktive Briefform,
durch direkte Leseransprache usw. ein freundschaftliches Dialogverhältnis
mit dem Leser gleichsam simuliert wird.
Ein weiteres gemeinsames Strukturelement der jakobinischen Literaturpraxis
ist die satirische Form, die ähnlich wie die dialogische Form
entweder als Strukturelement oder aber als eigenständige literarische
Gattung von den jakobinischen Autoren in der Agitation eingesetzt wird.
Anders als der Dialog, mit dem sich die Jakobiner vor allem an die unteren
Bevölkerungsschichten wandten, richtete sich die Satire in erster Linie an
die gehobenen Schichten des Bürgertums, da sie einen Normenkonsens zwischen
Autor und Publikum voraussetzt, von dem aus der Gegenstand der Satire
verlacht werden kann. [...]
Ein drittes, ganz auffälliges Kennzeichen der jakobinischen Literaturpraxis
ist das Anknüpfen an liturgische Formen wie Predigt, Gebet und
Katechismus, die zumeist die einzigen literarischen Gattungen waren, die den
noch kaum alphabetisierten, auf Religion und Kirche fixierten Unterschichten
vertraut waren. [...] Ganz selten geschieht das Anknüpfen an die der
Bevölkerung vertrauten religiösen Formen in parodistischer Absicht, wie z.B.
bei den Vater-unser-Parodien. Zumeist wird die religiöse Form politisch
umfunktioniert und als Vehikel für die Vermittlung von revolutionären
Inhalten eingesetzt."
(aus:
Inge Stephan 1982, S.170, gekürzt)