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Mainzer Republik 1792/1793
"Aufklärung der Bevölkerung über ihre Rechte und Pflichten im
Medium der Literatur, ist die Antwort des jakobinischen Schriftstellers auf
die vorgefundene gesellschaftliche Situation. [...]
Anknüpfend an Funktionsbestimmungen der Literatur in der
Aufklärung und insbesondere in der Sturm-und-Drang-Poetik wiesen die
Jakobiner der Literatur folgende Aufgaben zu:
-
Ideologiekritik
Literatur sollte Kritik der bestehenden Verhältnisse und Entlarvung der
herrschenden Ideologie leisten.
-
Information und Aufklärung
Mit Hilfe von Literatur sollten der Bevölkerung gesellschaftspolitische
Kenntnisse und Einsichten in die Veränderbarkeit der Verhältnisse
vermittelt werden.
-
Bündnisbildung
Durch Literatur sollte die Kluft zwischen der kleinen Schar jakobinischer
Intellektueller, die sich als revolutionäre Avantgarde verstanden, und der
Masse der Bevölkerung, dem eigentlichen Träger der Revolution überwunden
werden.
-
Agitation
Die Literatur sollte nicht nur den Intellekt ansprechen, sondern auch die
Emotionalität der Leser anrühren. [...]
Die ästhetischen Kategorien, denen die Jakobiner ihre eigene
Literaturpraxis unterwarfen, waren nicht orientiert an einem abstrakten
Schönheitsbegriff, sondern entwickelt aus dem konkreten Vermittlungs- und
Wirkungszusammenhang von Literatur. [...] Verständlichkeit oder – wie es
Bürger vorher und Brecht nachher sagen – Volkstümlichkeit war die
übergeordnete ästhetische Kategorie, an der die Jakobiner ihre literarische
Produktion inhaltlich und formal ausrichteten. Volkstümlich konnte Literatur
jedoch nur sein, wenn sie sowohl von den Inhalten als von den literarischen
Mitteln her am Bewusstseins- und Kenntnisstand der Adressaten anknüpfte und
[...] wenn sie in der Klassenauseinandersetzung der Zeit den Standpunkt des
Volkes einnahm. Im Kontext der bürgerlichen Revolution konnte Parteinahme
des jakobinischen Autors [...] nur etwas Widersprüchliches bedeuten:
Orientierung an den Zielen der bürgerlichen Revolution, d.h. Engagement für
die Interessen der Bourgeoisie und zugleich Parteinahme für die
Unterschichten [...].
Volkstümlichkeit und Parteilichkeit waren die zentralen Kategorien, an denen
die Jakobiner ihre Literaturproduktion ausrichteten, eine weitere Kategorie
kommt noch hinzu, die des Realismus. [...] Die jakobinischen
Schriftsteller setzten mit ihrer realistischen, d. h. an den realen
Verhältnissen orientierten und auf die Veränderung der Gesellschaft
zielenden Schreibweise die Tradition der gesellschaftskritischen Literatur
des Sturm und Drang fort. Dabei knüpften sie an den konkreten Erfahrungen
der Adressaten an, um daran allgemeine gesellschaftliche Probleme und
Mechanismen zu verdeutlichen. [...]
Man würde den Literarischen Jakobinismus um eine wichtige Dimension
verkürzen, wenn man ihn ausschließlich sehen würde als Instrument einer
kleinen revolutionären Avantgarde, um die Ziele der bürgerlichen Revolution
in Deutschland durchzusetzen. Der Literarische Jakobinismus war nicht nur
eine Literatur für das Volk, sondern auch eine Literatur vom Volk,
d. h. Bevölkerungsschichten, die bis dahin noch kaum als Adressaten,
geschweige denn als Produzenten von Literatur in Erscheinung getreten waren,
begannen ihre Unzufriedenheit, ihre Wünsche und Forderungen selbst zu
artikulieren. Das Volk trat aus seiner passiven Rezipientenrolle heraus und
wurde in Ansätzen selbst zum Produzenten, wie z. B. die große Anzahl
anonymer Lyrik und Flugschriftenliteratur zeigt. "
(aus:
Inge Stephan 1982, S.168, gekürzt)