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Mainzer Republik 1792/1793
Besonderer Beliebtheit erfreuten sich die zum stimulierenden
Kampfgesang umgedichteten Trinklieder, wobei die weinselige Stimmung
offenbar die poetische Lizenz geben sollte für den Hass auf die
Feudalherrschaft und den revolutionären Enthusiasmus. Matthias Claudius‘
„Rheinweinlied“ wurde in Mainz mehrfach umgedichtet. Auch eine
konterrevolutionäre Parodie auf die revolutionäre Inanspruchnahme des Textes
ist überliefert. Das folgende "Freiheitslied" wurde nach Claudius "bekränzt
mit Laub den lebenvollen Becher" gesungen. Die ersten und letzten Strophen
lauten folgendermaßen:
"Umhängt mit Flor den umgestürzten Becher
Und trauert um ihn her;
Auf ganz Europia, ihr Herren Zecher,
Liegt Despotismus schwer.
Er kommt nicht aus der Schule wahrer Weisen,
Noch von den Göttern her;
Ihn mögen wohl die Bonzen preisen!
Wer glaubt den Bonzen mehr?
Vom Rhein, vom Rhein, da rufen edle Brüder:
Die Freiheit lebet noch!
Herab den Flor und füllt den Becher wieder:
Sie lebe lange hoch!
Und trinkt ihn aus, und lasset allerwegen
Der Freiheit Fahne wehn,
Und jauchzt den Franken brüderlich entgegen:
So muss, so wird es gehen!"
Die Umdichtung hält sich formal streng an die Vorlage. Darauf beruht ihre
Wirksamkeit. Die beim Rezipienten vorauszusetzende Kenntnis nicht nur der
Melodie, sondern auch des stereotypen Inhalts des alten Liedes wird zum
konstituierenden Bestandteil des neuen. Der bei Claudius im Bereich Idylle
und Behaglichkeit angesiedelte Leitbegriff "Wein" wird ersetzt durch den
politischen Symbolbegriff “Despotismus“. Die abrupten Symbolsetzungen ("der
Freiheit Fahne weht") erscheinen allzu lehrhaft. Doch setzt der Dichter der
Dichter bei einer derart politisierenden Kontrafraktur auf die Lust am
Wechselspiel der altvertrauten und der neuen Worte. Das lyrische Pathos und
das emotionale Engagement im Gesang stellen die Abstrakta in einen
besonderen Wirkungszusammenhang, der dem einer Ansprache oder lehrhaften
Flugschrift vergleichbar ist. Die "wir-Stimmung des Liedes, unterstützt von
seinem stimulierenden Sprachgestus, soll eine emotionale Verbundenheit
herstellen, durch die eine revolutionäre Gemeinsamkeit möglich wird.
Gegen diese von den Revolutionsgegnern als gefährlich erkannte
Emotionalisierung wendet sich die folgende Parodie des Revolutionsliedes:
"Umhängt mit Flor den umgestürzten Becher,
Und trauert um ihn her,
Beinah‘ ganz Europa, ihr Herren Zecher,
Plagt’s Freiheitsfieber sehr.
Wär’s gutartig und aus reiner Quelle;
Woher sonst diese Wut?
Das Toben, Hängen und Laternenpfähle,
Und dieser Durst nach Blut?
Das Übel kommt von ganz verderbten Säften
Und vom verbrannten Hirn;
Fischweiber sprechen jetzt von Staatsgeschäften
Mit unverschämter Stirn."
Die Übernahme der Trauerstimmung zeigt an, dass der drohende Umsturz der
alten Ordnung in Deutschland als reale Gefahr begriffen wird. Gegen die
Bedrohung setzt der Schreiber eine Strategie der Diffamierung, die in den
antirevolutionären Schriften immer wieder begegnet. Zu dieser Methode gehört
es, den Gegner für krank oder gar wahnsinnig zu erklären ("Freiheitsfieber",
"verderbte Säfte", "verbranntes Hirn") und, wie schon in der Französischen
Revolution, die Katastrophe zu beschwören, die absehbar ist, wenn das
Gemeinwohl dem politisierenden Fischweib anvertraut wird.
(aus:
Klaus R. Scherpe 1982, S.195)