Jan-Marie Peters
Die Struktur der Filmsprache (1962)Die ersten Streifen der
Filmgeschichte haben noch keine eigentliche Filmsprache entwickelt.
Solange ein Film nur aus einer Aufnahme besteht - die freilich
einige Minuten andauern kann - , zeigt er noch keinen
Sprachcharakter im eigentlichen Sinne, abgesehen von der […]
Tatsache, dass die Vorführung dieser Aufnahme eine Mitteilung
ist. Diese ersten Filme enthielten eine Menge von Mitteilungen, aber
es waren noch keine Mitteilungen in Filmsprache. Die Filmbilder
waren lediglich
Abbildungen von Mitteilungen in anderen Medien. Die Hersteller
der Filme beschränkten sich auf die Dokumentation von Äußerungen in
auch außerhalb des Films verwendeten Sprachen. Wie das Morsesystem
keine selbständige Sprache darstellt, sondern nur eine Codierung der
Wortsprache, so ist auch eine auf Zelluloid fixierte Mitteilung in
Wort- und Gebärdensprache immer noch Wort- oder Gebärden-, aber
keine Filmsprache. Das gilt bis in die Gegenwart. In den meisten
heutigen Filmen ist noch immer ein großer Teil der Mitteilungen des
Filmregisseurs nicht in der Filmsprache formuliert. Monologe oder
Dialoge, Kommentar, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und -bewegung,
das Auftreten und Benehmen der Schauspieler, Kostüme, Dekor, Musik
und allerlei Objekte mit konventionell-symbolischer Bedeutung sind
neben der Filmsprache die Träger der Mitteilungen des Regisseurs.
Aber wenige Jahre nach der Erfindung des Films wird auch die
Montage
von ein oder mehr Aufnahmen erfunden - und damit beginnt die eigene
Sprache des Films. Denn: sobald in der Zusammenfügung von zwei oder
mehr Bildern etwas zum Ausdruck kommt, was in den einzelnen Bildern
nicht enthalten ist, "spricht" der Filmregisseur (oder derjenige,
der für die Montage verantwortlich ist) durch die Form der
Bildkombination. Man beschränkte sich anfangs auf die
allereinfachsten Formen filmischer "Satzbildung" wie die Aufeinander
folge, die Ursache und Wirkung-, Subjekt-, Objekt-, Ganzes- und
Teile-Relationen. Der Kontext musste jeweils entscheiden, von
welcher Art die Beziehung zwischen den Bildinhalten war. Erst später
- bei
Griffith1 und den
Regisseuren der russischen Avantgarde - entwickelte sich die
Subtilität des filmischen "Satzbaues".
Vorläufig genügten die einfachen Montageverfahren für die Wiedergabe
eines Geschehens, das sich nicht an einem festen Ort
abspielte und das man nicht in einer Aufnahme festlegen
konnte. Griffith und seine Nachfolger gehen einen Schritt weiter:
denn sie wollen etwas erzählen. Im Gegensatz zur Wiedergabe
oder Registratur eines Geschehens setzt eine Erzählung die
Darstellung von Zusammenhängen voraus, über die das Geschehen selbst
keine Auskunft gibt. In einer Erzählung müssen ferner die
wichtigsten Stellen des Geschehens und die Ordnung der Teile betont
werden. Die Abwechslung von Totalen mit Großaufnahmen, die
"Découpage"2 einer
Szene, um die darin wiedergegebene Handlung durch eine andere zu
unterbrechen, und die Anwendung filmischer Interpunktionsmittel -
wie die Überblendung - ergeben allmählich eine Reihe völlig neuer
Formen filmischer Mitteilungen.
Bevor sich in der Montage, also im filmischen "Satzbau", eine
größere Subtilität entwickelte, hat es schon viele Möglichkeiten
gegeben, um den Ausdruck mittels der Bildkomposition zu
verfeinern. Unter "Bildkomposition" verstehen wir hier die Anordnung
aller Details innerhalb des vom Bildrahmen begrenzten Sichtbaren,
also die Gruppierung von Menschen und Dingen in Ruhe oder Bewegung,
die Verteilung von Licht und dunkel (und später von Farben), der
Verlauf der Bewegungen der Objekte im Bilde, die Wirkung der
waagrechten, senkrechten und in die Tiefe gehenden Linien und -
später - das Verhältnis der visuellen zu den auditiven
Bildkomponenten. Zur Bildkomposition gehört die Zeitdauer des
Bildes, die Schärfe, Unschärfe oder Deformation des Sichtbaren durch
das Objektiv, die Einrahmung des Sichtbaren durch spezielle "Masken"
und die dadurch ermöglichte Spaltung des Bildes in zwei Bildhälften.
Es versteht sich, dass andere Künste den Filmregisseuren hierbei
zunächst als Vorbild gedient haben. Gruppierung von Personen und
Objekten im Bildraum zum Beispiel ist eine Mitteilungsweise, deren
sich auch der Theaterregisseur und der naturalistische Maler
bedienten und bedienen. Stellt man eine Person in den Vordergrund,
eine andere in den Mittel- und eine dritte in den Hintergrund, so
gibt man damit im Allgemeinen zu erkennen, dass die erste Person in
dieser Szene eine besonders wichtige Rolle spielt.
Sicher ist die Bewegung von Menschen und Dingen im Bild das
wichtigste bildkompositorische Mitteilungsmittel des Films, wenn es
auch schwierig ist, mit Worten zu sagen, was der Sinn einer
bestimmten Bewegung ist. Das Näher kommen eines Objekts kann drohend
wirken, das Sichentfernen entspannend. Eine langsame Bewegung einer
Person wird manchmal als erregend, manchmal als befreiend erfahren.
Auch dieses Mittel ist nicht rein filmisch. Die Tanzkunst und das
Theater haben die Sprache der Bewegung schon in frühesten Zeiten
entwickelt. Das Filmbild jedoch kann Bewegungen auffallender und
damit wirksamer machen. Im Grunde hat jede Bewegung einen Sinn; jede
Bewegung "sagt" dem Zuschauer etwas. Aber es ist nicht leicht,
diesen Sinn eindeutig zu interpretieren, denn die Sprache der
Bewegung ist eine Gefühlssprache. Emotionelle Bedeutungen aber
lassen sich immer nur schwer übersetzen in die logischen Kategorien
der Wortsprache. Wir fühlen ihren Sinn, ohne ihm sprachlichen
Ausdruck verleihen zu können.
Wer sich in der Filmsprache auskennt, weiß, dass alle diese
Mitteilungsmöglichkeiten der Bildkomposition teilweise wieder
vernachlässigt wurden, als der Tonfilm seinen Einzug hielt. Auch
Töne können im Film selbständiges Kommunikationsmittel sein. Worte,
Musik, Naturgeräusche haben ihren eigenen Sinn, woran die Tatsache,
dass wir sie nicht in natura, sondern nur im Film hören, oft nichts
ändert. Vor allem das gesprochene Wort spielte in der ersten Periode
des Tonfilms eine beherrschende Rolle, und zwar auf Kosten der
filmischen Mitteilungsmittel. Sobald der Regisseur eine echt
filmische Mitteilungsweise anstrebt, muss er auch den Ton als
bildkompositorischen Faktor einsetzen - und als nicht mehr. Zum
Beispiel: entsprechende musikalische Untermalung einer Szene, in der
ein Ehepaar im Gespräch gezeigt wird, kann dem Zuschauer deutlich
machen, dass in den beiden Gesprächspartner etwas ganz anderes
vorgeht, als sie es mit ihren Worten sagen.
(aus:
Jan-Marie Peters (1962), S.195 -204, gekürzt) |
Inhaltliche Gliederung des Textes
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1
GRIFFITH, DAVID WARK; 1875-1948;
amerik. Regisseur; ca. 500 Filme; verwendet als einer der ersten
Regisseure wechselnde Einstellungen innerhalb einer Szene, wechselt das
Bildformat, verwendet Parallel-Montagen, sowie das Auf- und Abblenden;
WERKE u.a.: Geburt einer Nation ( Film, 1915); Gebrochene Blüten (Film,
1919), Ist das Leben nicht wunderschön? (Film, 1924);
2
Découpage = Drehbuch
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