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Bausteine zu Dramaturgie und Inszenierung

Mickey Sabbath inszeniert Tschechows "Der Kirschgarten"

Die Regiearbeit der Hauptfigur in Philip Roth' Roman Sabbaths Theater

 
FAChbereich Deutsch
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Mickey Sabbath, 64 Jahre alte Hauptfigur in dem Roman "Sabbaths Theater" des US-Schriftstellers »Philip Roth (1933-2018) steht vor den Trümmern des eigenen Lebens. Früher hat er als Puppenspieler mit seinem Fingerspiel die Zuschauer auf der Straße begeistert, aber wegen seiner fortschreitenden Arthrose verkümmern und verkrüppeln seine Finger. Als seine langjährige Geliebte an Krebs stirbt und er seine zweite Ehefrau, von der finanziell abhängig geworden ist, verlässt, will Sabbath eigentlich sterben. In dieser Phase seine Lebens zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei. Dabei durchlebt er eine tiefe Sinnkrise, die ihm auch die Erinnerungen an seine erotischen Erfolge bei Frauen auf der Basis einer promisken Sexualität nicht mehr erleichtern können, selbst wenn er sie sich bis ins Detail wieder in Erinnerung ruft. Als Sabbath nach Jahrzehnten wieder nach New York zurückkehrt, "irrt (er) durch eine ihm fremd gewordene Welt und eine Stadt, die er kaum wiedererkennt." (Volker Hage im Spiegel 32/1996)

In seiner Sinnkrise kommen dem "dirty old man" von 64 Jahren, den Sabbath als "Apostel der Unzucht" (Volker Hage) verkörpert, immer wieder Erinnerungen an seine erotischen Abenteuer und seine Ex-Frauen in Erinnerung. Die Krise, in der sich der ehemals als Puppenspieler tätige, inzwischen wegen seiner arthritischen Finger zur Untätigkeit gezwungene befindet, macht ihn, der sein Leben lang mit mit den Frauen zur Befriedigung seiner sexuellen Gelüste gespielt hat wie mit seinen Marionetten, wird, nachdem seine langjährige heimliche Geliebte Drenka an Krebs verstorben ist, nun selbst zum Spielball eines psychischen und sozialen Chaos, in das er sich selbst planmäßig hineinmanövriert hat. So treibt er auch "unentrinnbar und gnadenlos" "in einen Prozess der Selbstteilung" (S. 277), wie es im Roman unmittelbar vor der nachfolgenden Stelle heißt. Im Mittelpunkt stehen dabei Erinnerungen an seine erste Frau, die Schauspielerin Nikki Kantarakis, die einfach irgendwann verschwunden ist, und deren Verschwinden ihn auch dreißig Jahre danach, noch nicht zur Ruhe kommen lässt, zumal er sich manchmal sogar einbildet, sie umgebracht zu haben. In einer kleinen Kellerbühne inszeniert Sabbath mit ihr u. a. Tschechows Kirschgarten, eine in den Augen der Kritiker und des Publikums misslungene Regiearbeit. Als er sich, in seinem Spiel mit Selbstmord, einen eigenen Nachruf herbeifantasiert, sieht er sich darin den Anlagen von Mitarbeitern der Bowery-Kellerbühne gegenüber, die behaupten, "das Schwein Sabbath hat Nicki ermordet" und von seinem Umgang mit der jungen Frau bei der Theaterarbeit berichten, "Sabbath habe seine Frau bei den Proben gnadenlos tyrannisiert". (S.266) Wie dies zu verstehen ist, zeigt der nachfolgende Textauszug. Das Nacherleben seines Umgang mit Nikki bei der Probenarbeit zur Inszenierung von Tschechows Stück "Der Kirschgarten" mehr als dreißig Jahre danach treibt Sabbath "Selbstteilung" voran und führt in zur Erkenntnis, er selbst sei das (personifizierte) Chaos.

"Das Denken ging unabhängig von ihm weiter, Szenen zitterten sich selbst herbei [..] Während er mit einer verunstalteten Hand die Kaffeetasse nahm [...], fühlte er sich deutlich in die Proben zum Kirschgarten zurückversetzt. Da war Nikki. Der Eindruck, den sie in ihm hinterlassen hatte, konnte sich öffnen wie der Krater eines Vulkans, und das war nun schon dreißig Jahre her. Da ist Nikki, sie hört ihm zu, wie sie ihm früher zuhörte, selbst wenn es nur um geringfügigste Anweisungen ging. [...] »Oh, meine Kindheit. Das ist eine Frage. Du musst diesen weichen, fragenden Tonfall beibehalten. Dies melodiöse Stimme. Zu Trofimow: Damals waren Sie ganz und gar noch ein junger Mann und so weiter. Da ist auch ein süßer Reiz verlorengegangen. Verspielter, gebrochener - du musst ihn verzaubern! Dein Auftritt: lebhaft, aufgeregt, großmütig - eine Pariserin! Der französische Tanz. Ich kann nicht stillsitzen und so weiter. Du musst die Tasse viel früher wegstellen. Steh auf. Der französische Tanz mit Lopachin führt dich nach vorn, zur Bühnenrampe. Mach Lopachin ein Kompliment wegen seiner unerwarteten Tanzkünste. Du, Warja. Droht ihr mit dem Finger. Das ist scherzhafter Tadel. Dann neckisch, sie rasch auf die Wangen küssend: Du bist immer noch dieselbe. Die Zeile Ich begreife Sie überhaupt nicht - viel verwirrter. Nach im Enzyklopädischen Wörterbuch erwähnt musst du hörbar lachen. Vergiss das Lachen und die anderen Geräusche nicht - lass alles hören, was du willst, du kannst das so gut, die wahre Ranjewskaja! Und sei viel provozierender, auf die hänselnde Art, wenn Lopachin seine endlose Rede über den Verkauf des Kirschgartens hält - von daher bekommst du deine Größe. Für dich ist dieses geschäftliche Gerede bloß eine wunderbare Gelegenheit, einen neuen Mann zu umgarnen. Umgarne ihn! Er fordert dich doch schier dazu auf, wenn er sagt, dass er dich vom ersten Augenblick an geliebt hat. Als säusle drauflos. Lass es hören das verführerische Stöhnen. Das melodische Hmmmmm. Tschechow: 'Entscheidend ist es, das richtige Lächeln zu finden.' Nikki, unschuldig, schmachtend, falsch, echt, träge, eitel, alltäglich, bezaubernd wenn du nicht das richtige Lächeln findest, machst du das ganze Stück kaputt. Ihre Eitelkeit: du musst dein Gesicht pudern, ein bissschen Parfüm auftragen, dich sehr gerade halten, damit deine Schönheit zur Geltung kommt. Du bist eitel und du wirst langsam alt. Stell es dir vor: eine lasterhafte, lebenssatte Frau, und trotzdem so verletzlich und unschuldig wie Nikki. Die sind aus Paris. Mal sehen, wie locker du das hinbekommst - ich will dich lächeln sehen. [...] Furchtlos, Nikki, ohne zu erschrecken, rufst du aus: Da! Die Mutter geht im Kirschgarten! Während Lopachin völlig daruf verzichten kann, seinen trunksüchtigen Vater wieder unter den Lebenden zu sehen. Stell dir das Stück als ihren Traum vor, als Ljubas Traum von Paris. Sie lebt im Pariser Exil, armselig mit ihrem Liebhaber, und sie träumt. Mir träumte, sie kehr nach Hause zurück, und alles war noch wie früher. Mutter lebte. sie war da - sie erschien in Gestalt eines Kirschbaums vor dem Kinderzimmerfenster. Ich war wieder ein Kind, ein selbständiges Kind mit Namen Anja. Und mir wurde von einem idealistischen Studenten, der die Welt verändern wollte, der Gof gemacht. Gleichzeitig war ich aber auch ich selbst, eine Frau mit meiner ganzen Geschichte und Lopachin, der Sohn eine Leibeigenen, war auch schon erwachsen und warnte mich immer wieder, das Anwesen werde verkauft, wenn ich den Kirschgarten nicht abholzen lassen würde. Natürlich konnte ich den Kirschgarten nicht abholzen lassen, statt dessen gab ich eine Party. Doch mitten in den Tanz kam Lopachin hereingeplatzt, wir versuchten ihn, mit einem Prügel hinauszujagen, aber er verkündete, das Anwesen sei tatsächlich verkauft worden, und zwar an ihn, den Sohn eines Leibeigenen! Er trieb uns alle aus dem Haus und begann den Garten abzuholzen. Und dann bin ich aufgewacht. ... Nikki, wie lauten deine ersten Worte? Sag's mir. Das Kinderzimmer! Ja! Sie ist in ihr Kinderzimmer zurückgekehrt. Am einen Endpunkt das Kinderzimmer; am anderen Paris - das eine unmöglich wiederzuerlangen, das andere unmöglich zu bewältigen. Sie ist aus Russland geflohen, um den Folgen ihrer gescheiterten Ehe zu entgehen; sie flieht nach Paris, um die gescheiterte Liebesaffäre hinter sich zu lassen. Eine Frau auf der Flucht vor dem Chaos. Auf der Flucht vor dem Chaos, Nikoleta. Aber sie trägt das Chaos in sich - sie ist das Chaos!«
   Dabei war ich das Chaos. Ich bin das Chaos." (Philip Roth, Sabbaths Theater, Deutsch von Werner Schmitz, Reinbek b. Hamburg, 4. Aufl. 2002, S.277-281, leicht gekürzt)
 

»Anton Tschechow (1860-1904), »Der Kirschgarten, Komödie in vier Aufzügen (1903)

Erster Aufzug

Das »Kinderzimmer«, nach seiner einstmaligen Bestimmung noch immer so benannt. Eine der Türen führt nach Anjas Zimmer. Morgendämmerung, kurz vor Sonnenaufgang. Monat Mai, die Bäume blühen, im Garten ist es jedoch kühl, der Morgenwind weht. Die Fensterläden sind noch geschlossen, der junge Tag schimmert durch die Spalten. Dunjascha kommt mit einem Licht und Lopachin mit einem Buch in der Hand.

Lopachin. Der Zug ist da, Gott sei Dank! Wie spät ist's denn?

Dunjascha. Bald zwei. Löscht das Licht aus. Es ist schon hell draußen.

Lopachin. Wieder einmal Verspätung. Wenigstens um zwei Stunden. Gähnt und reckt die Glieder. Ich bin auch ein rechter Tölpel. Komme her, um sie auf dem Bahnhofe zu empfangen und verschlafe die Zeit. Im Sitzen bin ich eingeschlafen. Zu ärgerlich. Du hättest mich doch wecken sollen!

Dunjascha Öffnet die Fensterläden. Ich dachte, sie seien längst fort. Horcht. Da – ich glaube, sie kommen schon.

Lopachin horcht. Nein … Ehe sie das Gepäck besorgt haben, und dies und das, vergeht eine ganze Weile. Pause. Fünf Jahre hat sie nun im Auslande zugebracht, unsere Ljubow Andrejewna – ob sie sich sehr verändert hat? Eine prächtige Frau, so umgänglich, so einfach. Ich erinnere mich noch einer Geschichte aus meiner Jugendzeit, wie ich so fünfzehn Jahre alt war. Ich hatte von meinem Vater selig eine Ohrfeige bekommen, daß mir die Nase blutete  – war wohl nicht ganz nüchtern gewesen, mein Alter. Er hatte hier im Dorfe einen Kramladen, und wir waren geschäftlich auf dem Gutshofe. Na, kurz und gut, Ljubow Andrejewna, die damals noch ganz jung war, ganz schlank und schmächtig, nahm mich bei der Hand und führte mich hier in dieses Kinderzimmer, ans Waschbecken. »Weine nicht, kleiner Bauernjunge,« sagte sie, »bis du Hochzeit machst, ist's wieder gut.« Pause. Bauernjunge, ja … Mein Vater war ein Bauer, und ich trage eine weiße Weste und gelbe Schuhe. Eine Krähe, die sich mit fremden Federn schmückt … Geld hab ich wie Heu, aber wenn ich's recht bedenke, bin ich doch ein richtiger Bauer geblieben. Blättert in dem Buche. Da lese ich nun, lese und versteh' nichts … Eingeschlafen bin ich über dem Buche. Pause.

Dunjascha. Die Hunde haben die ganze Nacht gebellt – die witterten wohl, daß die Herrschaft kommt.

Lopachin. Was ist denn mit dir, Dunjascha?

Dunjascha. Meine Hände zittern so … ich glaube, ich fall' in Ohnmacht …

Lopachin. Hast dich schon gar zu sehr … kleidest dich wie ein Fräulein, und auch die Frisur … Das schickt sich nicht, man darf nie vergessen, wer man ist.

Epichodow tritt ein, mit einem Blumenstrauß, er trägt ein Jakett und blitzblanke hohe Stiefel, die beim Auftreten laut knarren; läßt beim Eintreten den Blumenstrauß fallen.

Epichodow. hebt den Blumenstrauß auf. Der Gärtner schickt das Bukett, nach dem Eßzimmer soll's kommen. Gibt den Strauß an Dunjascha.

Lopachin zu Dunjascha. Bring mir ein Glas Sauerbier mit.

Dunjascha. Sehr gern. Ab.

Epichodow. 's ist mächtig kalt draußen, drei Grad Frost! Und die Kirschen sind gerade in der Blüte! Kann mich nicht erwärmen für unser Klima. Seufzt. Nee doch! 's ist nicht viel los damit … Sagen Sie mal, bitte, Jermolaj Alexeïtsch, ich hab mir vorgestern ein Paar Stiefel gekauft, und die knarren so eklig – womit könnt' ich sie wohl einschmieren? Raten Sie mir!

Lopachin. Bleib mir vom Leibe mit deinem Geschwätz.

Epichodow. Jeden Tag muß mir auch was passieren. Aber ich mach' mir nichts draus, hab mich dran gewöhnt und lach' einfach drüber.

Dunjascha tritt ein und reicht Lopachin das Bier.

Epichodow. Ich geh' nun. Stößt an einen Stuhl an, der hinfällt. Da. … Triumphierend. Hab' ich's nicht gesagt? Einfach nicht zu glauben … Merkwürdig geradezu … entschuldigen Sie den harten Ausdruck! Ab.

Dunjascha. Ich kann's Ihnen ja sagen, Jermolaj Alexeïtsch: Epichodow hat mir einen Antrag gemacht …

Lopachin. Ah!

Dunjascha. Ja, und ich weiß nur nicht … er ist so weit ganz brav, aber er red't so komisches Zeug zusammen, daß man ihn manchmal gar nicht versteht. Sonst gefällt er mir ganz gut. Er liebt mich wahnsinnig. Ein Pechvogel ist er ja, jeden Tag passiert ihm was. Wir nennen ihn alle nur den Unglücksraben …

Lopachin horcht. Jetzt kommen sie, glaub' ich …

Dunjascha. Ja, jetzt kommen sie! Was ist nur mit mir? Ganz eiskalt bin ich …

Lopachin. Jetzt kommen sie wirklich. Wir wollen ihnen entgegengehen. Ob sie mich erkennt? Fünf Jahre haben wir uns nicht gesehen …

Dunjascha erregt. Ich fall' gleich hin – ach, ich falle!

Man hört zwei Kutschen vorfahren. Lopachin und Dunjascha rasch ab. Die Bühne bleibt einen Augenblick leer. Im anstoßenden Zimmer wird es laut. Der alte Lakai Firs, der seine Herrin vom Bahnhof abgeholt hat, humpelt in seiner altmodischen Livree, den hohen Hut auf dem Kopfe, hastig an einem Stock über die Bühne; er murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Hinter der Bühne wird es immer lauter. Man hört eine Stimme: »Hier durch, Herrschaften, hier durch!« Es erscheinen im Zimmer Ljubow Andrejewna, Anja und Scharlotta Iwanowna, die ein Hündchen an der Leine führt, alle drei im Reisekostüm. Dann Warja in Mantel und Kopftuch, Gajew, Ssimeonow-Pischtschik. Lopachin, Dunjascha mit Reisetasche und Schirm und andere Dienstboten; alle gehen durch das Kinderzimmer.

Anja. Wir wollen hier durchgehen. Weißt du noch, Mama, was für ein Zimmer das ist?

Ljubow Andrejewna in freudiger Rührung, unter Tränen. Das Kinderzimmer!

Warja. Wie kalt es ist, meine Hände sind ganz steif gefroren. Zu Ljubow Andrejewna. Ihre Zimmer, das weiße und das veilchenblaue, sind ganz unverändert geblieben.

Ljubow Andrejewna. Das Kinderzimmer, mein liebes, reizendes Zimmerchen … Hier hab' ich als kleines Mädchen geschlafen … Küßt ihren Bruder, dann Warja, dann wieder ihren Bruder. Und unsere Warja ist immer noch die Alte, wie eine Nonne. Auch Dunjascha hab ich erkannt … Küßt Dunjascha.

Gajew. Zwei Stunden Verspätung hat der Zug. Nette Zustände, wie?

Scharlotta zu Pischtschik. Mein Hündchen ißt sogar Nüsse.

Pischtschik erstaunt. Was Sie sagen!

Alle ab, außer Anja und Dunjascha.

Dunjascha. Wir haben gewartet und gewartet …

Nimmt Anja Mantel und Hut ab.

Anja. Vier Nächte war ich unterwegs, ohne Schlaf … Ganz erstarrt bin ich.

Dunjascha. Wie Sie damals wegfuhren, lag draußen Schnee, und so kalt war es! Mitten in der Fastenzeit war's. Und jetzt … Ach, mein liebes Fräulein! Lacht und küßt sie. Wie hab' ich mich nach Ihnen gesehnt, mein Herzblättchen, mein Augentrost … Ich hab' Ihnen was zu sagen … ein Geheimnis …

Anja müde Kann's mir schon denken!

Dunjascha. Der Buchhalter Epichodow hat mir zu Ostern einen Antrag gemacht.

Anja. Immer die alten Geschichten. Streicht ihr Haar glatt. Alle Haarnadeln hab' ich verloren. Sie schwankt vor Müdigkeit.

Dunjascha. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Er liebt mich so sehr, so sehr.

Anja blickt nach der Tür ihres Zimmerchens, weich. Mein Zimmer, meine Fenster! Als ob ich gar nicht weggewesen wäre! Ich bin zu Hause! Morgen früh steh' ich auf und lauf gleich in den Garten. Wenn ich nur einschlafen könnte! Ich war unterwegs in solcher Unruhe, nicht ein Auge konnt ich zumachen.

Dunjascha. Vorgestern ist auch Peter Ssergjeïtsch angekommen.

Anja freudig. Petja!

Dunjascha. Er hat sich im Badehaus eingerichtet und schläft dort auch. Er will nicht lästig fallen, sagt er. Sieht auf ihre Taschenuhr. Ich müßte ihn eigentlich wecken, aber Fräulein Warja meinte, ich solle ihn nur schlafen lassen.

Warja kommt herein, mit einem Schlüsselbund an der Seite. Dunjascha, Mama wünscht Kaffee … mach rasch!

Dunjascha. Sofort, sofort. Ab.

Warja. Nun, Gott sei Dank, mein Herzchen, da hätt' ich dich wieder. Liebkost Anja. Mein Schwesterchen! Es war wohl keine Kleinigkeit, die Mama wieder heimzubringen, wie?

Anja. Die reine Qual war es. Und diese Scharlotta – während der ganzen Fahrt hat sie geschwatzt und ihre Faxen gemacht. Warum du mir die eigentlich aufgepackt hast? …

Warja. Ich konnte dich doch nicht allein fahren lassen, Kind, mit deinen siebzehn Jahren!

Anja. Wir kommen in Paris an – eine Kälte. Der Schnee lag noch auf den Dächern. Mein Französisch hat mich natürlich im Stich gelassen. Mama wohnt oben im fünften Stockwerk, und wie ich hinkomme, sitzt sie da unter lauter Franzosen, ein paar Damen sind bei ihr und ein alter Pater mit einem Gebetbuch, und vollgequalmt hatten sie – ganz abscheulich! Sie tat mir auf einmal so leid, die arme Mama, so leid, und ich umarmte sie und konnte sie gar nicht loslassen. Sie wurde so weich, so zärtlich, und begann zu weinen …

Warja unter Tränen. Still, still, erzähl' nicht ...

Anja. Ihre Villa bei Mentone hatte sie schon verkauft, nichts ist ihr geblieben, nicht ein Pfennig. Auch ich bin ganz blank, kaum daß wir die Rückreise bezahlen konnten. Und dabei ist Mama ganz ahnungslos – wir sitzen auf dem Bahnhof und wollen etwas essen: natürlich bestellt sie gleich das Teuerste und gibt dem Kellner einen Rubel Trinkgeld. Auch Scharlotta wirft das Geld mit vollen Händen fort, und sogar Jascha läßt sich seine Portion geben – einfach schrecklich. Mama hält sich nämlich jetzt einen Lakaien, Jascha heißt er, wir haben ihn mit hergebracht  …

Warja. Ich habe den Halunken gesehen.

Anja. Nun, wie steht es hier? Sind die Zinsen bezahlt?

Warja. Bewahre!

Anja. Mein Gott, mein Gott!

Warja. Im August kommt das Gut unter den Hammer …

Lopachin sieht zur Tür herein, brummt etwas vor sich hin und zieht sich sogleich wieder zurück.

Warja unter Tränen, droht mit der Faust hinter Lopachin her. Ich könnte den Menschen prügeln ...

Anja umarmt Warja, leise. Wie steht's? Hat er sich dir erklärt? Warja schüttelt den Kopf. Er liebt dich doch – warum sprecht ihr euch nicht aus, worauf wartet ihr?

Warja Ich glaube nicht, daß aus der Sache was wird. Er hat nur das Geschäft im Kopfe und denkt gar nicht an mich. Mir soll's gleich sein. Ich will ihn überhaupt nicht mehr sehen. Alles schwatzt: Lopachin wird dich heiraten, alle gratulieren mir, und in Wirklichkeit liegt gar nichts vor, alles leere Einbildung. Mit veränderter Stimme. Was für eine Brosche hast du da? Was soll das sein? Eine Biene?

Anja traurig. Mama hat sie mir gekauft. Geht in ihr Zimmer. Mit kindlicher Fröhlichkeit. In Paris bin ich im Luftballon gefahren!

Warja. Nicht möglich … Vor allem hab ich' dich wieder – mein liebes, schönes Kind!

Dunjascha ist mit der Kaffeemaschine zurückgekehrt und bereitet den Kaffee.

Warja steht an der Tür. Ich geh' den ganzen Tag im Hause herum und simuliere: ob man nicht einen reichen Mann für dich suchen sollte? Dann wäre ich beruhigt und könnte ins Kloster gehen oder auf die Wallfahrt … Nach Kiew würde ich pilgern, nach Moskau … nach all den heiligen Orten … Das wäre herrlich, immer so zu wandern, zu wandern!

Anja Die Vögel singen im Garten. Wie spät ist's eigentlich?

Warja Drei Uhr wird's sein. Es ist Zeit, daß du schlafen gehst, Herzchen. Geht in Anjas Zimmer. Herrlich wäre das! ...

Jascha tritt ein mit Plaid und Reisetasche. Geht über die Bühne, geziert. Ist's gestattet, hier durchzugehen?

Dunjascha. Jascha! Beinah' hätt' ich Sie nicht wiedererkannt. Wie Sie sich im Ausland verändert haben!

Jascha Hm, wer sind Sie denn?

Dunjascha Wie Sie hier wegreisten, war ich noch so klein. Zeigt, wie klein sie war. Ich bin doch die Dunjascha, die Tochter von Fjodor Kosojedow – erinnern Sie sich meiner nicht mehr?

Jascha Hm … Ein netter Käfer! Sieht sich um und umarmt sie. Sie kreischt auf und läßt eine Untertasse fallen. Jascha entfernt sich rasch.

Warja in der Tür, unwillig. Was gibt's da?

Dunjascha weinerlich. Ich hab' eine Untertasse zerschlagen …

Warja. Scherben bedeuten Glück.

Anja tritt aus ihrem Zimmer. Wir müssen Mama vorbereiten ... Petja ist da ...

Warja. Ich hab' ihn absichtlich nicht wecken lassen.

Anja nachdenklich. Sechs Jahre sind seit Papas Tode vergangen, und vier Wochen später ist mein Brüderchen Grischa im Flusse ertrunken – mit sieben Jahren, so ein liebes Kerlchen! Mama hat's nicht verwinden können – fort, fort, um jeden Preis! Erschauernd. Ich kann sie verstehen, wenn sie wüßte … Pause. Petja Trofimow war Grischas Lehrer, sein Anblick würde die Erinnerung in ihr wecken …

Firs in Rock und weißer Weste, tritt ein. Geht zu der Kaffeemaschine, wichtig. Die Gnädigste wird hier den Kaffee einnehmen …. Zieht weiße Handschuhe an. Ist er fertig? Streng zu Dunjascha. Wo ist denn die Sahne? Du!

Dunjascha. Ach Gott, ja … Rasch ab.

Firs macht sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. So eine Schlafmütze. Brummt vor sich hin. Aus Paris kommen sie … Auch der gnädige Herr ist mal in Paris gewesen … aber noch per Post ... Lacht.

Warja. Was gibt's zu lachen, Firs?

Firs freudig erregt. Wie? Meine Gnädigste ist angekommen! Daß ich das noch erlebt habe! Jetzt kann ich ruhig sterben. Weint vor Freude.

Ljubow Andrejewna, Lopachin, Gajew und Ssimeonow-Pischtschik treten ein, letzterer trägt ein ärmelloses Wams aus feinem Tuch und Pluderhosen. Gajew macht beim Eintreten mit Rumpf und Armen Bewegungen, als ob er Billard spielte.

Ljubow Andrejewna. Wie war das doch gleich? Wart' mal … Den Gelben in die Ecke! Doublee in die Mitte!

Gajew. Den Roten rechts in die Ecke! ... Hier in diesem Zimmer haben wir beide mal geschlafen, liebe Schwester – und jetzt bin ich ein alter Knabe von einundfünfzig. Ist das nicht drollig?

Lopachin. Ja, die Zeit vergeht.

Gajew. Hä?

Lopachin. Ich sage, die Zeit vergeht.

Gajew. Es riecht hier nach Patschuli.

Anja. Ich geh' zu Bett. Gute Nacht, Mama. Küßt die Mutter.

Ljubow Andrejewna. Mein liebes, herziges Kindchen! Küßt Anjas Hände. Freust du dich, daß du zu Hause bist? Ich kann's noch immer nicht fassen.

Anja. Gute Nacht, Onkel.

Gajew. Küßt ihr Wangen und Hände. Gott schütze dich. Wie ähnlich du deiner Mutter bist! Zu seiner Schwester. Als du in ihrem Alter warst, Ljubow, hast du genau so ausgesehen.

Anja reicht Lopachin und Pischtschik die Hand, geht dann in ihr Zimmer und schließt die Tür hinter sich ab.

Ljubow Andrejewna. Sie ist ganz hin vor Müdigkeit.

Pischtschik. Kein Wunder, die lange Fahrt …

Warja zu Lopachin und Pischtschik. Nun, meine Herren: Es ist gleich drei Uhr. Ich dächte, es ist Zeit …

Ljubow Andrejewna lacht. Du bist immer noch dieselbe, Warja. Zieht sie an sich und küßt sie. Ich trinke nur meinen Kaffee aus, dann brechen wir alle auf. Firs legt ihr ein Kissen unter die Füße. Ich danke dir, mein

Lieber. Ich bin so gewöhnt an den Kaffee, Tag und Nacht trinke ich meinen Mokka. Vielen Dank, lieber Alter. Küßt Firs.

Warja. Ich will rasch mal nach den Sachen sehen, ob auch alles mitgekommen ist … Ab.

Ljubow Andrejewna. Da sitz' ich nun … lacht und möcht' am liebsten herumspringen und in die Hände klatschen. Bedeckt das Gesicht mit den Händen. Wie im Traume bin ich! O Gott, wie ich die Heimat liebe! Wie ich sie zärtlich liebe! Ich konnte nicht aus dem Kupeefenster sehen, in einem fort mußt' ich weinen. Unter Tränen. Aber nun rasch den Kaffee getrunken. Vielen Dank, lieber Firs, vielen Dank, mein Alter. Wie freue ich mich, daß du noch lebst!

Firs. Vorgestern, ja.

Gajew. Er hört schlecht.

Lopachin. Ich muß jetzt gleich fort, mit dem Fünfuhrzug nach Charkow. Zu ärgerlich. Ich wollte mich so recht an Ihnen sattsehen und mit Ihnen plaudern. … Sie sehen noch genauso stattlich aus wie früher.

Pischtschik schwer atmend. Hübscher ist sie geworden. In dem Pariser Kostüm … Schwernot nochmal, ist das schneidig!

Lopachin. Ihr Bruder, Leonid Andreïtsch, nennt mich einen Knecht, eine Krämerseele, aber daraus mache ich mir nichts. Immer mag er reden, wenn Sie mir nur Ihr altes Vertrauen schenken und Ihre wunderbaren Augen, wie früher, auf mir ruhen lassen. Du lieber Gott, ja doch – mein Vater war mal Leibeigener Ihres Herrn Papas, Sie aber haben für mich einmal etwas getan, was ich nie vergessen habe. Ewig bleib' ich Ihnen dafür zugetan.

Ljubow Andrejewna. Nein, ich kann nicht so dasitzen … Springt auf und geht in lebhafter Erregung auf und ab. Dieses Glück, diese Freude – ich überlebe sie nicht … Ja, lacht nur über mich dumme Liese … Mein liebes Spind … Küßt das Spind. Mein altes, braves Tischchen …

Gajew. Die Kinderfrau ist während deiner Abwesenheit gestorben.

Ljubow Andrejewna setzt sich und trinkt Kaffee. Man hat es mir geschrieben. Gott habe sie selig!

Gajew.Auch Anastassij ist tot. Der schieläugige Peter ist von mir weggezogen, er dient jetzt in der Stadt, beim Kommissar. Nimmt eine Bonbonschachtel aus der Tasche und nascht daraus.

Pischtschik.Meine Tochter Daschenjka läßt sich Ihnen empfehlen.

Lopachin. Ich habe eine angenehme Nachricht für Sie. Sieht auf die Uhr. Ich muß leider abfahren und muß mich ganz kurz fassen. Sie wissen, daß Ihr Kirschgarten unter den Hammer kommt. Am 22. August ist der Subhastationstermin. Machen Sie sich keine Sorgen darum, schlafen Sie ruhig und unbekümmert – es gibt einen Ausweg aus dieser Sache. Hören Sie mein Projekt. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Ihr Gut liegt nur zwanzig Werst von der Stadt ab, und es hat direkte Bahnverbindung: wenn der Kirschgarten samt dem Terrain am Flusse parzelliert und mit Sommerhäuschen bebaut wird, können Sie sich ein Jahreseinkommen von mindestens 25 000 Rubeln sichern.

Gajew. erlauben Sie mal, das ist doch der bare Unsinn.

Ljubow Andrejewna. Ich verstehe Sie nicht recht, Jermolai Alexeïtsch.

Lopachin. Sie nehmen von den Sommerfrischlern, billig gerechnet, 25 Rubel Jahrespacht pro Hektar. Wenn Sie die Sache jetzt gleich in Angriff nehmen, dann gehe ich jede Wette ein, daß Sie bis zu Herbst nicht ein kahles Fleckchen übrig behalten, alles werden Sie los. Sie sind gerettet, mit einem Wort, man kann Ihnen gratulieren. Natürlich muß hier gründlich Ordnung geschaffen werden, alle alten Bauten sind abzutragen, dieses Haus zum Beispiel, das zu nichts mehr taugt. Der alte Kirschgarten müßte abgeholzt werden ...

Ljubow Andrejewna. Abgeholzt? Verzeihen Sie, mein Lieber, davon verstehen Sie nichts. Wenn es im ganzen Gouvernement etwas Interessantes und Sehenswertes gibt, dann ist es unser Kirschgarten.

Lopachin. Sehenswert ist an diesem Garten nur eins: daß er sehr groß ist. Die Kirschen geraten höchstens alle zwei Jahre, und Sie wissen nichts mit ihnen anzufangen, kein Mensch kauft sie.

Gajew. Sogar im Konversationslexikon wird dieser Kirschgarten erwähnt.

Lopachin sieht auf seine Uhr. Wenn wir keine andere Lösung finden, wird am 22. August die ganze Besitzung mitsamt dem Kirschgarten an den Meistbietenden verkauft. Entschließen Sie sich also! Es gibt keinen anderen Ausweg, mein Wort darauf!

Firs. Früher, vor vierzig, fünfzig Jahren, hat man die Kirschen getrocknet, gedünstet, eingemacht, ausgepreßt, und in manchen Jahren ...

Gajew. Halt den Mund, Firs.

Firs In manchen Jahren gab es so viel getrocknete Kirschen, daß sie per Achse nach Moskau und Charkow verfrachtet wurden. Geld wie Heu gab's dafür! Und die getrockneten Kirschen waren damals weich und saftig, und so süß, und sie dufteten so … Man hatte ein bestimmtes Verfahren … ein Rezept …

Ljubow Andrejewna. Wo ist das hingekommen?

Firs. Vergessen hat man's. Kein Mensch kennt es mehr.

Pischtschik zu Ljubow Andrejewna. Na, wie war's also in Paris? Haben Sie dort Frösche gegessen?

Ljubow Andrejewna. Nein, aber Krokodile.

Pischtschik. Was Sie sagen!

Lopachin. Bisher gab's auf dem Lande nur Gutsbesitzer und Bauern, jetzt aber strömen auch die Stadtleute heraus. Die kleinst Stadt hat jetzt so einen Kranz von Sommerhäuschen, und in zwanzig Jahren werden diese Sommerkolonien sich noch viel mehr entwickelt haben Jetzt trinkt der Städter nur erst den Tee auf der Veranda seines Häuschens, aber vielleicht kommt er bald auf den Gedanken, seinen Hektar regulär zu bewirtschaften: dann wird's hier in Ihrem Kirschgarten ein Wohlbehagen geben, ein Glück, ein fröhliches Treiben …

Gajew aufbrausend Blödsinn!

Warja und Jascha treten ein.

Warja. Zwei Telegramme sind übrigens für Sie angekommen, Mamachen. Sucht an ihrem Bund und öffnet unter Schlüsselklirren einen alten Bücherschrank. Da sind sie.

Ljubow Andrejewna. Aus Paris, natürlich. Zerreißt die Telegramme, ohne sie gelesen zu haben. Mit Paris sind wir fertig.

Gajew. Weißt du auch, Ljuba, wie alt dieser Schrank ist? Vor acht Tagen zog ich zufällig die Schublade unten heraus und sah da eine Jahreszahl eingebrannt. Rund hundert Jahre ist das Möbel alt. Was sagst du dazu? Man hätte sein Jubiläum feiern können. Es handelt sich allerdings nur um einen leblosen Gegenstand, aber es ist doch immer ein Bücherschrank …

Pischtschik erstaunt. Hundert Jahre … was Sie sagen!

Gajew. Ja, keine Kleinigkeit, solch ein Schrank ... Betastet den Schrank. Man sollte ihm noch nachträglich eine Festrede halten: Alter, braver. Ehrwürdiger Schrank! Freudig bewegt stehe ich vor dir, der du seit einem Jahrhundert den leuchtenden Idealen des Guten und Wahren gedient hast. Dein stummer Ruf zu fruchtbringender Arbeit hat in diesem Jahrhundert nicht an Wirkung verloren, er hat weinerlich durch all die Generationen in unserm Geschlecht den Glauben an eine bessere Zukunft bewahrt und die Ideale der sozialen Gerechtigkeit in uns lebendig erhalten. Pause.

Lopachin. Ja …

Ljubow Andrejewna. Du bist noch immer der Alte, Leonid.

Gajew ein wenig verlegen. Rechts vom Ball in die Ecke! Spiel' ihn auf'n Kopf!

Lopachin sieht auf die Uhr. Ich muß jetzt aufbrechen.

Jascha reicht Ljubow Andrejewna eine Arzneischachtel. Vielleicht nehmen Sie jetzt eine Pille …

Pischtschik. Nur keine Medizin, Verehrteste … Das Zeug bringt weder Nutzen noch Schaden … Geben Sie mal her, meine Gnädige! Nimmt die Schachtel, schüttet die Pillen auf die flache Hand, tut sie in den Mund und trinkt einen Schluck Bier nach. So!

Ljubow Andrejewna erschrocken. Sie sind wohl übergeschnappt!

Pischtschik. Alle Pillen hab' ich auf einmal genommen!

Lopachin. So ein Nimmersatt!

Alle lachen.

Firs. Wie der Herr bei uns zum Ostermahl war, hat er ein halbes Fäßchen Gurken aufgegessen ... Brummt leise für sich weiter.

Ljubow Andrejewna. Was brummt er da?

Warja. Seit drei Jahren hat er das so an sich. Wir haben uns daran gewöhnt.

Jascha. Das machen die Jahre.

Scharlotta Iwanowna, im weißen Kleide, sehr eng geschnürt, eine Lorgnette am weißen Gürtel, geht über die Bühne.

Lopachin. Verzeihung, Scharlotta Iwanowna, ich habe Sie noch gar nicht recht begrüßt. Will ihr die Hand küssen.

Scharlotta entzieht ihm die Hand. Nicht doch – wenn man Ihnen den Handkuß gestattet, wollen Sie auch gleich Ellbogen und Schulter küssen …

Lopachin. Ich habe heute kein Glück. Alle lachen. Scharlotta Iwanowna, machen Sie uns doch mal ein Kunststück vor!

Ljubow Andrejewna. Ach ja, Scharlotta, lassen Sie was los!

Scharlotta. Jetzt nicht, ich will zu Bett gehen. Ab.

Lopachin. In drei Wochen sehen wir uns wieder. Küßt Ljubow Andrejewna die Hand. Leben Sie wohl bis dahin. Ich muß eilen. Zu Gajew. Auf Wiedersehen.

Wechselt mit Pischtschik Küsse. Auf Wiedersehen. Reicht zuerst Warja, dann Firs und Jascha die Hand. Die Abreise wird mir schwer. Zu Ljubow Andrejewna. Überlegen Sie sich die Sache mit der Parzellierung, und wenn Sie einen Entschluß gefaßt haben, lassen Sie mich's wissen. Fünfzigtausend Rubel könnt' ich gleich für den Plan flüssig machen. Überlegen Sie es sich reiflich!

Warja. So gehen Sie doch endlich!

Lopachin. Ich geh' schon, ich gehe … Ab.

Gajew. Ein richtiger Knecht. Übrigens, Verzeihung … Warja soll ihn ja heiraten, er ist ja ihr Auserwählter.

Warja. Reden Sie keinen Unsinn, Onkelchen.

Ljubow Andrejewna. Warum nicht, Warja? Ich würde mich sehr freuen, er ist ein guter Mensch.

Pischtschik. Ja, das ist er wirklich … ein ganz braver Bursche. Auch meine Daschenjka sagt das … Schnarcht, erwacht jedoch gleich wieder. Sagen Sie mal, Verehrteste, könnten Sie mir nicht 240 Rubel borgen? Ich habe morgen Hypothekenzinsen zu zahlen …

Warja erschrocken. Es ist nichts da, gar nichts!

Ljubow Andrejewna. Ich habe wirklich kein Geld.

Pischtschik. So viel wird sich schon finden. Lacht. Ich verlier' niemals die Hoffnung. Dazumal dacht' ich auch schon, ich müßte kopfüber gehen, da wurde die Bahn über mein Gut geführt, und ich kriegte einen schönen Batzen Geld. So kann heut' oder morgen wieder was eintreten … Daschenjka hat ein Lotterielos, sie kann das große Los gewinnen, zweimalhunderttausend …

Ljubow Andrejewna. So, der Kaffee wäre getrunken, nun können wir schlafen gehen.

Firs. Bürstet an Gajew herum, in schulmeisterndem Tone. Nun haben Sie wieder die falschen Beinkleider angezogen. Was soll ich schon mit Ihnen anfangen?

Warja leise. S-st! Anja schläft! Öffnet leise das Fenster. Die Sonne ist aufgegangen, es ist gleich wärmer. Sehen Sie doch, Mamachen, diese herrlichen Bäume! Mein Gott, diese Luft! Wie lustig die Stare pfeifen!

Gajew öffnet das zweite Fenster. Ganz weiß ist der Garten. Erinnerst du dich noch, Ljuba? Diese lange Allee hier läuft ganz geradeaus, wie ein gespanntes Seil, und bei Mondschein schimmert sie förmlich. Weißt du noch?

Ljubow Andrejewna sieht durchs Fenster in den Garten. O, meine Kindheit, meine unschuldvolle Kindheit! Hier in der Stube hab' ich geschlafen, von hier hab' ich in den Garten geschaut, jeden Morgen erwachte das Glück zugleich mit mir, und der Garten war ganz derselbe wie heute, nichts hat sich an ihm verändert. Lacht vor Freude. Ganz, ganz weiß ist er! Mein lieber, herrlicher Garten! Nach dem grämlichen Herbst und dem kalten Winter bist du wieder jung und voll Glück, die Engel im Himmel haben dich nicht verlassen. Ach, wenn doch jemand diese Last von meinen Schultern nähme, wenn ich doch die Vergangenheit vergessen könnte!

Gajew. Ja – und der Garten wird nun subhastiert … Merkwürdig!

Ljubow Andrejewna. Sieh doch, unsere Mutter geht dort durch den Garten … im weißen Kleid … Lacht vor Freude. Sie ist es!

Gajew. Wo?

Warja. Der Herr behüte Sie, Mamachen.

Ljubow Andrejewna. Niemand ist da, es schien mir nur so. Dort rechts, an dem Laubengang, hat sich eins der weißen Bäumchen vorgeneigt … Es sah aus, als ob eine Frau da ginge.

Trofimow, in abgetragener Studentenuniform, mit einer Brille, tritt ein.

Ljubow Andrejewna. Ein wunderbarer Garten!Diese üppige Blütenpracht, und der blaue Himmel darüber …

Trofimow. Ljubow Andrejewna! Sie sieht sich nach ihm um. Ich will Sie nur begrüßen und gehe gleich wieder. Er küßt gerührt ihre Hand. Man sagte mir, ich solle bis zum Morgen warten, doch ich hielt es nicht aus …

Ljubow Andrejewna sieht ihn verständnislos an.

Warja unter Tränen. Das ist Petja Trofimow, Mamachen …

Trofimow. Petja Trofimow, der Lehrer Ihres Grischa … Hab' ich mich denn so verändert?

Ljubow Andrejewna umarmt ihn und weint leise.

Gajew bewegt. Nicht doch, Ljubow, nicht doch!

Warja weint. Ich sagte Ihnen doch, Petja, Sie sollten bis morgen warten!

Ljubow Andrejewna. Mein Grischa … mein armer Junge … Grischa, mein Sohn …

Warja. Es ist doch mal geschehen, Mamachen, Gott hat es so gewollt.

Trofimow weich, unter Tränen. Genug, genug ..

Ljubow Andrejewna weint leise. So elend mußte er umkommen, mein guter Junge, ertrinken mußte er, warum …? Warum, mein Lieber? Leiser. Hier nebenan schläft Anja, und ich spreche so laut ...

Sagen Sie, Petja – Sie sehen so mitgenommen aus? Wovon sind Sie so gealtert?

Trofimow. In der Bahn meinte auch schon eine Frau, ich sähe so schäbig aus.

Ljubow Andrejewna. Damals waren Sie noch ein ganz junges Kerlchen, ein lieber kleiner Student, und jetzt ist Ihr Haar so dünn, Sie tragen eine Brille ... Sind Sie denn noch immer Student? Geht nach der Tür.

Trofimow. Ich werde wohl ewig Student bleiben.

Ljubow Andrejewna küßt den Bruder, dann Warja. Nun, geht schlafen … Auch du bist recht gealtert, Leonid.

Pischtschik geht hinter ihnen her. Also schlafen gehen … o weh, mein Podagra! Ich bleibe hier bei Ihnen … Vielleicht geht's morgen früh doch noch, liebe Freundin … 240 Rubel …

Gajew. Er läßt und läßt nicht locker!

Pischtschik. 240 Rubel … ich muß Hypothekenzinsen zahlen …

Ljubow Andrejewna. Ich habe kein Geld, mein Lieber.

Pischtschik. Ich geb's bald zurück … eine so kleine Summe …

Ljubow Andrejewna. Nun gut, Leonid wird es Ihnen geben … Gib ihm das Geld, Leonid!

Gajew. Sonst was werde ich ihm geben.

Ljubow Andrejewna. Was bleibt uns schließlich übrig, gib's ihm … Er braucht es … Er wird's schon zurückzahlen …

Ljubow Andrejewna, Trofimow, Pischtschik und Firs entfernen sich.

Gajew. Immer noch die Alte! Immer das Geld zum Fenster hinaus. Zu Jascha. Drück' dich, mein Lieber, du riechst nach Hühnermist.

Jascha lächelnd. Sie sind immer noch derselbe, der Sie waren, Leonid Andrejewitsch.

Gajew. Wie war das? Zu Warja. Was sagt der Bursche?

Warja zu Jascha. Deine Mutter ist aus dem Dorfe gekommen, sie möchte dich sehen. Seit gestern sitzt sie in der Gesindestube.

Jascha. Mag sie doch sitzen!

Warja. Was? Schämst du dich nicht?

Jascha. Was hab' ich von meiner Mutter? Hätt' ebensogut morgen kommen können. Ab.

Warja Mamachen ist unverbesserlich: alles gäbe sie hin, wenn man sie frei schalten ließe.

Gajew. Ja … Pause. Wenn gegen eine Krankheit recht viele Mittel vorgeschlagen werden, so heißt das, sie ist unheilbar. Ich zerbreche mir den Kopf, ersinne bald diesen, bald jenen Ausweg, und weiß im Grunde genommen nicht einen einzigen. Wenn man so jemanden beerben könnte … oder wenn sich für Anja ein reicher Mann fände … oder wenn wir unser Glück bei der Gräfin in Jaroslawl versuchten … die Gräfin ist schwer reich, sie ist unsere richtige Tante …

Warja weint. Wenn der liebe Gott uns doch helfen wollte!

Gajew. Heul' nicht! Die Tante will leider nichts von uns wissen. Sie kann's meiner Schwester nicht verzeihen, daß sie einen simplen Advokaten geheiratet hat, der nicht mal von Adel war.

Anja erscheint in der Tür.

Gajew. Dann ist sie auch mit Ljubas Aufführung unzufrieden. Gewiß, die Tugendrose verdient sie nicht. Sie ist herzensgut und ein prächtiger Kamerad, ich habe sie aufrichtig lieb, aber soviel mildernde Umstände man ihr auch bewilligen mag – zum Laster neigt sie nun mal. Das spürt man in jeder Bewegung.

Warja flüstert. Anja steht in der Tür.

Gajew. Was ist? Pause. Merkwürdig – ich hab' was am rechten Auge ...Kann damit gar nicht sehen. Auch neulich, am Donnerstag, wie ich auf dem Bezirksgericht war ...

Anja tritt ins Zimmer.

Warja. Warum schläfst du nicht, Anja?

Anja. Ich kann nicht einschlafen. Ganz unmöglich.

Gajew. Mein Herzchen … Küßt Anja Gesicht und Hände. Mein liebes Mädchen … Unter Tränen. Du bist nicht meine Nichte, du bist mein Engel, mein Alles. Glaub' es mir, glaub's …

Anja. Ich glaube dir, Onkel, wir lieben und achten dich alle … aber lieber Onkel, du solltest viel weniger reden. Was hast du da wieder von meiner Mutter gesagt, von deiner eigenen Schwester? Warum sagst du so etwas?

Gajew. Ja, ja … Verdeckt sein Gesicht mit ihrer Hand. Das ist schrecklich, in der Tat! O Gott, steh' mir bei! Auch vorhin, diese Rede vor dem Bücherschrank … wie albern! Erst als ich zu Ende war, merkte ich, wie dumm ich mich benommen hatte.

Warja. Das stimmt, Onkelchen. Sie sollten viel weniger reden. Schweigen Sie doch einfach!

Anja. Es wird dir viel leichter ums Herz sein, wenn du schweigst.

Gajew. Ich schweig' schon. Küßt Anja und Warja die Hand. Ich schweige schon. Nur noch ein Wort zur Sache. Am Donnerstag war ich auf dem Bezirksgericht, da blieben wir dann noch ein Weilchen beisammen, dies und das kam zur Sprache, vom Hundertsten ging's ins Tausendste – kurzum, ich hoffe, gegen Wechsel ein Darlehn zu bekommen und die Bankzinsen zu bezahlen.

Warja. Wenn doch Gott uns helfen wollte!

Gajew. Am Dienstag fahr' ich hin, um nochmal Rücksprache zu halten. Zu Warja. Heul' doch nicht. Zu Anja. Deine Mutter wird mit Lopachin reden, er wird ihr sicher keinen Korb geben … Und du fährst, sobald du dich ausgeruht hast, nach Jaroslawl zu deiner Großtante, der Frau Gräfin. So nehmen wir die Sache von drei Seiten in Angriff – und sind gerettet. Die Zinsen werden wir bezahlen können, das glaub' ich ganz bestimmt … Steckt einen Bonbon in den Mund. Ich gebe dir mein Ehrenwort: Das Gut wird nicht verkauft! Lebhaft. Bei meiner Seele schwör' ich's: hier hast du meine Hand, einen Waschlappen kannst du mich nennen, einen ehrlosen Wicht, wenn ich's zur Versteigerung kommen lasse. Bei allem, was mir heilig ist, schwör' ich's dir!

Anja Beruhigt und glücklich. Wie gut du bist, Onkel. Wie lieb und klug. Umarmt den Onkel. Jetzt bin ich beruhigt. Ganz ruhig und glücklich bin ich.

Firs tritt ein. Vorwurfsvoll. Leonid Andreïtsch – um Gotteswillen: wann wollen Sie endlich zu Bett gehen?

Gajew Gleich, gleich. Geh' nur, Firs, ich brauche dich nicht mehr, werde schon allein ins Bett finden. Nun, Kinderchen, in die Federn! … Alles Nähere morgen, jetzt geht schlafen. Küßt Anja und Warja. Ich bin noch einer von der alten Garde, so aus den achtziger Jahren. Ich besitze meine Überzeugungen und habe für sie manches Opfer gebracht. Nicht umsonst ist mir der Bauer zugetan. Unsere Bauern muß man kennen! Man muß wissen, daß sie …

Anja. Schon wieder, Onkel!

Warja. Schweigen Sie doch, Onkelchen!

Firs ärgerlich. Leonid Andreïtsch!

Gajew. Ich gehe, ich gehe … Legt euch zu Bett. Ich spiele auf den Weißen, zweimal an die Bande … Ab, hinter ihm trippelt Firs daher.

Anja. Ich bin jetzt vollkommen beruhigt. Nach Jaroslawl zu fahren, hab' ich keine Lust, ich mag die Gräfin nicht. Aber sonst … hat mich der Onkel ganz beruhigt. Setzt sich.

Warja. Nun wollen wir doch schlafen gehen … Übrigens, während du fort warst, gab's hier allerhand Scherereien. Du weißt, im kleinen Gesindehaus wohnt die alte Dienerschaft: Jefimuschka, Polja, Jewstignej, na, und Karp. Es fand sich da allerhand Gesindel bei ihnen an, dem sie Nachtquartier gaben. Ich drückte ein Auge zu, bis mir hinterbracht wurde, daß sie böse Reden über mich führten, ich sei geizig, gebe ihnen schlecht zu essen, und so weiter. Jewstignej sollte dahinter stecken, hieß es – ich lasse ihn mir also kommen … gähnt und sage zu ihm: was bist du doch für ein dummer Kerl, Jewstignej! Sieht Anja an. Ännchen! … Pause. Sie ist eingeschlafen … Nimmt Anjas Arm. Nun geht's aber ins Bett … komm! Führt sie. Mein Seelchen ist eingedruselt . Komm ...

Sie gehen. Aus der Ferne, über den Garten her, ertönt eine Hirtenflöte. Trofimow geht über die Bühne und bleibt beim Anblick der beiden Mädchen stehen.

Warja. S-st! Sie schläft … schläft … Komm, mein Kind.

Anja leise im Halbschlummer. Ich bin müde … Es klingt mir so im Ohr … Der Onkel ist … so lieb … Mama und der Onkel …

Warja. Komm, Kind, komm .. Beide ab in Warjas Zimmer.

Trofimow gerührt. Meine Sonne! Mein Frühling!

Vorhang.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-kirschgarten-3977/2

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 19.12.2023

     
   
   Arbeitsanregungen:
  1. Geben Sie Regieanweisungen, wie der Text von der Schauspielerin vorgetragen werden soll.
  2. Inszenieren Sie den Text als Ansprache vor der Klasse.

 

 
 
 

 
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