»Anton
Tschechow (1860-1904), »Der
Kirschgarten, Komödie in vier Aufzügen (1903) Erster
Aufzug
Das »Kinderzimmer«,
nach seiner einstmaligen Bestimmung noch immer so benannt. Eine
der Türen führt nach Anjas Zimmer. Morgendämmerung, kurz vor
Sonnenaufgang. Monat Mai, die Bäume blühen, im Garten ist es
jedoch kühl, der Morgenwind weht. Die Fensterläden sind noch
geschlossen, der junge Tag schimmert durch die Spalten.
Dunjascha kommt mit einem Licht und Lopachin mit
einem Buch in der Hand.
Lopachin. Der
Zug ist da, Gott sei Dank! Wie spät ist's denn?
Dunjascha. Bald
zwei. Löscht das Licht aus. Es ist schon hell draußen.
Lopachin.
Wieder einmal Verspätung. Wenigstens um zwei Stunden. Gähnt
und reckt die Glieder. Ich bin auch ein rechter Tölpel.
Komme her, um sie auf dem Bahnhofe zu empfangen und verschlafe
die Zeit. Im Sitzen bin ich eingeschlafen. Zu ärgerlich. Du
hättest mich doch wecken sollen!
Dunjascha
Öffnet die Fensterläden. Ich dachte, sie seien längst fort.
Horcht. Da – ich glaube, sie kommen schon.
Lopachin
horcht. Nein … Ehe sie das Gepäck besorgt haben, und dies
und das, vergeht eine ganze Weile. Pause. Fünf Jahre hat
sie nun im Auslande zugebracht, unsere Ljubow Andrejewna – ob
sie sich sehr verändert hat? Eine prächtige Frau, so umgänglich,
so einfach. Ich erinnere mich noch einer Geschichte aus meiner
Jugendzeit, wie ich so fünfzehn Jahre alt war. Ich hatte von
meinem Vater selig eine Ohrfeige bekommen, daß mir die Nase
blutete – war wohl nicht ganz nüchtern gewesen, mein Alter. Er
hatte hier im Dorfe einen Kramladen, und wir waren geschäftlich
auf dem Gutshofe. Na, kurz und gut, Ljubow Andrejewna, die
damals noch ganz jung war, ganz schlank und schmächtig, nahm
mich bei der Hand und führte mich hier in dieses Kinderzimmer,
ans Waschbecken. »Weine nicht, kleiner Bauernjunge,« sagte sie,
»bis du Hochzeit machst, ist's wieder gut.« Pause.
Bauernjunge, ja … Mein Vater war ein Bauer, und ich trage eine
weiße Weste und gelbe Schuhe. Eine Krähe, die sich mit fremden
Federn schmückt … Geld hab ich wie Heu, aber wenn ich's recht
bedenke, bin ich doch ein richtiger Bauer geblieben. Blättert
in dem Buche. Da lese ich nun, lese und versteh' nichts …
Eingeschlafen bin ich über dem Buche. Pause.
Dunjascha. Die
Hunde haben die ganze Nacht gebellt – die witterten wohl, daß
die Herrschaft kommt.
Lopachin. Was
ist denn mit dir, Dunjascha?
Dunjascha.
Meine Hände zittern so … ich glaube, ich fall' in Ohnmacht …
Lopachin. Hast
dich schon gar zu sehr … kleidest dich wie ein Fräulein, und
auch die Frisur … Das schickt sich nicht, man darf nie
vergessen, wer man ist.
Epichodow tritt
ein, mit einem Blumenstrauß, er trägt ein Jakett und blitzblanke
hohe Stiefel, die beim Auftreten laut knarren; läßt beim
Eintreten den Blumenstrauß fallen.
Epichodow.
hebt den Blumenstrauß auf. Der Gärtner schickt das Bukett,
nach dem Eßzimmer soll's kommen. Gibt den Strauß an Dunjascha.
Lopachin zu
Dunjascha. Bring mir ein Glas Sauerbier mit.
Dunjascha. Sehr
gern. Ab.
Epichodow. 's
ist mächtig kalt draußen, drei Grad Frost! Und die Kirschen sind
gerade in der Blüte! Kann mich nicht erwärmen für unser Klima.
Seufzt. Nee doch! 's ist nicht viel los damit … Sagen Sie
mal, bitte, Jermolaj Alexeïtsch, ich hab mir vorgestern ein Paar
Stiefel gekauft, und die knarren so eklig – womit könnt' ich sie
wohl einschmieren? Raten Sie mir!
Lopachin. Bleib
mir vom Leibe mit deinem Geschwätz.
Epichodow.
Jeden Tag muß mir auch was passieren. Aber ich mach' mir nichts
draus, hab mich dran gewöhnt und lach' einfach drüber.
Dunjascha tritt
ein und reicht Lopachin das Bier.
Epichodow. Ich
geh' nun. Stößt an einen Stuhl an, der hinfällt. Da. …
Triumphierend. Hab' ich's nicht gesagt? Einfach nicht zu
glauben … Merkwürdig geradezu … entschuldigen Sie den harten
Ausdruck! Ab.
Dunjascha. Ich
kann's Ihnen ja sagen, Jermolaj Alexeïtsch: Epichodow hat mir
einen Antrag gemacht …
Lopachin. Ah!
Dunjascha. Ja,
und ich weiß nur nicht … er ist so weit ganz brav, aber er red't
so komisches Zeug zusammen, daß man ihn manchmal gar nicht
versteht. Sonst gefällt er mir ganz gut. Er liebt mich
wahnsinnig. Ein Pechvogel ist er ja, jeden Tag passiert ihm was.
Wir nennen ihn alle nur den Unglücksraben …
Lopachin
horcht. Jetzt kommen sie, glaub' ich …
Dunjascha. Ja,
jetzt kommen sie! Was ist nur mit mir? Ganz eiskalt bin ich …
Lopachin. Jetzt
kommen sie wirklich. Wir wollen ihnen entgegengehen. Ob sie mich
erkennt? Fünf Jahre haben wir uns nicht gesehen …
Dunjascha
erregt. Ich fall' gleich hin – ach, ich falle!
Man hört zwei
Kutschen vorfahren. Lopachin und Dunjascha rasch ab. Die Bühne
bleibt einen Augenblick leer. Im anstoßenden Zimmer wird es
laut. Der alte Lakai Firs, der seine Herrin vom Bahnhof
abgeholt hat, humpelt in seiner altmodischen Livree, den hohen
Hut auf dem Kopfe, hastig an einem Stock über die Bühne; er
murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Hinter der Bühne
wird es immer lauter. Man hört eine Stimme: »Hier durch,
Herrschaften, hier durch!« Es erscheinen im Zimmer Ljubow
Andrejewna, Anja und Scharlotta Iwanowna, die ein
Hündchen an der Leine führt, alle drei im Reisekostüm. Dann
Warja in Mantel und Kopftuch, Gajew,
Ssimeonow-Pischtschik. Lopachin, Dunjascha mit Reisetasche
und Schirm und andere Dienstboten; alle gehen durch das
Kinderzimmer.
Anja. Wir
wollen hier durchgehen. Weißt du noch, Mama, was für ein Zimmer
das ist?
Ljubow Andrejewna
in freudiger Rührung, unter Tränen. Das Kinderzimmer!
Warja. Wie kalt
es ist, meine Hände sind ganz steif gefroren. Zu Ljubow
Andrejewna. Ihre Zimmer, das weiße und das veilchenblaue,
sind ganz unverändert geblieben.
Ljubow Andrejewna.
Das Kinderzimmer, mein liebes, reizendes Zimmerchen … Hier hab'
ich als kleines Mädchen geschlafen … Küßt ihren Bruder, dann
Warja, dann wieder ihren Bruder. Und unsere Warja ist immer
noch die Alte, wie eine Nonne. Auch Dunjascha hab ich erkannt …
Küßt Dunjascha.
Gajew. Zwei
Stunden Verspätung hat der Zug. Nette Zustände, wie?
Scharlotta
zu Pischtschik. Mein Hündchen ißt sogar Nüsse.
Pischtschik
erstaunt. Was Sie sagen!
Alle ab, außer Anja
und Dunjascha.
Dunjascha. Wir
haben gewartet und gewartet …
Nimmt Anja Mantel
und Hut ab.
Anja. Vier
Nächte war ich unterwegs, ohne Schlaf … Ganz erstarrt bin ich.
Dunjascha. Wie
Sie damals wegfuhren, lag draußen Schnee, und so kalt war es!
Mitten in der Fastenzeit war's. Und jetzt … Ach, mein liebes
Fräulein! Lacht und küßt sie. Wie hab' ich mich nach
Ihnen gesehnt, mein Herzblättchen, mein Augentrost … Ich hab'
Ihnen was zu sagen … ein Geheimnis …
Anja müde
Kann's mir schon denken!
Dunjascha. Der
Buchhalter Epichodow hat mir zu Ostern einen Antrag gemacht.
Anja. Immer die
alten Geschichten. Streicht ihr Haar glatt. Alle
Haarnadeln hab' ich verloren. Sie schwankt vor Müdigkeit.
Dunjascha. Ich
weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Er liebt mich so sehr, so
sehr.
Anja blickt
nach der Tür ihres Zimmerchens, weich. Mein Zimmer, meine
Fenster! Als ob ich gar nicht weggewesen wäre! Ich bin zu Hause!
Morgen früh steh' ich auf und lauf gleich in den Garten. Wenn
ich nur einschlafen könnte! Ich war unterwegs in solcher Unruhe,
nicht ein Auge konnt ich zumachen.
Dunjascha.
Vorgestern ist auch Peter Ssergjeïtsch angekommen.
Anja
freudig. Petja!
Dunjascha. Er
hat sich im Badehaus eingerichtet und schläft dort auch. Er will
nicht lästig fallen, sagt er. Sieht auf ihre Taschenuhr.
Ich müßte ihn eigentlich wecken, aber Fräulein Warja meinte, ich
solle ihn nur schlafen lassen.
Warja kommt
herein, mit einem Schlüsselbund an der Seite. Dunjascha,
Mama wünscht Kaffee … mach rasch!
Dunjascha.
Sofort, sofort. Ab.
Warja. Nun,
Gott sei Dank, mein Herzchen, da hätt' ich dich wieder.
Liebkost Anja. Mein Schwesterchen! Es war wohl keine
Kleinigkeit, die Mama wieder heimzubringen, wie?
Anja. Die reine
Qual war es. Und diese Scharlotta – während der ganzen Fahrt hat
sie geschwatzt und ihre Faxen gemacht. Warum du mir die
eigentlich aufgepackt hast? …
Warja. Ich
konnte dich doch nicht allein fahren lassen, Kind, mit deinen
siebzehn Jahren!
Anja. Wir
kommen in Paris an – eine Kälte. Der Schnee lag noch auf den
Dächern. Mein Französisch hat mich natürlich im Stich gelassen.
Mama wohnt oben im fünften Stockwerk, und wie ich hinkomme,
sitzt sie da unter lauter Franzosen, ein paar Damen sind bei ihr
und ein alter Pater mit einem Gebetbuch, und vollgequalmt hatten
sie – ganz abscheulich! Sie tat mir auf einmal so leid, die arme
Mama, so leid, und ich umarmte sie und konnte sie gar nicht
loslassen. Sie wurde so weich, so zärtlich, und begann zu
weinen …
Warja unter
Tränen. Still, still, erzähl' nicht ...
Anja. Ihre
Villa bei Mentone hatte sie schon verkauft, nichts ist ihr
geblieben, nicht ein Pfennig. Auch ich bin ganz blank, kaum daß
wir die Rückreise bezahlen konnten. Und dabei ist Mama ganz
ahnungslos – wir sitzen auf dem Bahnhof und wollen etwas essen:
natürlich bestellt sie gleich das Teuerste und gibt dem Kellner
einen Rubel Trinkgeld. Auch Scharlotta wirft das Geld mit vollen
Händen fort, und sogar Jascha läßt sich seine Portion geben –
einfach schrecklich. Mama hält sich nämlich jetzt einen Lakaien,
Jascha heißt er, wir haben ihn mit hergebracht …
Warja. Ich habe
den Halunken gesehen.
Anja. Nun, wie
steht es hier? Sind die Zinsen bezahlt?
Warja. Bewahre!
Anja. Mein
Gott, mein Gott!
Warja. Im
August kommt das Gut unter den Hammer …
Lopachin sieht zur Tür herein, brummt etwas vor sich hin
und zieht sich sogleich wieder zurück.
Warja
unter Tränen, droht mit der Faust hinter Lopachin her. Ich
könnte den Menschen prügeln ...
Anja
umarmt Warja, leise. Wie steht's? Hat er sich dir erklärt?
Warja schüttelt den Kopf. Er liebt dich doch – warum
sprecht ihr euch nicht aus, worauf wartet ihr?
Warja Ich
glaube nicht, daß aus der Sache was wird. Er hat nur das
Geschäft im Kopfe und denkt gar nicht an mich. Mir soll's gleich
sein. Ich will ihn überhaupt nicht mehr sehen. Alles schwatzt:
Lopachin wird dich heiraten, alle gratulieren mir, und in
Wirklichkeit liegt gar nichts vor, alles leere Einbildung.
Mit veränderter Stimme. Was für eine Brosche hast du da? Was
soll das sein? Eine Biene?
Anja
traurig. Mama hat sie mir gekauft. Geht in ihr Zimmer.
Mit kindlicher Fröhlichkeit. In Paris bin ich im Luftballon
gefahren!
Warja. Nicht
möglich … Vor allem hab ich' dich wieder – mein liebes, schönes
Kind!
Dunjascha ist mit der Kaffeemaschine zurückgekehrt und
bereitet den Kaffee.
Warja steht
an der Tür. Ich geh' den ganzen Tag im Hause herum und
simuliere: ob man nicht einen reichen Mann für dich suchen
sollte? Dann wäre ich beruhigt und könnte ins Kloster gehen oder
auf die Wallfahrt … Nach Kiew würde ich pilgern, nach Moskau …
nach all den heiligen Orten … Das wäre herrlich, immer so zu
wandern, zu wandern!
Anja Die Vögel
singen im Garten. Wie spät ist's eigentlich?
Warja Drei Uhr
wird's sein. Es ist Zeit, daß du schlafen gehst, Herzchen.
Geht in Anjas Zimmer. Herrlich wäre das! ...
Jascha tritt
ein mit Plaid und Reisetasche. Geht über die Bühne, geziert.
Ist's gestattet, hier durchzugehen?
Dunjascha.
Jascha! Beinah' hätt' ich Sie nicht wiedererkannt. Wie Sie sich
im Ausland verändert haben!
Jascha Hm, wer
sind Sie denn?
Dunjascha Wie
Sie hier wegreisten, war ich noch so klein. Zeigt, wie klein
sie war. Ich bin doch die Dunjascha, die Tochter von Fjodor
Kosojedow – erinnern Sie sich meiner nicht mehr?
Jascha Hm … Ein
netter Käfer! Sieht sich um und umarmt sie. Sie kreischt auf
und läßt eine Untertasse fallen. Jascha entfernt sich rasch.
Warja in der
Tür, unwillig. Was gibt's da?
Dunjascha
weinerlich. Ich hab' eine Untertasse zerschlagen …
Warja. Scherben
bedeuten Glück.
Anja tritt
aus ihrem Zimmer. Wir müssen Mama vorbereiten ... Petja ist
da ...
Warja. Ich hab'
ihn absichtlich nicht wecken lassen.
Anja
nachdenklich. Sechs Jahre sind seit Papas Tode vergangen,
und vier Wochen später ist mein Brüderchen Grischa im Flusse
ertrunken – mit sieben Jahren, so ein liebes Kerlchen! Mama
hat's nicht verwinden können – fort, fort, um jeden Preis!
Erschauernd. Ich kann sie verstehen, wenn sie wüßte …
Pause. Petja Trofimow war Grischas Lehrer, sein Anblick
würde die Erinnerung in ihr wecken …
Firs in Rock
und weißer Weste, tritt ein. Geht zu der Kaffeemaschine,
wichtig. Die Gnädigste wird hier den Kaffee einnehmen ….
Zieht weiße Handschuhe an. Ist er fertig? Streng zu
Dunjascha. Wo ist denn die Sahne? Du!
Dunjascha. Ach
Gott, ja … Rasch ab.
Firs macht
sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. So eine Schlafmütze.
Brummt vor sich hin. Aus Paris kommen sie … Auch der
gnädige Herr ist mal in Paris gewesen … aber noch per Post ...
Lacht.
Warja. Was
gibt's zu lachen, Firs?
Firs freudig
erregt. Wie? Meine Gnädigste ist angekommen! Daß ich das
noch erlebt habe! Jetzt kann ich ruhig sterben. Weint vor
Freude.
Ljubow Andrejewna,
Lopachin, Gajew und Ssimeonow-Pischtschik treten ein,
letzterer trägt ein ärmelloses Wams aus feinem Tuch und
Pluderhosen. Gajew macht beim Eintreten mit Rumpf und Armen
Bewegungen, als ob er Billard spielte.
Ljubow Andrejewna.
Wie war das doch gleich? Wart' mal … Den Gelben in die Ecke!
Doublee in die Mitte!
Gajew. Den
Roten rechts in die Ecke! ... Hier in diesem Zimmer haben wir
beide mal geschlafen, liebe Schwester – und jetzt bin ich ein
alter Knabe von einundfünfzig. Ist das nicht drollig?
Lopachin. Ja,
die Zeit vergeht.
Gajew. Hä?
Lopachin. Ich
sage, die Zeit vergeht.
Gajew. Es
riecht hier nach Patschuli.
Anja. Ich geh'
zu Bett. Gute Nacht, Mama. Küßt die Mutter.
Ljubow Andrejewna.
Mein liebes, herziges Kindchen! Küßt Anjas Hände. Freust
du dich, daß du zu Hause bist? Ich kann's noch immer nicht
fassen.
Anja. Gute
Nacht, Onkel.
Gajew. Küßt
ihr Wangen und Hände. Gott schütze dich. Wie ähnlich du
deiner Mutter bist! Zu seiner Schwester. Als du in ihrem
Alter warst, Ljubow, hast du genau so ausgesehen.
Anja reicht
Lopachin und Pischtschik die Hand, geht dann in ihr Zimmer und
schließt die Tür hinter sich ab.
Ljubow Andrejewna.
Sie ist ganz hin vor Müdigkeit.
Pischtschik.
Kein Wunder, die lange Fahrt …
Warja zu
Lopachin und Pischtschik. Nun, meine Herren: Es ist gleich
drei Uhr. Ich dächte, es ist Zeit …
Ljubow Andrejewna
lacht. Du bist immer noch dieselbe, Warja. Zieht sie
an sich und küßt sie. Ich trinke nur meinen Kaffee aus, dann
brechen wir alle auf. Firs legt ihr ein Kissen unter die
Füße. Ich danke dir, mein
Lieber. Ich bin so
gewöhnt an den Kaffee, Tag und Nacht trinke ich meinen Mokka.
Vielen Dank, lieber Alter. Küßt Firs.
Warja. Ich will
rasch mal nach den Sachen sehen, ob auch alles mitgekommen ist …
Ab.
Ljubow Andrejewna.
Da sitz' ich nun … lacht und möcht' am liebsten
herumspringen und in die Hände klatschen. Bedeckt das Gesicht
mit den Händen. Wie im Traume bin ich! O Gott, wie ich die
Heimat liebe! Wie ich sie zärtlich liebe! Ich konnte nicht aus
dem Kupeefenster sehen, in einem fort mußt' ich weinen. Unter
Tränen. Aber nun rasch den Kaffee getrunken. Vielen Dank,
lieber Firs, vielen Dank, mein Alter. Wie freue ich mich, daß du
noch lebst!
Firs.
Vorgestern, ja.
Gajew. Er hört
schlecht.
Lopachin. Ich
muß jetzt gleich fort, mit dem Fünfuhrzug nach Charkow. Zu
ärgerlich. Ich wollte mich so recht an Ihnen sattsehen und mit
Ihnen plaudern. … Sie sehen noch genauso stattlich aus wie
früher.
Pischtschik
schwer atmend. Hübscher ist sie geworden. In dem Pariser
Kostüm … Schwernot nochmal, ist das schneidig!
Lopachin. Ihr
Bruder, Leonid Andreïtsch, nennt mich einen Knecht, eine
Krämerseele, aber daraus mache ich mir nichts. Immer mag er
reden, wenn Sie mir nur Ihr altes Vertrauen schenken und Ihre
wunderbaren Augen, wie früher, auf mir ruhen lassen. Du lieber
Gott, ja doch – mein Vater war mal Leibeigener Ihres Herrn
Papas, Sie aber haben für mich einmal etwas getan, was ich nie
vergessen habe. Ewig bleib' ich Ihnen dafür zugetan.
Ljubow Andrejewna.
Nein, ich kann nicht so dasitzen … Springt auf und geht in
lebhafter Erregung auf und ab. Dieses Glück, diese Freude –
ich überlebe sie nicht … Ja, lacht nur über mich dumme Liese …
Mein liebes Spind … Küßt das Spind. Mein altes, braves
Tischchen …
Gajew. Die
Kinderfrau ist während deiner Abwesenheit gestorben.
Ljubow Andrejewna
setzt sich und trinkt Kaffee. Man hat es mir geschrieben.
Gott habe sie selig!
Gajew.Auch
Anastassij ist tot. Der schieläugige Peter ist von mir
weggezogen, er dient jetzt in der Stadt, beim Kommissar.
Nimmt eine Bonbonschachtel aus der Tasche und nascht daraus.
Pischtschik.Meine
Tochter Daschenjka läßt sich Ihnen empfehlen.
Lopachin. Ich
habe eine angenehme Nachricht für Sie. Sieht auf die Uhr.
Ich muß leider abfahren und muß mich ganz kurz fassen. Sie
wissen, daß Ihr Kirschgarten unter den Hammer kommt. Am 22.
August ist der Subhastationstermin. Machen Sie sich keine Sorgen
darum, schlafen Sie ruhig und unbekümmert – es gibt einen Ausweg
aus dieser Sache. Hören Sie mein Projekt. Ich bitte um Ihre
Aufmerksamkeit! Ihr Gut liegt nur zwanzig Werst von der Stadt
ab, und es hat direkte Bahnverbindung: wenn der Kirschgarten
samt dem Terrain am Flusse parzelliert und mit Sommerhäuschen
bebaut wird, können Sie sich ein Jahreseinkommen von mindestens
25 000 Rubeln sichern.
Gajew. erlauben
Sie mal, das ist doch der bare Unsinn.
Ljubow Andrejewna.
Ich verstehe Sie nicht recht, Jermolai Alexeïtsch.
Lopachin. Sie
nehmen von den Sommerfrischlern, billig gerechnet, 25 Rubel
Jahrespacht pro Hektar. Wenn Sie die Sache jetzt gleich in
Angriff nehmen, dann gehe ich jede Wette ein, daß Sie bis zu
Herbst nicht ein kahles Fleckchen übrig behalten, alles werden
Sie los. Sie sind gerettet, mit einem Wort, man kann Ihnen
gratulieren. Natürlich muß hier gründlich Ordnung geschaffen
werden, alle alten Bauten sind abzutragen, dieses Haus zum
Beispiel, das zu nichts mehr taugt. Der alte Kirschgarten müßte
abgeholzt werden ...
Ljubow Andrejewna.
Abgeholzt? Verzeihen Sie, mein Lieber, davon verstehen Sie
nichts. Wenn es im ganzen Gouvernement etwas Interessantes und
Sehenswertes gibt, dann ist es unser Kirschgarten.
Lopachin.
Sehenswert ist an diesem Garten nur eins: daß er sehr groß ist.
Die Kirschen geraten höchstens alle zwei Jahre, und Sie wissen
nichts mit ihnen anzufangen, kein Mensch kauft sie.
Gajew. Sogar im
Konversationslexikon wird dieser Kirschgarten erwähnt.
Lopachin
sieht auf seine Uhr. Wenn wir keine andere Lösung finden,
wird am 22. August die ganze Besitzung mitsamt dem Kirschgarten
an den Meistbietenden verkauft. Entschließen Sie sich also! Es
gibt keinen anderen Ausweg, mein Wort darauf!
Firs. Früher,
vor vierzig, fünfzig Jahren, hat man die Kirschen getrocknet,
gedünstet, eingemacht, ausgepreßt, und in manchen Jahren ...
Gajew. Halt den
Mund, Firs.
Firs In manchen
Jahren gab es so viel getrocknete Kirschen, daß sie per Achse
nach Moskau und Charkow verfrachtet wurden. Geld wie Heu gab's
dafür! Und die getrockneten Kirschen waren damals weich und
saftig, und so süß, und sie dufteten so … Man hatte ein
bestimmtes Verfahren … ein Rezept …
Ljubow Andrejewna.
Wo ist das hingekommen?
Firs. Vergessen
hat man's. Kein Mensch kennt es mehr.
Pischtschik
zu Ljubow Andrejewna. Na, wie war's also in Paris? Haben Sie
dort Frösche gegessen?
Ljubow Andrejewna.
Nein, aber Krokodile.
Pischtschik.
Was Sie sagen!
Lopachin.
Bisher gab's auf dem Lande nur Gutsbesitzer und Bauern, jetzt
aber strömen auch die Stadtleute heraus. Die kleinst Stadt hat
jetzt so einen Kranz von Sommerhäuschen, und in zwanzig Jahren
werden diese Sommerkolonien sich noch viel mehr entwickelt haben
Jetzt trinkt der Städter nur erst den Tee auf der Veranda seines
Häuschens, aber vielleicht kommt er bald auf den Gedanken,
seinen Hektar regulär zu bewirtschaften: dann wird's hier in
Ihrem Kirschgarten ein Wohlbehagen geben, ein Glück, ein
fröhliches Treiben …
Gajew
aufbrausend Blödsinn!
Warja und
Jascha treten ein.
Warja. Zwei
Telegramme sind übrigens für Sie angekommen, Mamachen. Sucht
an ihrem Bund und öffnet unter Schlüsselklirren einen alten
Bücherschrank. Da sind sie.
Ljubow Andrejewna.
Aus Paris, natürlich. Zerreißt die Telegramme, ohne sie
gelesen zu haben. Mit Paris sind wir fertig.
Gajew. Weißt du
auch, Ljuba, wie alt dieser Schrank ist? Vor acht Tagen zog ich
zufällig die Schublade unten heraus und sah da eine Jahreszahl
eingebrannt. Rund hundert Jahre ist das Möbel alt. Was sagst du
dazu? Man hätte sein Jubiläum feiern können. Es handelt sich
allerdings nur um einen leblosen Gegenstand, aber es ist doch
immer ein Bücherschrank …
Pischtschik
erstaunt. Hundert Jahre … was Sie sagen!
Gajew. Ja,
keine Kleinigkeit, solch ein Schrank ... Betastet den
Schrank. Man sollte ihm noch nachträglich eine Festrede
halten: Alter, braver. Ehrwürdiger Schrank! Freudig bewegt stehe
ich vor dir, der du seit einem Jahrhundert den leuchtenden
Idealen des Guten und Wahren gedient hast. Dein stummer Ruf zu
fruchtbringender Arbeit hat in diesem Jahrhundert nicht an
Wirkung verloren, er hat weinerlich durch all die
Generationen in unserm Geschlecht den Glauben an eine bessere
Zukunft bewahrt und die Ideale der sozialen Gerechtigkeit in uns
lebendig erhalten. Pause.
Lopachin. Ja …
Ljubow Andrejewna.
Du bist noch immer der Alte, Leonid.
Gajew ein
wenig verlegen. Rechts vom Ball in die Ecke! Spiel' ihn
auf'n Kopf!
Lopachin
sieht auf die Uhr. Ich muß jetzt aufbrechen.
Jascha
reicht Ljubow Andrejewna eine Arzneischachtel. Vielleicht
nehmen Sie jetzt eine Pille …
Pischtschik.
Nur keine Medizin, Verehrteste … Das Zeug bringt weder Nutzen
noch Schaden … Geben Sie mal her, meine Gnädige! Nimmt die
Schachtel, schüttet die Pillen auf die flache Hand, tut sie in
den Mund und trinkt einen Schluck Bier nach. So!
Ljubow Andrejewna
erschrocken. Sie sind wohl übergeschnappt!
Pischtschik.
Alle Pillen hab' ich auf einmal genommen!
Lopachin. So
ein Nimmersatt!
Alle lachen.
Firs. Wie der
Herr bei uns zum Ostermahl war, hat er ein halbes Fäßchen Gurken
aufgegessen ... Brummt leise für sich weiter.
Ljubow Andrejewna.
Was brummt er da?
Warja. Seit
drei Jahren hat er das so an sich. Wir haben uns daran gewöhnt.
Jascha. Das
machen die Jahre.
Scharlotta Iwanowna,
im weißen Kleide, sehr eng geschnürt, eine Lorgnette am weißen
Gürtel, geht über die Bühne.
Lopachin.
Verzeihung, Scharlotta Iwanowna, ich habe Sie noch gar nicht
recht begrüßt. Will ihr die Hand küssen.
Scharlotta
entzieht ihm die Hand. Nicht doch – wenn man Ihnen den
Handkuß gestattet, wollen Sie auch gleich Ellbogen und Schulter
küssen …
Lopachin. Ich
habe heute kein Glück. Alle lachen. Scharlotta Iwanowna,
machen Sie uns doch mal ein Kunststück vor!
Ljubow Andrejewna.
Ach ja, Scharlotta, lassen Sie was los!
Scharlotta.
Jetzt nicht, ich will zu Bett gehen. Ab.
Lopachin. In
drei Wochen sehen wir uns wieder. Küßt Ljubow Andrejewna die
Hand. Leben Sie wohl bis dahin. Ich muß eilen. Zu Gajew.
Auf Wiedersehen.
Wechselt mit
Pischtschik Küsse. Auf Wiedersehen. Reicht zuerst Warja,
dann Firs und Jascha die Hand. Die Abreise wird mir schwer.
Zu Ljubow Andrejewna. Überlegen Sie sich die Sache mit
der Parzellierung, und wenn Sie einen Entschluß gefaßt haben,
lassen Sie mich's wissen. Fünfzigtausend Rubel könnt' ich gleich
für den Plan flüssig machen. Überlegen Sie es sich reiflich!
Warja. So gehen
Sie doch endlich!
Lopachin. Ich
geh' schon, ich gehe … Ab.
Gajew. Ein
richtiger Knecht. Übrigens, Verzeihung … Warja soll ihn ja
heiraten, er ist ja ihr Auserwählter.
Warja. Reden
Sie keinen Unsinn, Onkelchen.
Ljubow Andrejewna.
Warum nicht, Warja? Ich würde mich sehr freuen, er ist ein guter
Mensch.
Pischtschik.
Ja, das ist er wirklich … ein ganz braver Bursche. Auch meine
Daschenjka sagt das … Schnarcht, erwacht jedoch gleich
wieder. Sagen Sie mal, Verehrteste, könnten Sie mir nicht
240 Rubel borgen? Ich habe morgen Hypothekenzinsen zu zahlen …
Warja
erschrocken. Es ist nichts da, gar nichts!
Ljubow Andrejewna.
Ich habe wirklich kein Geld.
Pischtschik. So
viel wird sich schon finden. Lacht. Ich verlier' niemals
die Hoffnung. Dazumal dacht' ich auch schon, ich müßte kopfüber
gehen, da wurde die Bahn über mein Gut geführt, und ich kriegte
einen schönen Batzen Geld. So kann heut' oder morgen wieder was
eintreten … Daschenjka hat ein Lotterielos, sie kann das große
Los gewinnen, zweimalhunderttausend …
Ljubow Andrejewna.
So, der Kaffee wäre getrunken, nun können wir schlafen gehen.
Firs.
Bürstet an Gajew herum, in schulmeisterndem Tone. Nun haben
Sie wieder die falschen Beinkleider angezogen. Was soll ich
schon mit Ihnen anfangen?
Warja leise.
S-st! Anja schläft! Öffnet leise das Fenster. Die Sonne
ist aufgegangen, es ist gleich wärmer. Sehen Sie doch, Mamachen,
diese herrlichen Bäume! Mein Gott, diese Luft! Wie lustig die
Stare pfeifen!
Gajew öffnet
das zweite Fenster. Ganz weiß ist der Garten. Erinnerst du
dich noch, Ljuba? Diese lange Allee hier läuft ganz geradeaus,
wie ein gespanntes Seil, und bei Mondschein schimmert sie
förmlich. Weißt du noch?
Ljubow Andrejewna
sieht durchs Fenster in den Garten. O, meine Kindheit,
meine unschuldvolle Kindheit! Hier in der Stube hab' ich
geschlafen, von hier hab' ich in den Garten geschaut, jeden
Morgen erwachte das Glück zugleich mit mir, und der Garten war
ganz derselbe wie heute, nichts hat sich an ihm verändert.
Lacht vor Freude. Ganz, ganz weiß ist er! Mein lieber,
herrlicher Garten! Nach dem grämlichen Herbst und dem kalten
Winter bist du wieder jung und voll Glück, die Engel im Himmel
haben dich nicht verlassen. Ach, wenn doch jemand diese Last von
meinen Schultern nähme, wenn ich doch die Vergangenheit
vergessen könnte!
Gajew. Ja – und
der Garten wird nun subhastiert … Merkwürdig!
Ljubow Andrejewna.
Sieh doch, unsere Mutter geht dort durch den Garten … im weißen
Kleid … Lacht vor Freude. Sie ist es!
Gajew. Wo?
Warja. Der Herr
behüte Sie, Mamachen.
Ljubow Andrejewna.
Niemand ist da, es schien mir nur so. Dort rechts, an dem
Laubengang, hat sich eins der weißen Bäumchen vorgeneigt … Es
sah aus, als ob eine Frau da ginge.
Trofimow, in
abgetragener Studentenuniform, mit einer Brille, tritt ein.
Ljubow Andrejewna.
Ein wunderbarer Garten!Diese üppige Blütenpracht, und der blaue
Himmel darüber …
Trofimow.
Ljubow Andrejewna! Sie sieht sich nach ihm um. Ich will
Sie nur begrüßen und gehe gleich wieder. Er küßt gerührt ihre
Hand. Man sagte mir, ich solle bis zum Morgen warten, doch
ich hielt es nicht aus …
Ljubow Andrejewna
sieht ihn verständnislos an.
Warja unter
Tränen. Das ist Petja Trofimow, Mamachen …
Trofimow. Petja
Trofimow, der Lehrer Ihres Grischa … Hab' ich mich denn so
verändert?
Ljubow Andrejewna
umarmt ihn und weint leise.
Gajew
bewegt. Nicht doch, Ljubow, nicht doch!
Warja weint.
Ich sagte Ihnen doch, Petja, Sie sollten bis morgen warten!
Ljubow Andrejewna.
Mein Grischa … mein armer Junge … Grischa, mein Sohn …
Warja. Es ist
doch mal geschehen, Mamachen, Gott hat es so gewollt.
Trofimow
weich, unter Tränen. Genug, genug ..
Ljubow Andrejewna
weint leise. So elend mußte er umkommen, mein guter
Junge, ertrinken mußte er, warum …? Warum, mein Lieber?
Leiser. Hier nebenan schläft Anja, und ich spreche so
laut ...
Sagen Sie, Petja –
Sie sehen so mitgenommen aus? Wovon sind Sie so gealtert?
Trofimow. In
der Bahn meinte auch schon eine Frau, ich sähe so schäbig aus.
Ljubow Andrejewna.
Damals waren Sie noch ein ganz junges Kerlchen, ein lieber
kleiner Student, und jetzt ist Ihr Haar so dünn, Sie tragen eine
Brille ... Sind Sie denn noch immer Student? Geht nach der
Tür.
Trofimow. Ich
werde wohl ewig Student bleiben.
Ljubow Andrejewna
küßt den Bruder, dann Warja. Nun, geht schlafen … Auch du
bist recht gealtert, Leonid.
Pischtschik
geht hinter ihnen her. Also schlafen gehen … o weh, mein
Podagra! Ich bleibe hier bei Ihnen … Vielleicht geht's morgen
früh doch noch, liebe Freundin … 240 Rubel …
Gajew. Er läßt
und läßt nicht locker!
Pischtschik.
240 Rubel … ich muß Hypothekenzinsen zahlen …
Ljubow Andrejewna.
Ich habe kein Geld, mein Lieber.
Pischtschik.
Ich geb's bald zurück … eine so kleine Summe …
Ljubow Andrejewna.
Nun gut, Leonid wird es Ihnen geben … Gib ihm das Geld, Leonid!
Gajew. Sonst
was werde ich ihm geben.
Ljubow Andrejewna.
Was bleibt uns schließlich übrig, gib's ihm … Er braucht es … Er
wird's schon zurückzahlen …
Ljubow Andrejewna,
Trofimow, Pischtschik und Firs entfernen sich.
Gajew. Immer
noch die Alte! Immer das Geld zum Fenster hinaus. Zu Jascha.
Drück' dich, mein Lieber, du riechst nach Hühnermist.
Jascha
lächelnd. Sie sind immer noch derselbe, der Sie waren,
Leonid Andrejewitsch.
Gajew. Wie war
das? Zu Warja. Was sagt der Bursche?
Warja zu
Jascha. Deine Mutter ist aus dem Dorfe gekommen, sie möchte
dich sehen. Seit gestern sitzt sie in der Gesindestube.
Jascha. Mag sie
doch sitzen!
Warja. Was?
Schämst du dich nicht?
Jascha. Was
hab' ich von meiner Mutter? Hätt' ebensogut morgen kommen
können. Ab.
Warja Mamachen
ist unverbesserlich: alles gäbe sie hin, wenn man sie frei
schalten ließe.
Gajew. Ja …
Pause. Wenn gegen eine Krankheit recht viele Mittel
vorgeschlagen werden, so heißt das, sie ist unheilbar. Ich
zerbreche mir den Kopf, ersinne bald diesen, bald jenen Ausweg,
und weiß im Grunde genommen nicht einen einzigen. Wenn man so
jemanden beerben könnte … oder wenn sich für Anja ein reicher
Mann fände … oder wenn wir unser Glück bei der Gräfin in
Jaroslawl versuchten … die Gräfin ist schwer reich, sie ist
unsere richtige Tante …
Warja weint.
Wenn der liebe Gott uns doch helfen wollte!
Gajew. Heul'
nicht! Die Tante will leider nichts von uns wissen. Sie kann's
meiner Schwester nicht verzeihen, daß sie einen simplen
Advokaten geheiratet hat, der nicht mal von Adel war.
Anja erscheint
in der Tür.
Gajew. Dann ist
sie auch mit Ljubas Aufführung unzufrieden. Gewiß, die
Tugendrose verdient sie nicht. Sie ist herzensgut und ein
prächtiger Kamerad, ich habe sie aufrichtig lieb, aber soviel
mildernde Umstände man ihr auch bewilligen mag – zum Laster
neigt sie nun mal. Das spürt man in jeder Bewegung.
Warja
flüstert. Anja steht in der Tür.
Gajew. Was ist?
Pause. Merkwürdig – ich hab' was am rechten Auge ...Kann
damit gar nicht sehen. Auch neulich, am Donnerstag, wie ich auf
dem Bezirksgericht war ...
Anja tritt ins
Zimmer.
Warja. Warum
schläfst du nicht, Anja?
Anja. Ich kann
nicht einschlafen. Ganz unmöglich.
Gajew. Mein
Herzchen … Küßt Anja Gesicht und Hände. Mein liebes
Mädchen … Unter Tränen. Du bist nicht meine Nichte, du
bist mein Engel, mein Alles. Glaub' es mir, glaub's …
Anja. Ich
glaube dir, Onkel, wir lieben und achten dich alle … aber lieber
Onkel, du solltest viel weniger reden. Was hast du da wieder von
meiner Mutter gesagt, von deiner eigenen Schwester? Warum sagst
du so etwas?
Gajew. Ja, ja …
Verdeckt sein Gesicht mit ihrer Hand. Das ist
schrecklich, in der Tat! O Gott, steh' mir bei! Auch vorhin,
diese Rede vor dem Bücherschrank … wie albern! Erst als ich zu
Ende war, merkte ich, wie dumm ich mich benommen hatte.
Warja. Das
stimmt, Onkelchen. Sie sollten viel weniger reden. Schweigen Sie
doch einfach!
Anja. Es wird
dir viel leichter ums Herz sein, wenn du schweigst.
Gajew. Ich
schweig' schon. Küßt Anja und Warja die Hand. Ich
schweige schon. Nur noch ein Wort zur Sache. Am Donnerstag war
ich auf dem Bezirksgericht, da blieben wir dann noch ein
Weilchen beisammen, dies und das kam zur Sprache, vom
Hundertsten ging's ins Tausendste – kurzum, ich hoffe, gegen
Wechsel ein Darlehn zu bekommen und die Bankzinsen zu bezahlen.
Warja. Wenn
doch Gott uns helfen wollte!
Gajew. Am
Dienstag fahr' ich hin, um nochmal Rücksprache zu halten. Zu
Warja. Heul' doch nicht. Zu Anja. Deine Mutter wird
mit Lopachin reden, er wird ihr sicher keinen Korb geben … Und
du fährst, sobald du dich ausgeruht hast, nach Jaroslawl zu
deiner Großtante, der Frau Gräfin. So nehmen wir die Sache von
drei Seiten in Angriff – und sind gerettet. Die Zinsen werden
wir bezahlen können, das glaub' ich ganz bestimmt … Steckt
einen Bonbon in den Mund. Ich gebe dir mein Ehrenwort: Das
Gut wird nicht verkauft! Lebhaft. Bei meiner Seele
schwör' ich's: hier hast du meine Hand, einen Waschlappen kannst
du mich nennen, einen ehrlosen Wicht, wenn ich's zur
Versteigerung kommen lasse. Bei allem, was mir heilig ist,
schwör' ich's dir!
Anja
Beruhigt und glücklich. Wie gut du bist, Onkel. Wie lieb und
klug. Umarmt den Onkel. Jetzt bin ich beruhigt. Ganz
ruhig und glücklich bin ich.
Firs tritt
ein. Vorwurfsvoll. Leonid Andreïtsch – um Gotteswillen: wann
wollen Sie endlich zu Bett gehen?
Gajew Gleich,
gleich. Geh' nur, Firs, ich brauche dich nicht mehr, werde schon
allein ins Bett finden. Nun, Kinderchen, in die Federn! … Alles
Nähere morgen, jetzt geht schlafen. Küßt Anja und Warja.
Ich bin noch einer von der alten Garde, so aus den achtziger
Jahren. Ich besitze meine Überzeugungen und habe für sie manches
Opfer gebracht. Nicht umsonst ist mir der Bauer zugetan. Unsere
Bauern muß man kennen! Man muß wissen, daß sie …
Anja. Schon
wieder, Onkel!
Warja.
Schweigen Sie doch, Onkelchen!
Firs
ärgerlich. Leonid Andreïtsch!
Gajew. Ich
gehe, ich gehe … Legt euch zu Bett. Ich spiele auf den Weißen,
zweimal an die Bande … Ab, hinter ihm trippelt Firs daher.
Anja. Ich bin
jetzt vollkommen beruhigt. Nach Jaroslawl zu fahren, hab' ich
keine Lust, ich mag die Gräfin nicht. Aber sonst … hat mich der
Onkel ganz beruhigt. Setzt sich.
Warja. Nun
wollen wir doch schlafen gehen … Übrigens, während du fort
warst, gab's hier allerhand Scherereien. Du weißt, im kleinen
Gesindehaus wohnt die alte Dienerschaft: Jefimuschka, Polja,
Jewstignej, na, und Karp. Es fand sich da allerhand Gesindel bei
ihnen an, dem sie Nachtquartier gaben. Ich drückte ein Auge zu,
bis mir hinterbracht wurde, daß sie böse Reden über mich
führten, ich sei geizig, gebe ihnen schlecht zu essen, und so
weiter. Jewstignej sollte dahinter stecken, hieß es – ich lasse
ihn mir also kommen … gähnt und sage zu ihm: was bist du
doch für ein dummer Kerl, Jewstignej! Sieht Anja an.
Ännchen! … Pause. Sie ist eingeschlafen … Nimmt Anjas
Arm. Nun geht's aber ins Bett … komm! Führt sie. Mein
Seelchen ist eingedruselt . Komm ...
Sie gehen. Aus der
Ferne, über den Garten her, ertönt eine Hirtenflöte. Trofimow
geht über die Bühne und bleibt beim Anblick der beiden Mädchen
stehen.
Warja. S-st!
Sie schläft … schläft … Komm, mein Kind.
Anja leise
im Halbschlummer. Ich bin müde … Es klingt mir so im Ohr …
Der Onkel ist … so lieb … Mama und der Onkel …
Warja. Komm,
Kind, komm .. Beide ab in Warjas Zimmer.
Trofimow
gerührt. Meine Sonne! Mein Frühling!
Vorhang.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-kirschgarten-3977/2 |