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Aspekte der Textanalyse - Schiller, Über die ästhetische Erziehung ...  - 6. Brief

Inhaltliche Erfassung des Textes


FAChbereich Deutsch
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   ▪ Textauszug 6. Brief

Der 6. Brief Schillers "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" lässt sich wie folgt inhaltlich erfassen:

Aber bei einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muss uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen der heutigen Form der Menschheit und zwischen der ehemaligen, besonders der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andere bloße Natur geltend machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zustatten kommen, die sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu sein. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplizität, die unserem Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsere Nebenbuhler, ja oft unsere Muster in den nämlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.

Die offenkundigen Unterschiede (Kontrast) zwischen der griechischen und modernen Zivilisation und Kultur (Form der Menschheit)

  • Die moderne Gesellschaft ist mit dem von ihr erreichten Kulturzustand (Zivilisationsgrad) dem "bloßen" Naturzustand auf Grund des zivilisatorischen Fortschritts überlegen. Diese  Überlegenheit besteht aber gegenüber der antiken griechischen Kultur nicht.

  • Griechische Kultur besticht im Allgemeinen durch ihre Mustergültigkeit, durch Einfachheit (Simplizität), durch die von ihre verwirklichte Harmonie zwischen Form und Inhalt (Form und Fülle), durch ihren Grad an Bildung und durch den Rang ihrer Philosophie, durch die von ihr geleistete Integration von gegensätzlichen Emotionen (zart und energisch) und durch das gleichberechtigte Miteinander von Kreativität (Phantasie) und Rationalität.

Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, miteinander feindselig abzuteilen und ihre Markung zu bestimmen. Die Poesie hatte noch nicht mit dem Witze gebuhlt und die Spekulation1 sich noch nicht durch ihre Spitzfindigkeit geschändet. Beide konnten im Notfall ihre Verrichtungen tauschen, weil jedes, nur auf seine eigene Weise, die Wahrheit ehrte. So hoch die Vernunft auch stieg, so zog sie doch immer die Materie liebend nach, und so fein und scharf sie auch trennte, so verstümmelte sie doch nie. Sie zerlegte zwar die menschliche Natur und warf sie in ihrem Götterkreis vergrößert auseinander, aber nicht dadurch, dass sie in Stücken riss, sondern dadurch, dass sie sie verschiedentlich mischte, denn die ganze Menschheit fehlte in keinem einzelnen Gott. Wie ganz anders bei den Neuern! Auch bei uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergrößert auseinandergeworfen - aber in Bruchstücken nicht in veränderten Mischungen, dass man von Individuum zu Individuum herumfragen muss, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen. Bei uns möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemütskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.
Ich verkenne nicht die Vorzüge, welche das gegenwärtige Geschlecht, als Einheit betrachtet und auf der Waage des Verstandes, vor dem Besten in der Vorwelt behaupten mag; aber in geschlossenen Gliedern muss es den Wettkampf beginnen und das Ganze mit dem Ganzen sich messen. Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen Mann mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit zu streiten?

Das Verhältnis von Verstand und Gefühl

  • In der griechischen Antike dienen Verstand und Gefühle (Sinne) gleichermaßen und in grundsätzlichem, ganzheitlichen Einklang miteinander der Erfassung und der Gestaltung von Welt. Verstandesmäßige Betrachtung von Dingen erfolgte, ohne dass Rationalität dominierte. Die griechische Götterwelt mit ihrer Vielzahl von Göttern repräsentieren zwar einzelne menschliche Eigenschaften, aber damit wir die die ganzheitliche Sicht auf die menschliche Natur nicht aufgegeben. In jedem Gott, in jedem einzelnen, findet sich auch das Ganze der Menschheit wieder.

  • In der Gegenwart findet man in den klar voneinander unterschiedenen Individuen nirgendwo mehr einen einzelnen Menschen, der sämtliche Anlagen, Befähigungen und sittlichen Einstellungen der Menschheit als Ganzes in sich trägt. Selbst wenn man die Errungenschaften rationaler Welterkenntnis nicht schmälern will, kann man doch feststellen: Ein Großteil der Menschen verfügt besonders im Bereich sinnlicher Erfahrung und Erkenntnis bestenfalls noch über völlig zurückgebildete Anlagen.

  • Die Ursache dieser Unterschiede ist: Der griechische Mensch kann Verstand und Gefühle (Sinne) als eine natürliche Einheit erleben und leben, der moderne Mensch ist vom Verstand beherrscht, zeigt sich allein vom Kopf bestimmt.

Woher wohl dieses nachteilige Verhältnis der Individuen bei allem Vorteil der Gattung? Warum qualifizierte sich der einzelne Grieche zum Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dies der einzelne Neuere nicht wagen? Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen erteilten.
Die Kultur selbst war es, welche der neueren Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machten, so zerriss auch der innere Bund der menschlichen Natur; und ein verderblicher Streit entzweite ihre harmonischen Kräfte. Der intuitive2 und spekulative3 Verstand verteilten sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern, deren Grenzen sie jetzt anfingen mit Misstrauen und Eifersucht zu bewachen, und mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten mit Unterdrückung der übrigen Anlagen zu endigen pflegt. Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen. [...]

Die Ursachen der Entfremdung des modernen Menschen von seiner Natur

  • Entscheidende Ursache der Entfremdung des Menschen von seiner ursprünglichen Natur ist der Zivilisationsprozess (Kultur) und die gesellschaftliche Entwicklung mit ihrer sozialen Differenzierung und ihrem wissenschaftlichen  Fortschritt. Diese Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass eine von den Sinnen geleitete, nicht auf verstandesmäßiges Erfassen ausgerichtete Art der Welterkenntnis und die rationale, nur auf den Verstand gestützte Sicht der Dinge zu unvereinbaren Gegensätzen wurden. Sie haben sich so weit voneinander entfernt, dass sie die jeweiligen Erkenntnisse der anderen Anschauungsweise bestreiten und unmöglich machen.

Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre ihre Zwecke eine Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? Es muss also falsch sein, dass die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer der Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muss es bei uns stehen, diese Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wiederherzustellen.

Konsequenzen

  • Die Entfremdung des Menschen von seiner Natur muss aufgehoben werden.

  • Es ist Aufgabe der Kunst, dem Prozess der Entfremdung des Menschen von seiner Natur entgegenzuwirken.

1 Spekulation = in diesem Zusammenhang philosophischer Gedankengang, der über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgeht (hypothetisch) spekulativ = hier: in der Art der (philosoph.) Spekulation denkend
2
 intuitiv = Erkennen und Erfassen von Sachverhalten und Problemen in Form der Intuition, d.h. unmittelbares, nicht auf Reflexion beruhendes Erfassen
3 spekulativ: siehe 1)

   ▪ Textauszug 6. Brief

 Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 16.12.2023

 
 

 
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