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Die szenisch präsentierte dramatische Handlung setzt in der ersten Szene (I,1) des Dramas "Nathan der Weise" von
Gotthold Ephraim
Lessing, die ganz im Dienste der
Exposition steht, mit
einem dramatischen Auftakt
(point
oft attack) ein, der die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das
dramatische Geschehen lenken soll. Die Ankunft Nathans und die sichtliche
Aufgeregtheit seiner Haushälterin darüber (sie (läuft) »ihm entgegen«)
erfüllen zunächst einmal diese phatische Funktion.
Daja, die Haushälterin
bei Nathan ist, begrüßt diesen, als er von einer längeren
Geschäftsreise nach Hause kehrt, mit einem Ausdruck großer Erleichterung.
Indem sie Gott dafür dankt, lässt sie aber auch zugleich durchscheinen, dass
sie über seine Rückkehr mehr als nur erleichtert ist.
Nathan, der den
tadelnden Unterton Dajas (»Dass ihr doch endlich einmal (!) wiederkommt",
V )
heraushört, weist diesen im Grunde genommen anmaßenden Tadel
seiner Haushälterin nicht konfrontierend zurück, sondern reagiert
vergleichsweise gelassen mit drei Gegenfragen: »Doch warum endlich? Hab ich
denn eher wiederkommen wollen? Und wiederkommen können?« Zugleich hat es den
Anschein, dass ihn diese Art der Begrüßung durch Daja doch ein wenig stutzen
lässt. Dennoch begnügt er sich zunächst mit der Erklärung, dass er die lange
Reise von Babylon nach Jerusalem, auf der er Schulden einkassiert habe, wohl
kaum schneller habe hinter sich bringen können. Und vielleicht "schwingt",
solange Nathan ja nicht weiß, was in seiner Abwesenheit geschehen ist, "in die besonnene
Erklärung ein aus der dem Begrüßten überflüssig erscheinenden
Unterstreichung des Wiederkommens resultierender Ton von Unwillen und Vorwurf
hinein." (Müller,
Joachim 1970 zit. n.:
Wolfgang
Kröger, Lessings Nathan der Weise ein toter Klassiker? 1980, S.66-68,
S.70f.)
Aus diesem Grund intensiviert Daja mit deutlicher
Emphase ihre
sich anschließende Äußerung, die sie geradezu pathetisch mit der
Interjektion "O Nathan" an den Rückkehrer richtet. Dabei ist es keineswegs
ein schreckliches Ereignis von dem sie zu berichten hat, sondern lediglich
das Gefühl, dass etwas hätte passieren können. »...Wie elend, elend hättet
Ihr indes Hier werden können...« bedeutet sie ihm mit einer emphatischen
Doppelung (»elend, elend«) und will gerade anheben, von dem Brand seines
Hauses zu erzählen, als ihr Nathan ins Wort fällt und zu verstehen
gibt, dass er darüber längst informiert ist. Doch Daja fährt unbeirrt fort
und steigert das Ganze noch damit, was sich hätte ereignen können (»Und wäre leicht von Grund aus
abgebrannt«).
Nathan bleibt auch darüber gelassen und macht sich sogar ein
wenig lustig über die Dramatisierung eines gar nicht stattgefundenen
Geschehens, wenn er ihr entgegenhält, dass er in einem solchen Fall eben ein
neues und sogar noch bequemeres Haus gebaut hätte. Eine wirtschaftliche
Katastrophe jedenfalls, das macht er damit unmissverständlich klar, wäre
auch das für ihn und die Seinen nicht gewesen.
Aber noch hat Daja ihren
Trumpf zur Sensationalisierung des Geschehenen nicht ausgespielt. Mit ihrem
"Schon wahr!" wischt sie die Äußerungen Nathans einfach vom Tisch und
konfrontiert ihn fast überheblich damit, dass Recha bei dem Brand beinahe
umgekommen sei.
Nathan reagiert spontan betroffen und nimmt das Wort Dajas
auf und will mit vier nacheinander ausgerufenen Fragen »Verbrannt? Wer?
meine Recha? sie?« sofort Genaueres wissen, da ihm dies vorher nicht
zugetragen worden war. Wie nahe Nathan die Vorstellung eines solchen
Unglückes geht, wird von Lessing auch durch die sprachliche Gestaltung der
Verse unterstrichen.
Joachim Müller
(1970, zit. n.
ebd.)
spricht in diesem Zusammenhang von einer "geradezu verwirrende(n) Sprachbewegung",
die durch die Art, wie die dahinfließenden Äußerungen in ihrer alternierenden Abfolge von
einer unbetonten und einer betonten Silbe (Jambus)
durch "das dreimalige
Enjambement sowie durch erregte Ausrufe
und überhastete Appellationen unterbrochen, ja zerrissen" würden.
Für einen
Moment scheint es, als ob sich Nathan, indem er mit einer an sich selbst
gerichteten Aufmunterung (»Nun dann!«) an seine Äußerung von zuvor anknüpft
(» So hätte Ich keines Hauses mehr bedurft.«), sich kurz und knapp die
Konsequenzen eines solchen Geschehens vor Augen führt und gleichzeitig mit
seiner im Konjunktiv II Plusquamperfekt geäußerten Sorge (»hätte«), die auf
Nichtwirkliches verweist, "abgehakt".
Doch was ihn bei diesem Gedanken
wirklich aufwühlt, entwickelt ihre eigene Dynamik. Wie aus dem Nichts steht
ihm offenbar vor Augen, was während seiner Abwesenheit hätte geschehen
können, als er die Worte Dajas erneut aufgreift und in einem deutlich
erregten Tone ausruft: »Verbrannt / Bei einem Haare!«
Der hinter diese und
andere Äußerungen Nathans gesetzte Gedankenstrich schafft indessen keine
Atem- bzw. Gedankenpause. Hinter ihm steht die ganze Dynamik der
Assoziationen und
Emotionen, die Nathan quasi sprachlich vor sich hertreiben, auch wenn dieser
sich mit seinen folgenden Äußerungen durchaus rational zu positionieren
gedenkt.
Ohne dass es in den Äußerungen Dajas einen Hinweis darauf gibt,
nimmt er nämlich plötzlich an, dass das eben nur Vorgestellte und
Nichtwirkliche sich tatsächlich ereignet hat. Der Schrecken fährt ihm in die
Glieder (»Warum erschreckest du mich denn?«), wofür er etwas später Daja
verantwortlich macht. So unterstellt er ihr, ihm nicht die Wahrheit gesagt
zu haben, und glaubt, dass Recha bei dem Brand tatsächlich ums Leben
gekommen ist (»Ha! sie ist es wohl!/ Ist wirklich wohl verbrannt! - «).
Noch
fehlt ihm zwar die Gewissheit (siehe das zweimalige »wohl«), doch fordert er
Daja auf, ihm endlich die Wahrheit offen ins Gesicht zu sagen (»Sag nur
heraus! / Heraus nur! - Töte mich: und martre mich/ Nicht länger. - «)
Dabei
hält er Daja eine falsche Rücksichtnahme vor, wenn sie ihn im Ungewissen
lasse und dadurch erst recht martere. Mit seinem Ausruf »Töte mich«
entbindet er sie von jeglicher Rücksichtnahme, auch wenn die vermeintliche
Schreckensnachricht seinen physischen und/oder psychischen Tod
bedeutet. Mit seiner vermeintlich vorweggenommenen Annahme »Ja, sie ist
verbrannt.« spricht er sich damit sein Urteil selbst.
Doch Daja setzt den Spekulationen Nathans ein schnelles Ende, indem sie ihn
fragt, ob er eine solche Schreckensnachricht (erst) von ihr erfahren würde.
Ebenso denkbar ist aber auch etwas anderes. Sie könnte damit ebenso gut
meinen, dass sie ihm in einem solchen Falle selbstverständlich die Wahrheit
sagen würde. Dann wäre ihre Frage eine Reaktion auf die Unterstellungen
Nathans, dass sie ihn mit der "Unwahrheit" »martre«. Dafür spricht auch
Nathans Reaktion, der Daja, wie schon gesagt, vorwirft, sie erschreckt zu
haben.
Wie auch immer, in Sekundenschnelle wandeln sich Nathans Gefühle: dem
Schrecken folgt ein "erlösende(s) Aufatmen Nathans", das mit "der doppelte(n), somit emphatische(n)
Namensanrufung - »O Recha! O meine Recha!«- (...) nicht zu der
eigentlich aus dem »bei einem Haare« zu erwartenden näheren
Erklärung Dajas über die Gefährdung Rechas (führt), sondern das
Pronomen »mein« evoziert Dajas für den Zuschauer befremdliche, den bisherigen
Dialog verfremdende neue Frage, die sogleich wie ein Einwand klingt: »Eure?
Eure Recha?«" (Joachim Müller
1970, zit. n.
ebd.)
Damit wechselt Daja das Thema und kommt auf die lange
zurückliegende Vorgeschichte des Dramas (▪
analytische Dramenstruktur)
zu sprechen.
Hier liegt das
erregende Moment
der Handlung dieses
analytischen
Dramas, das auch "für den Zuschauer ein neues Spannungsmoment" (Joachim Müller
1970, zit. n.
ebd.)
bringt.
Der Begriff des erregenden Moments entstammt der
Dramaturgie
Freytags
(1863). Er soll jene Stelle des Dramas bezeichnen, bei der die
bevorstehenden oder schon existierenden Verwicklungen der dramatischen
Handlung erstmals durchscheinen. Zugleich kann davon ausgehend der
eigentliche dramatische Konflikt ausgelöst werden.
Da Daja Nathan mit ihrer vorwurfsvollen Kurzfragen »Eure? Eure Recha?"«
offenkundig die Vaterschaft abstreitet,
"kann sich darin für den Zuschauer nur ein Geheimnis verbergen, das im Fortgang
des Stücks dramatische Enthüllung verlangt. Denn Nathan besteht nur bedingt
auf seiner Vaterschaft, das hört man aus dem konditionalen Neuansatz seiner
Rede heraus, der zudem syntaktisch in der Schwebe bleibt: »Wenn ich mich
wieder je entwöhnen müsste, Dies Kind mein Kind zu nennen« (V.30f.) - als
Ausruf wäre dies vollständig, Lessing hat aber kein entsprechendes Zeichen
gesetzt, man könnte die beiden Verse auch als
Aposiopese auffassen, so dass
etwa zu ergänzen wäre, was unausgesprochen bleibt: dann würde mir der
größte Schmerz zugefügt, ginge es um mein Leben. Deutlich wird in jedem Fall
eine abwehrende Gebärde des Inhalts: Ich werde mich nicht mehr entwöhnen
können, »Dies Kind mein Kind zu nennen«." (Joachim Müller, 1970, zit. n.
ebd.)
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