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Figurengestaltung in dramatischen Texten
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Kontrast-
und Korrespondenzbeziehungen der Figuren
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Figurenkonstellation
▪
Konfiguration
▪
Figurenkonzeption
▪
Figurencharakterisierung
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Literarische Charakteristik
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Patriarch-Szene im Dramentext von Lessing
▪
Der Patriarch im Rahmen der
Szenenanalysen
▪
Der christlich-dogmatische Liebesbegriff von Daja und dem
Patriarchen
Die Figur des
Patriarchen hin
Lessings
Drama »Nathan
der Weise« kann unter vielen verschiedenen Aspekten betrachtet und
interpretiert werden. Der folgende Text lädt zur Auseinandersetzung
ein (vgl.
Überblick).
Der
Patriarch, der in
Lessings
Drama »Nathan der Weise« nur in
einer einzigen Szene im
4.
Akt
(IV,2) auftritt, ist neben
Saladin eine der
historisch belegten Figuren, die der Autor in seinem Stück verarbeitet. Es
handelt sich dabei historisch um »Heraclius
von Caesarea (gest. 1191), dem seine Gegner den allerdings wohl nicht
wirklich verbürgten Mord an seinem Amtsrivalen
»Wilhelm von Tyrus (um 1130-1186) ebenso nachsagten wie seinen offenen
Ehebruch mit mehreren Geliebten und eine Reihe anderer Schandtaten.
In Europa machte er sich 1181 wegen seinem
Hang zur Prunksucht einen Namen, als er im Jahr 1181 in Begleitung von
»Roger
de Moulins, dem Großmeister des
»Johanniterordens,
und
»Arnaud de
Toroga, dem Großmeister der
»Tempelritter,
in prachtvollen Gewändern und einem riesigen Gefolge, auf einer Reise um
Unterstützung bei der Nachfolgeregelung im
»Königreich
Jerusalem warb. Allen, denen er auf der Reise die Königskrone in
Palästina anbot, winkten ab und waren offenbar der Meinung, dass dort, wo
solcher Prunk herrschte, wohl keine Hilfe vonnöten sei.
Für Lessing war dieser Patriarch von Jerusalem wohl "einfach ein zu gutes
Beispiel für den vorurteilsvollen Fanatismus des Christentums" als dass er
"auf ihn hätte verzichten können“ (Nisbet
2008, S.786) So kommt er also im Stück vor und bekommt von Lessing eine
ganze Reihe polemischer Äußerungen in den Mund gelegt.
Was er dabei
äußert, spielt dabei häufig auf den so genannten ▪
Fragmentenstreit
zwischen 1774 und 1779/80 an, wie die Auseinandersetzung von Lessing mit
verschiedenen Vertretern der lutherischen Orthodoxie und des aufgeklärten
Christentums genannt wird.
Lessings Hauptwidersacher in diesem öffentlich
geführten "Papierkrieg" (Nisbet
2008, S. 727) war der Hamburger Hauptpastor »Johann
Melchior Goeze (1717-1787).
Goeze war
ein typischer Vertreter des Konservatismus seiner Zeit, war aber wohl
"weniger fanatisch, als oft behauptet worden ist" (Nisbet
(2008, S.740), auch wenn er als
bekannter Kirchenpublizist "in trockener Buchstabentreue an den
überlieferten Glaubenssätzen festhielt." (Lichtherz
o. J., S.119). Wie andere seiner Art auch agierte er vordergründig auf dem Gebiet
der "Religionssachen", verteidigte aber in Wahrheit die landesherrliche
Bevormundung auf allen Gebieten gegen die in Deutschland
recht bescheidenen Erfolge der
Aufklärung. Und so sah er auch in der
Veröffentlichung der "Fragmente
eines Ungenannten", die einen radikalen
Angriff auf die christliche Lehre beinhalteten, letztlich einen
Angriff auf das gesamte politisch-gesellschaftliche System der Zeit, das
die orthodoxe christliche Lehre legitimierte. (vgl.
Nisbet
2008, S.734) In ihrer immer wieder sehr polemisch Auseinandersetzung
schenkten sich die beiden Kontrahenten nichts, zu gegensätzlich waren ihre
religiösen, religionsphilosophischen und politischen Überzeugungen.
So war das Mittelalter, in das Lessing die Handlungszeit seines "Nathan"
verlegte, und die Figur des historischen Heraclius besonders gut geeignet,
noch einmal mit Goeze auf der Bühne abzurechnen, zumal er seinen Gegner mit
diesem "Kunstgriff" auch "in die Rolle des mittelalterlichen Inquisitors"
drängen konnte. (Barner/Grimm/Kiesel/Kramer
1987, S.318ff.)
Auf der Bühne des Theaters konnte Lessing die
Auseinandersetzung um »Theodizee
und »Deismus
mit seinem Hauptwidersacher Goeze fortsetzen und diesem mit der Figur des
Patriarchen "ein
satirisch wirkendes "Denkmal" setzen. Das gilt selbst dann, wenn man
berücksichtigt, dass die fast grotesk wirkenden Züge des
Patriarchen, nicht nur darauf abzielten, damit "eine Satire auf Goezen"
(Lessing) auf die Bühne zu bringen. Denn, wie
Barner/Grimm/Kiesel/Kramer
(1987, S.318ff. im Anschluss an Seeba betonen, sei die Figur des Patriarchen "sprachlich
gerade durch den Mangel an orthodoxen Inhalten, durch die Formalisierung
eines Standpunktes charakterisiert" (Seeba. Genau
damit habe Lessing nämlich "die entscheidenden Punkte des Goeze-Streits und der Auseinandersetzung mit erstarrten "Orthodoxisten"
(Lessing) überhaupt" ins Visier nehmen können: "Aus formalen Gründen wurde die inhaltliche
Diskussion unterbunden; um die Geschlossenheit des Systems zu bewahren,
wurden weiterführende Überlegungen blockiert." (ebd.)
Die Parallelen zu dem historischen Heraclius zeigen sich von Anfang an
dadurch, dass er die Kirche, wie Lessing im
Nebentext explizit
formuliert "mit
allem geistlichen Pomp" auf die Bühne kommen lässt und auch der
Tempelherr bei seiner Begegnung mit dem Patriarchen von dessen "Prunk"
geradezu überwältigt zu sein scheint, auch wenn er ihn in einem deutlichen
Kontrast zur äußeren Erscheinung des Kirchenfürsten wahrnimmt.
Schon vorher ist
der Patriarch als "backstage
character" allerdings schon im Hintergrund der Bühnenhandlung präsent,
wenn der ▪
Klosterbruder dem
▪
Tempelherrn von seinen Aufträgen berichtet, die
ihm der Patriarch erteilt hat. (I,5)
Noch ehe er auf der Bühne in Erscheinung tritt, stehen dem Zuschauer - die
Distanzierung von der übermittelten Botschaft, die der Klosterbruder dabei
vornimmt, tut dazu ihr Eigenes - Skrupellosigkeit und Machtbesessenheit des
Kirchenfürsten vor Augen, der auch vor der Anstiftung zum Meuchelmord an
▪
Saladin nicht
zurückschreckt.
Als höchster Repräsentant des Christentums in Jerusalem besitzt
der Patriarch schon von
seinem Status her gesehen eine herausragende Rolle unter den Christen im
"Nathan". Was ihn aber von den Mitgliedern seiner Glaubensgemeinschaft
abhebt, ist neben seinem religiösen Dogmatismus die Art und Weise, wie er in
»machiavellistischer
Weise von seiner Vernunft Gebrauch macht, um seine Interessen
durchzusetzen.
Keiner seiner Glaubensbrüder oder -schwestern tritt die
Menschlichkeit im Namen des Glaubens so mit Füßen wie er, keiner klebt so an
den dogmatischen Formeln und keine Figur aus der Gruppe der Christen ist so
skrupellos bereit, den anderen zu hintergehen, um irgendwo im Hintergrund
die Strippen ziehen zu können.
So täuscht er auch den
▪
Tempelherrn, als
dieser seinen Rat wegen seines Gewissenkonflikts sucht, und lässt hinter
dessen Rücken den ▪
Klosterbruder weitere Informationen über den von ihm für
den Scheiterhaufen verdammten Juden (Nathan) einholen. (ad
spectatores: "Das wär' so wiederum ein Auftrag für/ Den Bruder Bonafides.")
Mit seinem Dogmatismus, seiner menschenverachtenden Skrupellosigkeit und
Hinterlistigkeit steht der Patriarch in einem klaren Kontrastverhältnis zu
den herausragenden Vertretern der beiden anderen Offenbarungsreligionen,
▪
Saladin und
▪
Nathan.
Was er in Glaubenssachen vertritt, verrät die enge Koppelung von
Machtorientierung und religiösem Fanatismus, der sich auf seinen
theologischen Dogmatismus stützt und keinerlei Einwände gelten lassen kann.
So gibt er dem Tempelherrrn, der in seiner Gewissensnot von ihm wissen will,
wie man mit einem Juden umgehen müsse (er nennt den Namen Nathans nicht),
der ein christliches Kind angenommen habe und als Jüdin aufwachsen lasse,
nur eine stereotype, alle Einwände des Tempelherrn kategorisch
zurückweisende, geradezu gebetsmühlenartig wiederholte Antwort, die in ihren
Konsequenzen härter nicht ausfallen könnte: »der
Jude wird verbrannt«. Neben der "Konzentration aller widerchristlichen
Züge", die den Patriarchen zu einer Karikatur machten, degradiere ihn vor
allem dieser Refrain seiner Rede zur "Puppe, deren Worte ans Mechanische
grenzen." (Demetz 1984,
S.198)
So zeigt er sich mit seiner "flammenden Brandrede"
als "Inkarnation dogmatischer Verblendung" (Jung
2010, S.70), "dem, im Wahn die einzig richtige Wahrheit zu besitzen -
eben den richtigen Ring! -" alle Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen
recht sind. (ebd.,
S.71) Für den Patriarchen ist die Vernunft geradezu Teufelswerk und muss
daher überall dort zurückgedrängt werden, wo sie sich im Leben der Menschen,
bei ihren Entscheidungen und davon abgeleiteten Verhaltensweisen
breitgemacht hat oder erst breitzumachen droht. So wird denn auch die
menschliche Tat Nathans, der sich des Christenmädchens Recha annimmt "zum
Frevel, die liebevolle Erziehung zur Gewalt umgelogen. [...] Die Forderungen
menschlichen Mitleids und barmherziger Hilfe büßen unter der Perspektive
dieses fast ins Grässliche überhöhten Strebens der Kirche nach
Alleinherrschaft ihr Gewicht ein". (Koebner
1987/2013, S.198)
Der Patriarch, der dem Tempelherrn bei seiner ersten Begegnung mit ihm noch
als "ein
dicker, roter, freundlicher Prälat" vorkommt (=
explizit-figurale
Charakterisierungstechnik), stellt sich schnell als fanatischer religiöser Eiferer
höchsten Grades heraus, der aufgrund
seiner kirchlichen Stellung, und nur wegen dieser, bedingungslosen Gehorsam
einfordert. Zugleich kennt er die realen Machtverhältnisse in Jerusalem auch
und weiß sich darauf einzustellen. Dass Saladin in der Stadt zur Zeit der
Bühnenhandlung das Sagen hat, ist ihm bewusst. Dementsprechend versucht er
sich auch gegenüber dem Tempelherrn abzusichern, dem er einige Zeit zuvor
über den Klosterbruder ja noch den Meuchelmord an Saladin unterschieben
wollte (I,5). Und als er vom Tempelherrn erfährt, dass dieser zu Saladin gerufen
worden ist, verlangt er noch ausdrücklich von diesem, dort keine Andeutungen
über seine Pläne gegen den Sultan fallen zu lassen ("Ich bitte meiner/ nur
im Besten bei ihm eingedenk zu sein. -/ Mich treibt der Eifer Gottes
lediglich./ Was ich zu viel tu', tu' ich ihm.").
So wirkt der Patriarch
trotz seiner "pathetisch-autoritäre(n) Gestik" (Kröger
1998, S.38) und seines geradezu totalitären Anspruchs (vgl.
Koebner
1987/2013, S.198), dem allerdings im Jerusalem dieser Tage keinerlei
Machtmittel in die Hand gegeben sind, im Grunde auch lächerlich. Für
Demetz (1984,
S.198) ist es Lessing allerdings nicht gelungen,
"das
Gefährliche des Fanatismus ins Komische zu biegen", weil "gespannter
Zorn" (»der
Jude wird verbrannt«) und Komik inkompatibel
seien. Insbesondere nach dem Holocaust habe der Refrain des Patriarchen
alles Komische verloren.