•
Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Max Brod)
•
Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Malcom Pasley 1990)
•
Strukturbegriffe der älteren
Erzähltheorie
• Lösungsvorschlag
Die
▪
Darbietungsformen
des Erzählens, die ▪
Franz Kafka in seinem Roman ▪
"Der
Prozess" verwendet, haben einen großen Anteil an der Wirkung, die von
dem Roman ausgeht. Die nachfolgenden Textauszüge dienen dazu, die
unterschiedlichen Darbietungsformen zu erkennen und voneinander
abzugrenzen. Dabei wird die Terminologie der
älteren
Erzähltheorie zugrunde gelegt, auf die sich die ▪
schulische Analyse und Interpretation erzählender Texte ▪
vorwiegend
stützt.
Für
größere Ansicht bitte an*klicken*tippen!
Text 1
"[→HL
5] Jemand musste Josef K.
verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines
Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin,
die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal
nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von
seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn
mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber,
gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein
Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war
schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das,
ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen,
Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich
darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien.
»Wer sind Sie?« fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann
aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen,
und sagte bloß seinerseits: »Sie haben geläutet?« »Anna soll mir das
Frühstück bringen«, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch
Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war.
Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte
sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der
offenbar knapp
hinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, dass Anna ihm das Frühstück
bringt.« Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang
nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Obwohl der
fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher
gewusst hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: »Es ist
unmöglich.« »Das wäre neu«, sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch
seine Hosen an. »Ich will doch sehen, was für Leute im Nebenzimmer sind und
wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.« Es fiel ihm
zwar gleich ein, dass er das nicht hätte laut sagen müssen und dass er
dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber
es schien ihm jetzt nicht wichtig.
[...]"
Text 2
"[→HL 21] [...] Als er des Hinausschauens auf
die leere Straße überdrüssig geworden war, legte er sich auf das Kanapee,
nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnet hatte, um jeden, der die
Wohnung betrat, gleich vom Kanapee aus sehen zu können. Etwa bis elf Uhr lag
er ruhig, eine Zigarre rauchend, auf dem Kanapee. Von da ab hielt er es aber
nicht mehr dort aus, sondern ging ein wenig ins Vorzimmer, als könne er
dadurch die Ankunft des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte kein
besonderes Verlangen nach ihr, er konnte sich nicht einmal genau erinnern,
wie sie aussah, aber nun wollte er mit ihr reden und es reizte ihn, dass sie
durch ihr spätes Kommen auch noch in den Abschluss dieses Tages Unruhe und
Unordnung brachte. Sie war auch schuld daran, dass er heute nicht zu Abend
gegessen und dass er
den für heute
beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen hatte. Beides konnte er
allerdings noch dadurch nachholen, dass er jetzt in das Weinlokal ging, in
dem Elsa bedienstet war. Er wollte es auch noch später nach der Unterredung
mit Fräulein Bürstner tun.
Es war halb zwölf vorüber, als jemand
im Treppenhaus zu hören war. K., der, seinen Gedanken hingegeben, im
Vorzimmer so, als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf und ab ging,
flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die gekommen war.
[...]"
Text 3
"[→HL 52] [...]»Kommen Sie mit«, sagte K., »zeigen Sie
mir den Weg, ich werde ihn verfehlen, es sind hier so viele Wege.« »Es ist
der einzige Weg«, sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, »ich kann
nicht wieder mit Ihnen zurückgehen, ich muss doch meine Meldung vorbringen
und habe schon viel Zeit durch Sie versäumt.« »Kommen Sie mit!« wiederholte
K. jetzt schärfer, als habe er endlich den Gerichtsdiener auf einer
Unwahrheit ertappt. »Schreien Sie doch nicht so«, flüsterte der
Gerichtsdiener, »es sind ja hier überall Bureaus. Wenn Sie nicht allein
zurückgehen wollen, so gehen Sie noch ein Stückchen mit mir oder warten Sie
hier, bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ich ja gern mit Ihnen
wieder zurückgehen.« »Nein, nein«, sagte K., »ich werde nicht warten, und
Sie müssen jetzt mit mir gehen.« K. hatte sich noch gar nicht in dem Raum
umgesehen, in dem er sich befand, erst als jetzt eine der vielen Holztüren,
die ringsherum standen, sich öffnete, blickte er hin.
Ein Mädchen, das
wohl
[→HL 53]
durch K.s lautes Sprechen herbeigerufen war, trat ein und fragte: »Was
wünscht der Herr?« Hinter ihr in der Ferne sah man im Halbdunkel noch einen
Mann sich nähern. K. blickte den Gerichtsdiener an. Dieser hatte doch
gesagt, dass sich niemand um K. kümmern werde, und nun kamen schon zwei, es
brauchte nur wenig und die Beamtenschaft wurde auf ihn aufmerksam, würde
eine Erklärung seiner Anwesenheit haben wollen. Die einzig verständliche und
annehmbare war die, dass er Angeklagter war und das Datum des nächsten
Verhörs erfahren wollte, gerade diese Erklärung aber wollte er nicht geben,
besonders da sie auch nicht wahrheitsgemäß war, denn er war nur aus
Neugierde gekommen oder, was als Erklärung noch unmöglicher war, aus dem
Verlangen, festzustellen, dass das Innere dieses Gerichtswesens ebenso
widerlich war wie sein Äußeres. Und es schien ja, dass er mit dieser Annahme
recht hatte, er wollte nicht weiter eindringen, er war beengt genug von dem,
was er bisher gesehen hatte, er war gerade jetzt nicht in der Verfassung,
einem höheren Beamten gegenüberzutreten, wie er hinter jeder Tür auftauchen
konnte, er wollte weggehen, und zwar mit dem Gerichtsdiener oder allein,
wenn es sein musste.
Aber sein stummes Dastehen
musste auffallend sein, und wirklich sahen ihn das Mädchen und der
Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten Minute irgendeine große
Verwandlung mit ihm geschehen müsse, die sie zu beobachten nicht versäumen
wollten. Und in der Türöffnung stand der Mann, den K. früher in der Ferne
bemerkt hatte, er hielt sich am Deckbalken der niedrigen Tür fest und
schaukelte ein wenig auf den Fußspitzen, wie ein ungeduldiger Zuschauer. Das
Mädchen aber erkannte doch zuerst, dass das Benehmen K.s in einem
leichten
Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachte einen Sessel und fragte:
»Wollen Sie sich nicht setzen?« K. setzte sich sofort und stützte, um noch
besseren Halt zu bekommen, die Ellbogen auf die Lehnen. »Sie haben ein wenig
Schwindel, nicht?« fragte sie ihn. [...]
Text 4
"[→HL 82] [...]Das Wichtigste bleiben trotzdem
die persönlichen Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der
Verteidigung. Nun habe ja wohl K. schon seinen eigenen Erlebnissen
entnommen, dass die allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganz
vollkommen ist, pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist,
wodurch gewissermaßen die strenge Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt.
Hier nun drängt sich die Mehrzahl der Advokaten ein, hier wird bestochen und
ausgehorcht, ja es kamen, wenigstens in früherer Zeit, sogar Fälle von
Aktendiebstählen vor. Es [→HL
83] ist nicht zu leugnen, dass auf diese Weise für den
Augenblick einige sogar überraschend günstige Resultate für den Angeklagten
sich erzielen lassen, damit stolzieren auch diese kleinen Advokaten herum
und locken neue Kundschaft an, aber für den weiteren Fortgang des Prozesses
bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes. Wirklichen Wert aber haben
nur ehrliche persönliche Beziehungen, und zwar mit höheren Beamten, womit
natürlich nur höhere Beamten der unteren Grade gemeint sind. Nur dadurch
kann der Fortgang des Prozesses, wenn auch zunächst nur unmerklich, später
aber immer deutlicher beeinflusst werden. Das können natürlich nur wenige
Advokaten, und hier sei die Wahl K.s sehr günstig gewesen. Nur noch
vielleicht ein oder zwei Advokaten könnten sich mit ähnlichen Beziehungen
ausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die Gesellschaft im
Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts mit ihr zu tun. Um so enger sei
aber die Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal immer
nötig, dass Dr. Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der
Untersuchungsrichter auf ihr zufälliges Erscheinen warte und je nach ihrer
Laune einen meist nur scheinbaren Erfolg erziele oder auch nicht einmal
diesen. Nein, K. habe es ja selbst gesehen, die Beamten, und darunter recht
hohe, kommen selbst, geben bereitwillig Auskunft, offene oder wenigstens
leicht deutbare, besprechen den nächsten Fortgang der Prozesse, ja sie
lassen sich sogar in einzelnen Fällen überzeugen und nehmen die fremde
Ansicht gern an. Allerdings dürfe man ihnen gerade in dieser letzten
Hinsicht nicht allzu sehr vertrauen, so bestimmt sie ihre neue, für die
Verteidigung günstige Absicht auch aussprechen, gehen sie doch vielleicht
geradewegs in ihre Kanzlei und geben für den nächsten Tag einen
Gerichtsbeschluss, der gerade das Entgegengesetzte enthält und vielleicht
für den Angeklagten noch viel strenger ist als ihre erste Absicht, von der
sie gänzlich abgekommen zu sein behaupteten. Dagegen könne man sich
natürlich nicht wehren, denn das, was sie zwischen vier Augen gesagt haben,
ist eben auch nur zwischen vier Augen gesagt und lasse keine öffentliche
Folgerung zu, selbst wenn die Verteidigung nicht auch sonst bestrebt sein
müsste, sich die Gunst der Herren zu erhalten. Andererseits sei es
allerdings auch richtig, dass die Herren nicht etwa nur aus Menschenliebe
oder aus freundschaftlichen Gefühlen sich mit der Verteidigung, natürlich
nur mit einer sachverständigen Verteidigung, in Verbindung setzen, sie sind
vielmehr in gewisser Hinsicht auch auf sie angewiesen. Hier mache sich eben
der Nachteil einer Gerichtsorganisation geltend, die selbst in ihren
Anfängen das geheime Gericht festsetzt. Den Beamten fehlt der Zusam-[→HL
84]menhang mit der Bevölkerung, für die gewöhnlichen, mittleren
Prozesse sind sie gut ausgerüstet, ein solcher Prozess rollt fast von selbst
auf seiner Bahn ab und braucht nur hier und da einen Anstoß, gegenüber den
ganz einfachen Fällen aber, wie auch gegenüber den besonders schwierigen
sind sie oft ratlos, sie haben, weil sie fortwährend, Tag und Nacht, in ihr
Gesetz eingezwängt sind, nicht den richtigen Sinn für menschliche
Beziehungen, und das entbehren sie in solchen Fällen schwer. [...]"
Text 5
"[→HL 165] [...] Dann öffnete der eine Herr
seinen Gehrock und nahm
[→HL 166] aus einer Scheide, die an
einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes, beiderseitig
geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht.
Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg
das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wusste
jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand
zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er
tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig
konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die
Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu
nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk
des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren
die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und
dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte
die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer,
der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle?
War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es
solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben
will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo
war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und
spreizte alle Finger.
Aber an K.s Gurgel legten sich
die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz
stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die
Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die
Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die
Scham ihn überleben.[...]"
•
Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Max Brod) •
Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Malcom Pasley 1990)
•
Strukturbegriffe der älteren
Erzähltheorie
Lösungsvorschlag
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
|