Auszug aus dem Kapitel
Advokat / Fabrikant / Maler (HL S. 89 Z. 17 - S. 91 Z. 1f.)
"Es war unbedingt nötig, dass K.
selbst eingriff. Gerade in Zuständen großer Müdigkeit, wie
an diesem
Wintervormittag, wo ihm alles willenlos durch den Kopf zog, war diese
Überzeugung unabweisbar.
Die Verachtung, die er früher für den Prozess
gehabt hatte, galt nicht mehr. Wäre er allein in der Welt gewesen, hätte er
den Prozess leicht missachten können, wenn es allerdings auch sicher war,
dass dann der Prozess überhaupt nicht entstanden wäre. Jetzt aber hatte ihn
der Onkel schon zum Advokaten gezogen,
Familienrücksichten sprachen mit;
seine
Stellung war nicht mehr vollständig unabhängig von dem Verlauf des
Prozesses, er selbst hatte
unvorsichtigerweise mit einer gewissen
unerklärlichen Genugtuung vor Bekannten den Prozess erwähnt,
andere hatten
auf unbekannte Weise davon erfahren, das
Verhältnis zu Fräulein Bürstner
schien entsprechend dem Prozess zu schwanken -
kurz, er hatte kaum mehr die
Wahl, den Prozess anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und
musste sich wehren. War er müde, dann war es schlimm.
Zu übertriebener Sorge war
allerdings vorläufig kein Grund. Er hatte es verstanden, sich
in der Bank in
verhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung emporzuarbeiten und
sich, von allen anerkannt, in dieser Stellung zu erhalten,
er musste jetzt
nur diese Fähigkeiten, die ihm das ermöglicht hatten, ein wenig dem Prozess
zuwenden, und es war kein Zweifel, dass es gut ausgehen müsste. Vor allem
war es, wenn etwas erreicht werden sollte, notwendig, jeden Gedanken an eine
mögliche Schuld von vornherein abzulehnen.
Es gab keine Schuld.
Der Prozess
war nichts anderes als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil
für die [→HL 90] Bank abgeschlossen hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie das
die Regel war, verschiedene Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden
mussten. Zu diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Gedanken an
irgendeine Schuld spielen, sondern den
Gedanken an den eigenen Vorteil
möglichst festhalten. Von diesem Gesichtspunkt aus war es auch
unvermeidlich,
dem Advokaten die Vertretung sehr bald, am besten noch an
diesem Abend, zu entziehen. Es war zwar nach seinen Erzählungen etwas
Unerhörtes und wahrscheinlich sehr Beleidigendes, aber K. konnte nicht
dulden, dass seinen Anstrengungen in dem Prozess Hindernisse begegneten, die
vielleicht von seinem eigenen Advokaten veranlasst waren. War aber einmal
der Advokat abgeschüttelt, dann musste die Eingabe sofort überreicht und
womöglich jeden Tag darauf gedrängt werden, dass man sie berücksichtige. Zu
diesem Zwecke
würde es natürlich nicht genügen, dass K. wie die anderen im
Gang saß und den Hut unter die Bank stellte. Er selbst oder die Frauen oder
andere Boten mussten Tag für Tag die Beamten überlaufen und sie zwingen,
statt durch das Gitter auf den Gang zu schauen, sich zu ihrem Tisch zu
setzen und K.s Eingabe zu studieren.
Von diesen Anstrengungen dürfte man
nicht ablassen, alles müsste organisiert und überwacht werden, das Gericht
sollte einmal auf einen Angeklagten stoßen, der sein Recht zu wahren
verstand.
Wenn sich aber auch K. dies
alles durchzuführen getraute, die Schwierigkeit der Abfassung der Eingabe
war überwältigend.
Früher, etwa noch vor einer
Woche, hatte er nur mit einem Gefühl der Scham daran denken können, dass er
einmal genötigt sein könnte, eine solche Eingabe selbst zu machen; dass dies
auch schwierig sein konnte, daran hatte er gar nicht gedacht. Er erinnerte
sich, wie er einmal an einem Vormittag, als er gerade mit Arbeit überhäuft
war, plötzlich alles zur Seite geschoben und den Schreibblock vorgenommen
hatte, um versuchsweise den Gedankengang einer derartigen Eingabe zu
entwerfen und ihn vielleicht dem schwerfälligen Advokaten zur Verfügung zu
stellen, und wie gerade in diesem Augenblick die Tür des Direktionszimmers
sich öffnete und der Direktor-Stellvertreter mit großem Gelächter eintrat.
Es war für K. damals sehr peinlich gewesen, obwohl der
Direktor-Stellvertreter natürlich nicht über die Eingabe gelacht hatte, von
der er nichts wusste, sondern über einen Börsenwitz, den er eben gehört
hatte, einen Witz, der zum Verständnis eine Zeichnung erforderte, die nun
der Direktor-Stellvertreter, über K.s Tisch gebeugt, mit K.s Bleistift, den
er ihm aus der Hand nahm, auf dem Schreibblock ausführte, der für die
Eingabe bestimmt gewesen war.
[→HL
91]
Heute wusste K. nichts mehr von
Scham, die Eingabe musste gemacht werden."