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Der
Inhalt des Kapitels • "Im
leeren Sitzungssaal / Der Student / Die Kanzleien"
in
•
Franz Kafkas Roman •"Der
Prozess" lässt sich in strukturierter, d.h. gegliederter Form erfassen.
Für das Kapitel • "Im
leeren Sitzungssaal / Der Student / Die Kanzleien" in •
Franz Kafkas Roman •"Der
Prozess" lassen sich unter dem Blickwinkels des
Kontrollverlusts von Josef K. und seiner Folgen folgende Hypothesen zur
Interpretation der Szene auf dem Dachboden
in den Gerichtskanzleien nutzen.
-
K. wird, ohne sich dessen
bewusst zu sein, vom Gericht geradezu angezogen (gerade so wie das
Gericht eben von der Schuld angezogen wird - vgl.
HL 9) macht sie,
erneut ohne jegliche Aufforderung dazu
eine Woche darauf am gleichen Tag
und zur gleichen Stunde (vgl.
HL 39f.)
auf den Weg zum Haus des Untersuchungsrichters
→
K. hat bis zum gewissen Grade seine Fähigkeit, das weitere
Geschehen selbst zu steuern, schon eingebüßt
-
K.
erfährt, dass das willkürliche Eindringen in die Privatsphäre zu den
selbstverständlichen Praktiken des Gerichts gehört (Untersuchungsrichter
dringt nachts in das Schlafzimmer der Frau des Gerichtsdieners ein (vgl.
HL 44) und der Student, der allen Frauen des Hauses nachstellt, dringt
immer wieder in Wohnungen ein (vgl.
HL 49)
→ Der Einbruch in die Privatsphäre K.s bei seiner Verhaftung
ist kein singulärer Akt, sondern hat System, ist überall reproduzierbar.
-
K. hat schon vor dem Untersuchungsrichter die Erfahrung gemacht, dass ihm sein forsches
Auftreten, das sich auf die Wirkung der eigenen Selbstdarstellung (sozialer Status und
rhetorische Fähigkeiten) verlässt, keinen Erfolg, sondern am Ende eher Nachteile
eingebracht hat (er
hofft auf eine Verständigung mit dem Gericht, vgl.
HL S.39;
man hat nach Abschluss der erstem Untersuchung noch sehr ungünstig über
K. geredet - vgl.
HL 40). Nun wird sein Selbstbewusstsein, sich als Mann durchsetzen zu können, in
der Episode mit der Frau im leeren Sitzungssaal schwer beschädigt. Er
kann auch als Mann am Untersuchungsrichter und seinen Leuten keine
Rache nehmen. (vgl.
HL 45)
→
K. wird von seinen männlichen Nebenbuhlern um die sexuelle
Inbesitznahme und Verfügbarkeit der Frau des Gerichtsdieners „entmannt“.
-
Die Begegnung mit den
Angeklagten, allesamt aus den höheren Klassen, auf dem Dachboden des
Hauses im Wartezimmer der Kanzleien verhilft K. zu neuen Erkenntnissen.
So registriert er genau, wie sie anscheinend sämtliche Selbstachtung
(ausgedrückt in ihrer vernachlässigten Kleidung und ihrem unterwürfigen
Verhalten und sprachlichen Gestus sowie ihrer gebückten Körperhaltung)
verloren haben (vgl.
HL 50).
→ ...
-
Auf den fast grauhaarigen,
welterfahrenen Angeklagten, den K. im Wartezimmer der Gerichtskanzleien
trifft, entlädt sich K.s aufgrund der von ihm erlittenen psychischen
Verletzungen und kognitiven Desorientierungen aufgestaute Aggression.
Wie um ein eigenes Alter Ego, so wie es sich jedenfalls seinen
Eindrücken und Erfahrungen als Zukunftsvorstellung aufdrängen muss,
gewaltsam niederzuhalten und damit von sich abzuspalten, richtet sich
die Gewalt und die Entschlossenheit (und Lust?) diesem nur scheinbar
anderen Schmerz zu bereiten (er fasst den Mann zum Abschied wirklich
fester und stößt ihn von sich, vgl.
HL 51), eigentlich gegen K.
selbst.
→ ...
-
Sein Bedürfnis, nach seiner
Gewaltanwendung gegen den anderen Angeklagten, nun auf dem schnellsten
Weg die Gerichtskanzleien wieder verlassen zu wollen, ist ein letztes
kognitives Aufbäumen, eine Entscheidung zur Flucht vor sich
(dargestellt im Alter Ego). Doch K. muss erkennen, dass ihm die
Fluchtwege schon längst abgeschnitten sind. (weiß nicht, wie er zum
Ausgang kommen soll; traut sich nicht einmal mehr zu, den wirklich
einfachen Weg nach einer genauen Wegbeschreibung zu nehmen – vgl.
HL
52) K., der noch beim ersten Ankommen am Mietshaus vor der ersten
Untersuchung, wie selbstverständlich oder magisch angezogen (?) die
richtigen Treppen findet, hat, wie so oft bei Kafka, die räumliche
Orientierung verloren.
→ K. verliert die räumliche Orientierung, seine Wahrnehmungs- und
Ereignisschemata versagen.
-
Mit dem Verschwinden des
Gerichtsdieners und dem Herankommen des Aufsichtsgebers aus der Ferne
fühlt sich K. ertappt. Zum ersten Mal stellt sich bei ihm ein Gefühl von
Schuld ein, als er sich gedanklich einem Rechtfertigungszwang
unterwirft, seine Anwesenheit in den Kanzleien zu begründen. Er weiß,
dass die Beamten wohl als einzige Erklärung akzeptieren würden, wenn er
seine Anwesenheit damit rechtfertigte, den Termin für das nächste Verhör
zu erfahren. Er weigert sich aber, dies zu tun, weil es seiner Ansicht
nach einem Akzeptieren der Anklage entspräche. Er verwirft ohne weitere
Begründung, ähnlich forsch und offensiv vorzugehen, (vgl.
HL 53) wie er es noch bei der ersten Untersuchung getan hat.
→ ...
-
Das Mädchen, das K. einen
Sessel zum Sitzen bringt, macht K. zwar ein von außen kommendes
Rationalisierungsangebot für seine körperliche Schwäche (stickige Luft
etc. – vgl.
HL 53f.),
aber insbesondere ihr Hinweis, dass dies auch
anderen so ergangen sei, beschleunigt den Prozess des Kontrollverlusts
bei K. Schamgefühle (es ist ihm peinlich , vgl.
HL 54) und das Gefühl
des Ausgeliefertseins (vgl.
HL 54), eben noch mit einem aggressiven
Übergriff auf sein Alter Ego bekämpft, bedrängen ihn und lähmen ihn (K.
antwortet nicht, vgl.
HL 54), der sich doch sonst so eloquent und
selbstsicher zu inszenieren versteht. Der Körper, und in dessen Hülle,
seine Emotionen dominieren K. in einer Weise, dass auch die von ihm
aufgebauten emotionalen Schemata, mit denen er sein Gefühlsleben mit der
Außenwelt abgleicht, nicht mehr funktionieren, das Neue jedenfalls nicht
mehr ohne weiteres integrieren können. K. ist sogar im wahrsten Sinne so
geistesabwesend, dass er die Gelegenheit, den Auskunftgeber, der
angeblich
alle Fragen beantworten kann, nach seiner Anklage und dem Fortgang
des Prozesses zu befragen, verstreichen
lassen muss. (vgl.
HL 55) Am Ende erleidet er einen nahezu
vollständigen Wahrnehmungs- und Kontrollverlust, fühlt sich beobachtet,
von diffusen Sinneseindrücken (Lärm, Sirenen – vgl.
HL 57) geplagt und
von Schamgefühlen gepeinigt.
→ K.s Körper signalisiert mit dem Schwächeanfall und seinen
Folgen den physischen, mit den Wahrnehmungs- und Bewusstseinstrübungen
den psychischen und mit der Kommunikationsunfähigkeit den sozialen
Kontrollverlust im
Setting „Auf dem Dachboden“ für die Dauer des
dortigen Aufenthaltes.
-
Beim Verlassen der
Gerichtskanzleien gewinnt K. seine Kontrolle zurück. Er erkennt zwar, dass das, was er in den Kanzleien physisch erlebt hat, nicht zu
seiner nach außen betonten Gelassenheit passt. Dennoch hält ihn diese
wahrgenommene
Inkongruenz in seinem Verhalten nicht davon ab, jeden weiteren Gedanken nach der psychosomatischen Bedeutung des Ganzen
abzuwehren. An seiner Meinung, der Prozess werde ohnehin abgebrochen werden oder
werde nur, um Bestechungsgelder kassieren zu können, scheinbar fortgeführt (vgl.
HL 43), ändert sich daher nichts. Im Gegenteil: Noch immer fühlt er sich in der
Lage, den Prozess jederzeit zu
zerschlagen (vgl.
HL 45).
Und die widersprechenden körperlichen Signale? K. will bei nächster Gelegenheit einen Gesundheitscheck machen
lassen. In jedem Falle, so spielt er das Ganze dann herunter, will er
seine Sonntage künftig mit Besserem verbringen. (vgl.
HL 58)
→
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
24.11.2023
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