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Bausteine
Drei "ältere" literaturwissenschaftliche Interpretationen zu Franz Kafka, Gibs auf
in paraphrasierter Form
Franz Kafkas
Parabel "Gibs
auf" hat etliche Literaturwissenschaftler zu Interpretationen
angeregt.
Dabei hat die offene Form dieser und anderer
derartiger Erzählungen, die Kafka immer wieder meisterhaft unter Beweis
stellte (vgl. Politzer 1978),
auch ganz unterschiedliche Sichtweisen bzw. Deutungsperspektiven auf den
Text gebracht: Historisch-biografische, soziologische, psychologische,
marxistische, existenzialistische, rezeptionsästhetische und andere
Interpretationen konkurrieren dabei miteinander. Ein Ende ist nicht
abzusehen, versucht sich doch so gut wie jeder neuartige
Interpretationsansatz am Werk dieses Dichters.
Dementsprechend kann und soll
an dieser Stelle nicht versucht werden, Licht in die "labyrinthische Fülle
an Arbeiten über Kafka" (Andringa
2008, S.318) zu bringen und einen Gesamtüberblick über die
wissenschaftlichen Interpretationen zu geben. Stattdessen sollen wenige
Beispiele exemplarisch aufzeigen, wie vielfältig die Ansätze sind, mit denen
Interpreten den Text zu fassen versuchen.
Die "Unerschöpflichkeit, die Vieldeutbarkeit oder gar Undeutbarkeit von Kafkas Werk" (ebd.,
S.315) steht dabei freilich außer Frage. Wenn "Deutungsprozesse vor allem
darin bestehen, Bedeutungen sinnvoll miteinander zu verknüpfen und in einen
Zusammenhang zu stellen", indem "jeweils Bezüge zwischen Elementen innerhalb
eines Textes oder Œvres oder zwischen Text und Bezugsfelder außerhalb des
Textes hergestellt, geprüft und ausgefüllt werden, die sich gegenseitig
erhellen und zur Bereicherung des Verstehens und zur Sinnfindung beitragen"
(ebd., S. 318),
dann kann zumindest der Anspruch auf die "richtige" Interpretation
nie eingelöst werden.
Daraus ergibt sich aber auch, dass die (Re-)Kontextualisierung des Verstehens
von Texten nicht nur die Domäne von Fachwissenschaftlern sein kann. Denn:
Wie Azinga weiter betont, "(ist) die Art und Weise, wie die Bezüge
hergestellt werden, (...) von den Fragestellungen und Interessen der
Interpreten gelenkt" (ebd.).
Dies gilt um so mehr im Rahmen des schulischen Literaturunterrichts:
Fragestellungen und Interessen von Schülerinnen und Schülern von heute
dürfen sich Kafkas Texten anders nähern als akademische Interpretation, die
von ihren disziplinären Konventionen, Entwicklungen und Moden bestimmt sind.
(vgl. ebd.)
Unter
diesem Blickwinkel betrachtet verliert auch die Unterscheidung in "ältere"
und "neuere" Kafka-Forschung ihren "modischen" Schrecken.
Die nachfolgende Darstellung verschiedener Interpretationsansätze, die
exemplarisch zu den "älteren" gehören, können dennoch wertvolle Einblicke in
Kafkas Text geben und die (Re-)Kontextualisierung des Textes durch
Schülerinnen und Schülern fördern.
Thomas Kielinger (1971) folgt in seiner Interpretation, die
am 2.1.1971 in der Zeitung Die Welt - Nr.1
veröffentlicht wurde, den hermeneutischen Prinzipien der
werkimmanenten Methode, indem er den Text einer genauen Analyse
unterwirft, die bis ins Detail reicht.
Wort für Wort, Satz für Satz wird die
Erzählung analysiert, um am Ende den Schluss ziehen zu können, dass die
"Geschichte (...) mit rigoroser Konsequenz auf das
Einverständnis mit dem "Notwendigen", dem Entzug der Hoffnung, angelegt
(ist)."
Die
Genauigkeit und den Fortgang seiner Analyse lohnt es sich näher zu
betrachten: "Jemand ist auf dem Weg zum Bahnhof. Die Zeit:
»Sehr früh am Morgen«, die Straßen: »rein und leer«. Das suggeriert
Sicherheit; wer sehr früh am Morgen, bei offenem Weg, zum Bahnhof aufbricht, braucht
nicht zu fürchten, seinen Zug zu verpassen. Diese Freiheit von Angst gibt auch der
Sprache ihre Form: die Worte wiegen sich in der Ruhe abgewogener Alternation. Man hört
den gleichmäßigen Schritt der ihrer Sache, ihres Weges sicheren Person. Zwei kurze
Hauptsätze, von einer hauptsatzartigen Apposition unterbrochen, aber im Fluss nicht
gehindert, geben der Einleitung ihre thematische wie sprachliche Zielstrebigkeit. Den
Abschluss bildet der
Spondeus1 "Bahnhof" - das Bild zweifelsfreier
Zuversicht ist vollkommen, Vertrauen verbreitet sich."
Im Anschluss daran
bemühe sich das Ich darum, mit Hilfe einer Autorität, zu der es sich in
Beziehung setzen könne, sich und seine Situation in raumzeitlichen
Koordinaten zu verorten. Diese Autorität stelle zunächst einmal die Turmuhr
dar, an der er seine eigene Uhr auszurichten gedenke.
Im Unterschied zum
Eingangssatz würden damit aber differenzierte Vorgänge in Spiel gebracht, "die, sprachlich analog, in der Form differenzierterer Satzstruktur artikuliert werden."
So erweise sich rasch, dass die Vorstellung, es sei noch früh am Morgen, die
der Mann zunächst hat, als eine Illusion, denn in Wahrheit ist es eben
»schon viel später« als er geglaubt.
So werden seine Handlungsspielräume,
die ihm angesichts dieser Situation bleiben, enger und er muss sich
»beeilen«. Und die Notwendigkeit zur Eile, das Müssen, welches das Ich
unumstößlich feststellt, führt Kielinger zur Überlegung, ob es nicht
prinzipiell denkbar sein könnte, "dass die Turmuhr vorgeht, wäre es nicht
grundsätzlich angebracht, die Autorität dieses öffentlichen Chronometers
wenigstens für einen kurzen Augenblick in Zweifel zu ziehen?" (ebd.)
Die Art
und Weise, wie das Ich sich dieser Autorität »ohne Gegenwehr« unterwerfe,
lasse schon das endgültige Scheitern erahnen. (vgl. ebd.) Alles in allem:
eine quasi "archetypische2
Kafka-Situation" in ihrer Entstehung, die beklemmend wirken
könne.
Dabei wisse man aber zunächst nicht, ob dies eher "der a priori3 gegebenen Unerbittlichkeit der Umwelt oder der nicht weniger
"prästabilierten"4
Opferbereitschaft des Individuums" zuzuschreiben sei.
In ihrer strukturellen
Koppelung aneinander liegt daher sicher die Ursache dieser Wirkung, die sich
auch im Bewusstsein des Ichs widerspiegeln. Und dies mit gravierenden
Folgen. Als es sich dieser Tatsache bewusst wird, erschrickt es und wird »im Weg
unsicher«.
"Mit dem Einsetzen der Angst," so Kielinger weiter,
"beginnen die beiden Koordinaten Raum und Zeit sich zu verändern. Bei viel
Zeit, wie sie der erste Satz zu
suggerieren5
schien, tritt der Raum zurück, gibt den Einzelnen frei; wird die Zeit knapp,
rückt auch der Raum wieder zusammen, stellt sich feindselig in den Weg. Der
Schrecken pflanzt sich kettenreaktionsartig fort: fehlt es an Zeit, dann
wächst auch die Gefahr, die Raumorientierung zu verlieren (»ließ mich im Weg
unsicher werden«), und es ist nur ein kleiner Schritt zu dem katastrophalen
Eingeständnis »ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus«."
Was
folgt, ist für Kielinger eine Kettenreaktion des Schreckens, denn wenn jemand in einer
solchen Situation keine Zeit mehr hat, kann er eben auch leicht die
räumliche Orientierung verlieren. Das Eingeständnis des Mannes, sich in »in
dieser Stadt noch nicht sehr gut« auszukennen, das sich für das Ich anfangs
ohne den Zeitdruck nicht sonderlich folgenreich anfühlte, wird fortan zu
einer Bedrohung, die Kielinger in die treffenden Worte fasst: "Was vorher
nach freier Bahn aussah, gleicht nun mehr und mehr einem Spinnennetz."
Fortan muss eben alles schnell gehen, das Ich legt, wie er fortfährt,
"hektisches Tempo" vor, das von sechs
parataktisch6
aneinander gereihten Kurzhauptsätzen mit einem ungleichen Rhythmus
unterstrichen werde. So wird über die sprachliche Gestaltung der zunehmende
Kontrollverlust des Ichs verdeutlicht, das in eine "in sich steigernde
Abhängigkeit, Getriebenheit" (ebd.) falle.
So scheint klar: "Aus dem offenen
Raum droht ein Labyrinth zu werden, aus gleichmäßig ausgreifenden Schritten
panische Bewegungen." (ebd.)
Nun kann dem Ich nur noch eine andere Autorität
helfen. Es finde diese im Schutzmann, von dem es Hilfe aus seiner ausweglos
erscheinenden Lage erhoffe. "Im Zustand panischer
Angst, wo zwei feindselige Größen wie Zeit und Raum bereits unüberhörbar
"Gibs auf"
insinuieren7,"
könne der Schutzmann Mut machen und Schutz gewähren, geradezu in Umkehrung
des von ihm tatsächlich Gesagten ein "Gib-nicht -auf" formulieren.
Damit habe es der Schutzmann in der Hand, den Bann zu brechen. Doch das Gegenteil ist der
Fall, "die vom Ich an den Schutzmann geknüpften Erwartungen - Erwartungen,
die der Leser durchaus teilt - " (ebd.) erfüllen sich nicht.
Stattdessen, so betont
Kielinger weiter, bahne sich eine zweite
Desillusionierung8
an, als der Schutzmann lächelnd sagt: »Von mir willst du den Weg
erfahren?« Für Kielinger pointiert "ein
schlechter, ein zeitraubender Witz."
Die Gegenfrage, mit der er auf die
Frage des Ichs antwortet, und sein Lächeln - "eine Mischung aus Spott,
Mitleid und Nicht-helfen-Können" - halten das fragende Ich auf
Distanz, denn damit stelle sich der Schutzmann, dessen Aufgabe von Amts
wegen sei, "Schutz zu gewähren vor der Ausweglosigkeit, Auskunft zu
geben, die aus ihr herausführt", sich aus selbst in Frage. Mit der
Konsequenz: Die Frage falle auf den ursprünglich Fragenden wie ein
Bumerang zurück und dabei werde wertvolle Zeit vertan.
Von besonderer Bedeutung ist für Kielinger "die
paradoxale9
Entsprechung der beiden Autoritätsträger »Turmuhr« und
»Schutzmann« [...]. Das Ich der Erzählung hatte die Turmuhrauskunft mit keinem Zweifel in Frage
gestellt; die sententiöse (im Sinne von englisch sentence" = Urteil)
Unerbittlichkeit war vorbehaltlos anerkannt worden. Die erste Antwort des Schutzmannes nun
zielt auf die gleiche Wirkung: abweisende Unerbittlichkeit (die sich mit der zweiten
Antwort endgültig artikuliert). Aber sie wird diesmal gerade durch das Gegenteil
erreicht; durch Infragestellen; denn da das Ich sich dem Schutzmann in der ausdrücklichen
Hoffnung auf Hilfe zugewandt hat, muss es sich hier durch Fragwürdigkeit in die gleiche
Verzweiflung versetzt sehen, wie vorher durch die Fraglosigkeit der Turmuhrinstanz.
Kunstvoll - wenn diese
ästhetische10 Vokabel bei der Analyse eines offensichtlich
existentiellen11 Textes gestattet ist - zieht hier der Autor, zieht Kafka die Schlinge der
Ausweglosigkeit ('doppelt verknotet') um den 'Helden' der Erzählung
zusammen. Die alltägliche Situation hat sich in einen Alptraum verwandelt."
Kielinger meint, dass in einer solchen Lage jeder Spruch eine befreiende
Wirkung habe, so auch der Spruch »Gibs auf, gibs auf«, mit dem der
Schutzmann den Fragenden seiner Verzweiflung überlässt. Im Klartext
gesprochen wolle der Schutzmann damit sagen: "Deine Lage ist nicht allein
prekär12, sie ist nicht nur unsicher - sie ist hoffnungslos. Die Autorität verstößt den
Einzelnen - damit ist auch die letzte Illusion entlarvt: dass der Schutzmann ein
'Schutz'-Mann sei, Schutz gewähren könne. Statt dessen wandte er sich
"mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein
wollen".
Dadurch verliere das Ich auch die Hoffnung, im Unglück
Rückhalt in oder überhaupt so etwas wie "Gemeinschaft zu
finden". Eigentlich hätten beide Protagonisten bei ihrem Frage- und Gegenfrage-Spiel
niemals echten Kontakt
zueinander gefunden und gingen wieder auseinander "wie Gestirne im
Schwebezustand unendlicher Beziehungslosigkeit."
Darin zeige sich auch "das Strukturgesetz
heimlicher
Analogie*
(ebd.). Noch am Anfang des Textes, in der Formulierung des
ersten Satzes, habe man als Leser noch den Eindruck gewinnen können, dass die darin zum Ausdruck
kommende Leere ("die
Straßen rein und leer") "noch ganz zur Dimension der Hoffnung, der hoffnungsvollen
Erwartung" (ebd.) gehöre. Am Ende des Texte freilich markiere sie die Aussichtlosigkeit jeder Hoffnung,
"die
Existenzweise einsamer Einzelner im Angesicht absoluter Verurteilung, von der auch der
Schutzmann nicht ausgeschlossen bleibt, denn der »große Schwung« umgrenzt auch
seine eigene trostlose Isolation. Sein Lachen ist das Lachen der Verzweiflung - es klingt,
um ein Wort Kafkas Gustav Janouch gegenüber zu verwenden, nach "ungeweinten
Tränen".
So kommt Kielinger am Ende zum Schluss: "An der End-Gültigkeit der Situation kann kein
Zweifel bestehen - und das nicht nur, weil die Geschichte hier tatsächlich abbricht; auf
das vernichtende "Gibs auf" (vernichtend für beide Protagonisten) erfolgt kein
Protest, das Urteil - wie zuvor bereits die Auskunft der Turmuhr - erfährt keine
Infragestellung mehr, provoziert keinen weiteren Einspruch. Die Geschichte ist mit
rigoroser Konsequenz auf das Einverständnis mit dem "Notwendigen", dem Entzug
der Hoffnung, angelegt."
Die
Vieldeutigkeit der Texte akzeptieren - Interpretationsansätze in der
Analyse von
Heinz
Politzer (1910-1978)
Heinz
Politzer (1978) kann mit seiner Analyse verschiedener
Interpretationsansätze nachweisen, dass es wenig Sinn macht, den
vieldeutigen Texten Kafkas einen eindeutigen Sinn zuzuschreiben.
Unter dem Blickwinkel eines
historisch-biographischen Ansatzes betrachtet, leidet, so Politzer, der Mann, der sich in der Parabel auf den Weg mache, "an jener
akuten Klaustrophobie von der Kafka fast während seines ganzen Lebens
besessen war."
Die klaustrophobischen Ängste Franz Kafkas - die Angst also
vor geschlossenen Räumen - resultierten dabei aus den Besonderheiten seiner
sozialen Existenz in Prag, wo er lebte. Dort habe er als deutscher Jude eine
dreifache Ghettoerfahrung machen müssen, "in dem jüdischen zuerst, das
seinerseits von aufsässigen Slawen umgeben war, um die als ein dritter Wall
die Verwaltung der altösterreichischen Beamtenschaft gezogen war, die bis
1918 im Namen Habsburgs Prag regierte."
Wie sein Protagonist in Gibs auf,
habe auch Kafka sich in Prag nicht sehr gut ausgekannt, obwohl sie seine
Geburtstadt gewesen sei. Allerdings hätten ihm Sprachbarrieren zu schaffen
gemacht, die ihn "von den Tschechen, aus denen sich die Bediensteten und
Angestellten seines Vaters rekrutierten und aus deren Mitte ihm gegen das
Ende seines Lebens die leidenschaftliche Milena Jesenská
entgegentrat, (getrennt).
Dazu sei noch gekommen, dass die Tatsache, dass er
als Jude der österreichischen Oberschicht entfremdet geblieben sei, die in
Prag nach den Vorstellungen der längst in die Jahre gekommenen Monarchie den
Ton angab. In diese gesellschaftliche Atmosphäre passt dementsprechend auch,
was sich in "Gibs auf" ereignet. Denn in "dieser Sphäre erschütterter
Autorität" werde der Schutzmann der Parabel zum "Sinnbild eines
Staatswesens, das sich zwar in der äußeren Form seiner Ämter noch
aufrechterhielt, in allem Wesentlichen aber außerstande war, dem einfachen
Untertanen Auskunft, geschweige denn Schutz zu gewähren."
Unter diesem
Blickwinkel werde die Überraschung, die der Polizist auf die Frage des Mannes
zeigt, eine Art "Eingeständnis der Ausweglosigkeit von Österreichs
politischem Schicksal" und seine Aufforderung aufzugeben, gleichsam das
Todesurteil für die überkommenen politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse.
So lässt sich nach Politzers Auffassung Kafkas Parabel angesichts ihrer Offenheit durchaus
auf eine solche Aussage bringen, wobei freilich zu berücksichtigen sei, dass
der Autor selbst das Verhältnis von Mann und Schutzmann bewusst
nicht weiter ausgeführt habe.
Betrachtet man die Geschichte von einem psychologischen
Ansatz aus, dann, so Politzer, lese sie sich wie eine Studie über
Neurasthenie. Diese Nervenschwäche spricht man heute allerdings in der
Psychotherapie nicht mehr, da heutzutage etliche andere
Krankheitsbilder wie Depressionen oder auch Burn-Out die der Neurasthenie
zugeschrieben Symptome aufweisen. Laut Wikipedia gehörte die Diagnose
"Neurasthenie" im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu
den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht." Zu ihren
Hauptsymptomen wurden anhaltende Erschöpfung und Ermüdungszustände gezählt,
die auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt wurden und zu
Folgeerscheinungen wie "Ermüdung, Ängstlichkeit, Kopfschmerzen, Impotenz bei
Männern und Frigidität bei Frauen, Neuralgie, Konzentrationsstörungen,
Freudlosigkeit und Melancholie. Ferner können sich Betroffene kaum oder gar
nicht entspannen, haben davon Spannungskopfschmerz und zeigen sich oft als
sehr leicht reizbar.
In der Parabel zeigt der Mann nach Politzer
dreimal, wie ihm die Nerven versagen: "wenn er sein Zuspätkommen
entdeckt, wenn ihn der Schutzmann mit seiner Gegenfrage mystifiziert und
wenn er am Ende in die Ohnmacht völligen Schweigens zurücksinkt."
Auf diese
Weise lieferten in uralte Ängste Situationen aus, deren Probleme er, wegen
seiner Ängste, überhaupt nicht anpacken wolle und könne.
Politzer versteht die Angst des Mannes unter psychologischer Deutungsperspektive als
eine Allegorie auf Kafkas
Vater und dessen Erziehungsmethoden, so wie sie Franz Kafka im "Brief
an den Vater" (1919) selbst beschrieben hat.
Genau hier passe nämlich,
dass "der Schutzmann (...) dem Wegsuchenden erst mit einer Gegenfrage
(antwortet) und dann mit dem vernichtenden Endurteil seiner letzten Worte."
Oder wie es im "Brief an den Vater heißt: »Wenn ich etwas zu tun anfing, was
Dir nicht gefiel, und Du drohtest mir mit dem Misserfolg, so war die
Ehrfurcht vor Deiner Meinung so groß, dass damit der Misserfolg unaufhaltsam
war« .
Eine besondere Bedeutung gewinnen nach Politzer aber auch der
Schutzmann und der Turm als Phallus-Symbole: So könne man hinter dem
Polizisten "die hünenhafte aufgereckte Traumfigur des Vaters" sehen, der dem
Sohn den Weg in das normale Leben versperrt habe, und im Tenor des "Gibs
auf" dieses Vatersymbols klängen "Kafkas Zweifel an seiner eigenen
Männlichkeit" an, die auch im "Brief an den Vater" thematisiert werden.
Neben diesen Deutungsperspektiven lässt sich die Parabel
Kafkas auch mit einem religiösen Ansatz interpretieren. Hier stelle
der Schutzmann nicht mehr die Figur des leiblichen Vaters dar, "sondern
erscheint als der Sendung einer spirituellen Sphäre, die der menschlichen
nichts anderes mitzuteilen hat als das Gebot, 'es aufzugeben', und sich
sodann majestätisch den eigenen Obliegenheiten zuwendet. Das Fremdgefühl des
Menschen auf dieser Erde, die Unvertrautheit des Mannes mit der Stadt
erhalten nun einen metaphysischen Sinn.
Das Urteil des "Gibs auf" werde auf diese Weise
zum "Gottesurteil" (Politzer): "Angesichts dieser totalen Entfremdung
zwischen Oben und Unten gewinnt das 'glücklicherweise', mit dem der Wanderer
das Sicherheitsorgan begrüßt, den Tonfall religiöser Ironie. Denn für diesen
Mann, den Heimatlosen, bedeutet es in der Tat schon unverhofftes Glück,
einen Abglanz der verlorenen Heimat zu Gesicht zu bekommen [...] Freilich
fügt er im selben Atemzug hinzu, dass dieses Glück ihm nicht gegeben war,
freilich vollführt der Polizist den großen Schwung seiner Abwendung, und
unsere Anekdote wird zur Aussage über eine Situation der Menschengeschichte,
in welcher der Abfall der Welt von ihrem Schöpfer dem Einzelnen als
unheimliche Ungewissheit über seinen Weg ins Bewusstsein getreten ist."
"Die Realität wird durchgängig mystifiziert." Helmut
Richters Ablehnung der Parabel aus der Sicht der DDR-Literaturwissenschaft
Helmut Richter
(1962, S.219) macht aus seiner Ablehnung der Parabel Kafkas aus der
Sicht der DDR-Literaturwissenschaft der sechziger des vorigen Jahrhunderts
keinen Hehl. Für ihn manifestiert sich in der Erzählung "die untergründige
Sinnlosigkeit des Lebens" und damit eine werde eine Vorstellung von
(gesellschaftlicher) Wirklichkeit zur Darstellung gebracht, "die infolge der
Betrachtungsweise eines durch diese Widersprüche entscheidend beeinflussten
Beobachters abermals entstellt worden ist."
Er stützt seine Behauptung u. a.
auf die nachfolgende Analyse: "Der Schutzmann, der auf die unbefangene Frage nach dem Weg zum Bahnhof ein
höhnisches "Gibs auf!" zur Antwort gibt, wird zum Propheten der Vergeblichkeit
alles Suchens überhaupt. Hier ist nur ganz persönliches Weltgefühl gestaltet, der
Komplex eines Menschen, dem das Leben infolge seiner spezifischen Betrachtungsweise des
Daseins - die natürlich letzten Endes durch gesellschaftliche Erfahrungen bedingt ist -
nichts mehr zu bieten hat." So habe das Stück den den Charakter einer
Traumepisode". Daher sei das Stück im Grunde "nur die schlaglichtartige Inkarnation eines falschen Dogmas und
vermag auch in der Gestaltung nicht zu überzeugen. Es ist bezeichnend, dass Kafka immer
auch künstlerisch scheitert, sobald er zu gestalten versucht, dass es grundsätzlich
unmöglich sei, mit der Welt fertig zu werden. Ein weiteres Beispiel dafür ist das ebenso
rein artifizielle Stück »Eine alltägliche Verwirrung«, das ein zufälliges Verfehlen
zweier Menschen so monströs systematisiert, bis nur absoluter Unsinn übrig bleibt. Hier
liegt nur noch eine sehr indirekte Widerspiegelung vor: Nicht eine durch Widersprüche
entstellte Wirklichkeit wird dargestellt, sondern eine Wirklichkeit, die infolge der
Betrachtungsweise eines durch diese Widersprüche entscheidend beeinflussten Beobachters
abermals entstellt worden ist. Künstlerische Erkenntnis und Gestaltung von Realität ist
auf dieser Basis nicht möglich. Die Realität wird durchgängig mystifiziert."
WORTERKLÄRUNGEN:
1
Spondeus: Versfuß aus zwei Längen
2
archetypisch: der Ursprungsform entsprechend, der Urform entsprechend
3
a priori:
allg. von vornherein, grundsätzlich; von der Erfahrung oder der Wahrnehmung
unabhängig; durch vernunftgemäßes, logisches Erschließen gewonnen;
4
prästabiliert: im Voraus festgelegt, nicht veränderbar
5
suggerieren: 1. jemandem etwas einreden, ohne dass dies dem Betroffenen
bewusst wird; 2. darauf abzielen, einen bestimmten Eindruck entstehen zu
lassen, der den Tatsachen nicht entspricht (täuschen)
6 parataktisch: Aneinanderreihung von Hauptsätzen (→Parataxe)
7 insinuieren: einschmeicheln
8
Desillusionierung: 1. (ohne Pl.) Enttäuschung, Ernüchterung 2.
enttäuschendes Erlebnis; Erfahrung, die eine Illusion zerstört
9
paradoxal: auch: paradox; 1. widersinnig, einen Widerspruch enthaltend
2. (ugs.) sehr merkwürdig, unsinnig, völlig abwegig
10 ästhetisch: 1. die Ästhetik
betreffend 2. stilvoll, schön, geschmackvoll
11
existentiell: auf das unmittelbare und wesenhafte Dasein bezogen,
daseinsmäßig
12
prekär:
misslich, schwierig, heikel
13
Analogie: Entsprechung, Ähnlichkeit, Übereinstimmung
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Bausteine
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.09.2023
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