In
seinem "Brief an den
Vater", den Franz Kafka im
November 1919
im Alter von 32 Jahren verfasst, setzt sich der Sohn mit seinem Vater
Herrmann Kafka auseinander. Der Brief ist diesem freilich niemals übergeben
worden und wurde erst, wie die meisten Werke Franz Kafkas, erst nach dessen
Tod veröffentlicht. Unabhängig davon, wie man die Rolle von Franz Kafka in
der Auseinandersetzung mit dem Vater sieht, "(zeugen) die Dokumente von
Kafkas von Kafkas Leben, seine Tagebücher und besonders sein Brief an den
Vater, (...) von tiefstgehender Ambivalenz gegen Autorität im
Allgemeinen und die Autorität seines Vaters im Besonderen. Auch gaben sie
schwersten Selbstzweifeln, bittersten Selbstanklagen und der
Selbstverdammung Ausdruck, die kaum ihresgleichen in autobiographischem
Schreiben finden. Verehrung des Vaters, der prototypischen Autoritätsgestalt
in Kafkas Leben, wechselte ab mit zutiefst rebellischer, ironischer und
satirischer Kritik.“ (Sokel
2006, S.22)
Das in dem Brief enthaltene Vaterbild mit dem typischen
"Fond" der Familie ("Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen" ebenso wie
"Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung,
Selbstzufriedenheit") sollte man jedoch, wie
Peter-Andrè Alt (2008, S.24f.) betont, "mit Vorsicht betrachten, dient
sie [die Typologie, der Verf.] vor allem dazu, ihr das Selbstporträt des
schwachen, kränkelnden, ängstlichen, wortarmen Kindes entgegenzusetzen.
Insofern erfüllt sie einen literarischen Zweck, der den Prinzipien der
Imagination gehorcht: die Figur des vitalen, wirtschaftlich erfolgreichen
Vaters wird entworfen, damit das Ich, das den Namen »Franz Kafka« trägt,
über den Mechanismus der Abgrenzung ein eigenes Identitätsprofil gewinnen
kann." Dabei stilisiere er, wie Sokel anmerkt, seine familiären Machtverhältnisse zu einem
symbolischen Ordnungsgefüge, auf die all Kämpfe, die in seinem Gesamtwerk
enthalten sind, in letzter Instanz zurückverweisen.
Und so wird die Vaterfigur im späteren Werk von Franz Kafka "erweitert
und verallgemeinert […] zu patriarchalischer Autorität überhaupt und
schließlich kollektivisiert als Familie, Gemeinschaft, Volk, biologische Art
und Gattung und letzten Endes als prokreatives Leben, als Natur, als
physische Wirklichkeit“ (Sokel
2006, S.26)
Herrmann
Kafka, am 14.9.1852 in Wosek (Osek), einem kleinen südböhmischen Dorf
bei Strakonitz, geboren, war das dritte von acht Kindern in der jüdischen
Familie von Jakob Kafka und seiner Frau Franziska. Jakob Kafka war
Fleischhauer, der als angesehener Schächter die jüdische Gemeinde des Dorfes
und der Umgebung mit koscherem Fleisch, aber auch die Christen mit dem für
Juden untersagten Schweinefleisch versorgte. Um den Familienunterhalt zu
gewährleisten, musste die ganze Familie anpacken und auch von Herrmann
Kafkas Kindheit ist überliefert, dass er in kalten Wintertagen schon als
Zehnjähriger mit offenen Wunden an den Beinen mit einem Wägelchen die
Fleischbestellungen der Kunden auslieferte. Nach sechs Jahren Grundschule
wurde Herrmann nach dem Erreichen der religiösen Mündigkeit mit 13 Jahren in
das nahe gelegene Pisek geschickt, um bei einem Verwandten eine Lehre in
dessen Textilgeschäft zu beginnen. Im Alter von 20 Jahren wurde er 1872 zum
dreijährigen Militärdienst bei einer technischen Einheit eingezogen. Später
hat Herrmann seine Militärzeit in positivem Licht gesehen. Sie war für ihn,
der nach sechsjähriger Grundschule nur das Elementare im Lesen, Schreiben
und Rechnen und ein wenig Hebräisch gelernt hatte, eine Schule des Lebens
geworden. Auch wenn er in seinem Leben so nie "über ein gesichertes
bildungsbürgerliches Grundwissen verfügte" (Alt 2008, S.23),
so erlangte er über seinen Militärdienst im Rang eines Feldwebels
"eine bürgerliche Rollenidentität" in einem festen Ordnungsgefüge, die "mit
einer - durch die Uniform sichtbaren - sozialen Reputation" verbunden war,
"wie es seinen stark von Äußerlichkeiten beherrschten Bedürfnissen
entsprach." (ebd., S.24)
Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst arbeitete er sieben Jahre lang
als so genannter Hausierer, als Vertreter für Gemischtwaren, mit denen er
von Haustüre zu Haustüre zog. Mit der Aussteuer, die seine Frau Julie Löwy
im September 1882 in die Ehe mitbrachte, konnte er am nördlichen Altstädter
Ring in Prag ein kleineres Geschäft für Stoff- und »Galanteriewaren
eröffnen. Damit begann für ihn und seine Familie "eine Lebensphase im
Zeichen des bürgerlichen Erfolgs" (ebd.).
Trotz seiner im Berufs- und Privatleben gezeigten Durchsetzungskraft verfügt
Herrmann Kafka doch über "ein schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das es
ihm zeitlebens verwehrt, erlittene Verletzungen souverän zu überwinden." (ebd.,
S.25) Dabei ist "die ambivalente Disposition des empfindlichen
Kraftmenschen mit seelischen Spannungen" nach Alt (ebd.)
auf widersprüchliche Grundlagen zurückzuführen, die sich auch in den
Lebensläufen seiner Brüder spiegelten, die geprägt wurden von Antinomien wie
"Erfolg und Versagen, Ehrgeiz und Furchtsamkeit, Expansionsstreben und
Rückzugsneigung" (ebd.).
Nach dem Tod seines Sohnes Franz bestimmt Hermann Kafka 1924 dessen Freund »Max
Brod zum Herausgeber des Nachlasses.1931 stirbt Herrmann Kafka am 6.
Juni im Alter von 78 Jahren.
Als Familienvater war Hermann Kafka ein Patriarch, aber dies ist zu dieser
Zeit nichts Außergewöhnliches und entspricht dem traditionellen Männer- und
Familienbild. Die Art und Weise, mit der er diese Autorität verkörperte, war
indessen nicht die eines Vaters, der Frau und Kinder, insbesondere noch
seinen Sohn, erbarmungslos unterdrückte, so wie es die ältere Forschung
gesehen hat. In ein derart simples Täter-Opfer-Schema passt insbesondere
sein Verhältnis zu seinem Sohn Franz nicht hinein, auch wenn gerade dieser
an dieser Version der Vater-Sohn-Beziehung aktiv "gestrickt" hat. Denn
die
meisten Schwierigkeiten
der beiden gingen eben nicht vom Vater aus, sondern
vom Sohn selbst: "Es war nicht in erster Linie der Vater, der den Sohn
unterdrückte und dessen Schriftstellerei gering achtete; Kafka selbst hielt
das meiste, was er schrieb, für wenig geglückt." (Jahraus
2006, S.24) Franz war es, der "die Auseinandersetzung und auch die
Konfrontation mit den Machtinstanzen und nicht zuletzt mit dem Vater [...]
geradezu gesucht hat.
So sehr Kafka unter den Autoritäten und ihren sozialen
Zwängen, denen sie ihn unterwarfen, litt - und man kann nicht bestreiten,
dass er darunter so sehr litt, dass ihm in einigen Situationen seines Lebens
auch der Gedanke an Selbstmord nahe lag -, so sehr brauchte er die
Auseinandersetzung auch, um aus diesen Kampf jenen Impuls ziehen zu können,
der ihn auf der anderen Seite umso ausdauernder an seinem Schreiben
festhalten ließ." (ebd., S.25)
Schließlich kehrt sich dadurch die Perspektive im Täter-Opfer-Schema
gänzlich um: Franz wird damit zu der Person, der "jene Probleme selbst
erzeugt, die er in und mit seinem Schreiben angegangen ist, um sie im
Schreiben überhaupt angehen zu können - damit er überhaupt schreiben konnte.
Man könnte pointiert sagen: Schreibend wollte Kafka jene Probleme lösen, die
es gar nicht gegeben hätte, hätte Kafka nicht geschrieben." (ebd.)
Schreibend entwirft Franz Kafka dabei in seinem Brief an den Vater also in
gewisser Hinsicht seine eigene "Poetik", von der Werner Sokel
(2006, S, 25) sagt, dass ihr zwei widerstrebende Intentionen
zugrundelägen: "Einerseits, so behauptet er [Kafka, d. Verf.], handelt all‘
sein Schreiben von seinem Vater. Schreiben ist ein armseliger Ersatz für die
fehlende Anwesenheit des Vaters, für die Verbundenheit mit ihm, die der
Vater seinem Sohn immer versagt hat. Im Schreiben, so legt es Kafka dar,
stimmt er die Klage an, die ihm an des Vaters Brust zu äußern untersagt ist.
Das Schreiben wird zum Ersatz des Lebens. Es gibt der Abwesenheit eine
Stimme; es weist auf die Lücke hin, durch die verschwunden ist, was das Herz
ersehnt. Schreiben ist Trauern um einen Verlust, ein verhüllter Hilferuf um
eine Wiederherstellung, die aber niemals kommen wird. Schreiben drückt die
Sehnsucht nach der unmöglichen Wiederkehr väterlicher Gnade aus. […]
Obgleich das erwachsene Ich die Wiederkehr blockiert, deutet die Tätigkeit
des Schreibens wenigstens die Richtung an, in der eine Überwindung dieser
Blockierung liegen mag. Schreiben fungiert als symbolischer Ersatz für die
Auflösung des Hindernisses, das das Ich ist. […]"
Da Kafka aber an einer anderen Stelle des Briefs an den Vater, jedoch
das Gegenteil betone, indem er behaupte, dass sein Schreiben Flucht vor dem
Vater sei und ihm einen Raum schaffe, in dem er sich vor ihm geschützt und
vor ihm verborgen fühle, müsse man, so Sokel
(ebd.), in dieser Flucht "eben auch eine Art von Selbstbehauptung" sehen,
da sie versuche, "das Selbst aus der Reichweite patriarchalischer Macht zu
retten. In dieser selbsterhaltenden Abwehr entdeckt das Selbst seine eigene
Macht, zwar völlig verschieden von der naturverliehenen Macht der
Vatergestalt, aber potenziell ihr überlegen wie das Geistige und Magische
der natürlichen Macht überlegen ist. In dieser Poetik der Flucht ist
Schreiben kein Trauern mehr um Fernbleiben und Verlust, sondern Basis
trotziger Selbsterhöhung und deren Bekräftigung."
Gert Egle, 2012
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.09.2024