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Thema:
Nora schreibt 6 Monate nach der Trennung von Helmer und ihrer
Familie einen Brief an Christine Linde, indem sie aus der Distanz
ihr Handeln, das zur Trennung von Helmer und der Familie geführt
hat, erneut in Erinnerung ruft und beurteilt. Zugleich gibt sie
Einblick in ihre Entwicklung seitdem und ihre Pläne für die
Zukunft.
Liebe Christine,
seit ich bei dir aufgebrochen bin, ist einige Zeit vergangen. Bitte
verzeihe mir, dass ich dir erst jetzt schreibe. Nach meiner Abreise
zurück zu unserem Heimatort, sind so viel Ereignisse, die es erst
einmal zu bewältigen gab, auf mich eingestürzt.
Als ich so überstürzt abgereist war, musst ich die Folgen meines
ausgestandenen Kampfes, der für mich so bitterlich enttäuschend
endete, erst noch einmal überdenken und mir schlüssig werden, wie es
mit mir weitergehen sollte. Du erinnerst dich sicherlich noch daran,
dass du mir sagtest, ich müsse mit Helmer reden. Doch das erschien
mit damals völlig unmöglich. Mein ganzes Verhalten war geprägt von
dem, was ich bei meinem Vater gelernt hatte. Und mein Vater hätte es
nicht geschätzt, wenn ich eigene Ansichten entwickelt hätte. Also
schwieg ich bei meinem Vater, wie ich ebenso später bei Helmer
geschwiegen habe. Ich ging möglichen Konflikten aus dem Weg. Ich
sollte doch stets für Helmer lustig sein und dann wäre nach unserer
damaligen Vorstellung etwas Unschönes über uns gekommen.
Ich wollte damals auch nicht mit Helmer reden, weil ich gar nicht
wollte, dass er in mit hineingezogen wurde. Ich glaubte nämlich
wirklich an ihn. Für mich war er ja ein guter Mensch mit Moral und
Religion.
Denk' dir nur, Christine, ich dachte damals das Wunderbare würde
geschehen, ja ich glaubte felsenfest daran, dass er mich retten und
alles auf sich nehmen. Erinnerst du dich noch an unser Gespräch, als
ich Angst hatte den Verstand zu verlieren? Über den Tod hinaus
wollte ich Helmer beschützen, sogar den Tod hätte ich gewählt, nur
damit ihm kein Schaden widerfährt. So sehr habe ich ihn geliebt,
besser gesagt, die Vorstellung dessen, was er gar nicht war. Wie
schmerzhaft war für mich die Erkenntnis, als ich feststellen musste,
dass er gar nicht der Mann war, für den ich ihn acht Jahre lang
gehalten hatte. Er dachte nur an sich, an sein Ansehen und an seine
Stellung. Selbst als der Schuldschein Krogstads gekommen ist, hat er
nur an seine eigene Rettung gedacht und keine Sekunde an meine
Rettung verschwendet.
Ach Christine, du kannst dir kaum vorstellen, wie demütigend diese
Minuten meines Lebens waren, als mir so die Augen aufgingen. Zum
ersten Mal habe ich mich als Mensch behauptet. Ich legte das
Puppenfraudasein ab und musste erkennen, dass ich als Mensch erstmal
meinen eigenen Intellekt entwickeln muss.
Helmer konnte mich überhaupt nicht verstehen. Er hielt es für seinen
Verstoß gegen meine heiligsten Pflichten als Ehefrau und Mutter.
Doch ich habe doch vor allem die Pflicht gegen mich selbst, als
Mensch.
So im Unklaren mit mir, wie ich damals war, und bei der Ungewissheit
die meiner Zukunft bevorstand, musste ich die Kinder bei Helmer
lassen. Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich viele schwere
Stunden damit verbringe an die Kinder und das Geschehene zu denken.
Doch ich glaube nicht daran, dass das Wunderbarste doch noch
geschehen kann, und zwar, dass Helmer und ich eine echte Ehe führen
könnten.
Deshalb und um mein Herz zu erleichtern, wollte ich dir endlich
diesen Brief schreiben und hoffe auch auf eine Antwort von Dir.
Deine treue Freundin
Nora
(Tabitha Wellmann, Berufskolleg II, 2004)
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