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Der posttraumatische Kampf ums Überleben
Vater und Sohn in Wolfgang Borcherts
Geschichte »Die
Kirschen« wirken, wie so viele Figuren in Borcherts Werk, traumatisiert (engl. trauma; gr.
τράυμα (trauma) Verletzung).
Liest man die 1947 erschienene Geschichte im Kontext der
Nachkriegsgeschichte und zieht dazu noch biografische Aspekte zum Leben
Wolfgang Borcherts hinzu, dann kann man zu einer bestimmten
kontextualisierten Leseart des Textes gelangen, die die Geschichte als
Heimkehrerdrama versteht.
Das erzählte Verhalten von Vater und Sohn deutet darauf hin, dass beide infolge der Ereignisse, die sie
im Krieg erlebt haben, seelische Verletzungen davongetragen haben, die sie
nicht bewältigt haben und auch nicht thematisieren können. Ja, bei dem
fieberkranken Sohn, über dessen Alter man nichts erfährt, der aber, wenn man
seinen in Gedanken und Worten ausgedrückten Äußerungen berücksichtigt, wohl
zwischen zehn und zwölf Jahren alt sein dürfte, hat sich der Überlebenskampf
als solcher wohl so sehr in seine Seele eingebrannt, dass er das erzählte
Geschehen um sich herum im Wahrnehmungsschema, das eigene "nackte" Leben zu
retten, interpretiert und dabei falsche Schlüsse zieht. Statt anzunehmen,
dass sein Vater als Vater alles dafür tun würde, seinem fieberkranken Sohn
zu helfen, sieht er in ihm einen Konkurrenten im Kampf um das Überleben,
missgünstig, egoistisch und nur am eigenen Überleben interessiert.
In beiden Fällen, bei Vater und Sohn, kann dabei davon ausgegangen
werden, dass sie von unterschiedlichen »Kriegstraumata
gezeichnet sind.
Ein solches Kriegstrauma können auch größere Bevölkerungsgruppen
erleiden. Diese kollektiven
Kriegstraumata hat man z. B. beobachtet,
Was sind Traumata?
Der Begriff
»Trauma (engl. trauma; gr. τράυμα (trauma)
bedeutet zunächst einmal nichts anderes als Verletzung und wird in
der Medizin und in der Psychologie verwendet.
Während man in der Medizin damit eine körperliche Verletzung
infolge von Gewalt oder eines Unfalls meint, zielt der
psychologische Begriff Trauma auf seelische Verletzungen, die auf
ein traumatisches Erlebnis zurückgeführt werden können.
Darunter versteht man "eine Situation mit außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine
tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Bsp. sind das Erleben von
körperlicher und sexualisierter Gewalt, Entführung, Geiselnahme,
Krieg, politischer Haft, Folterung, Natur- oder durch Menschen
verursachte Katastrophen, Unfälle oder die Diagnose einer
lebensbedrohlichen Krankheit."
(aus: Hecker, T. (2019). Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie. Abgerufen
am 08.06.2019, von
https://portal.hogrefe.com/dorsch/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs-1/
Traumata haben oft massive Auswirkungen auf das Leben
Wer als einzelner Mensch oder als Teil eines Kollektivs von
Menschen ein seelisches Trauma erleidet, hat an den Folgen oft
lange, manchmal ein Leben lang zu tragen. Ohne Hilfe von außen durch
Psychotherapie und Angstselbsthilfegruppen und oft auch ohne medikamentöse Behandlung zur
Unterstützung können Betroffene ihre Seele kaum heilen und die
psychischen und physischen Symptome (s. Abb.) ihres Leidens weder
mindern, noch gänzlich loswerden. Betroffene können unter
ernsthaften ▪
Angsterkrankungen bzw. Angststörungen leiden und/oder müssen mit
den Auswirkungen und Symptomen einer ▪
posttraumatischen Belastungsstörung leben.
Für größere Ansicht bitte anklicken!
Viele Betroffene können dann z. B. kaum oder überhaupt nicht mehr
über die zurückliegenden (traumatisierenden) Ereignisse und ihre
Gefühle sprechen, entwickeln eine Art emotionaler Taubheit, können
dann weder trauern noch sich freuen, erleben krankhaft übersteigerte
Angstzustände und ziehen sich angesichts ihrer Entfremdungsgefühle
der Welt und ihren Mitmenschen gegenüber sozial vollständig zurück.
Um nicht an das ▪
traumatische Erlebnis zu denken, versuchen die
Betroffenen u. a.,
-
allem aus dem Weg
zu gehen, was sie daran erinnern könnte (Vermeidung)
-
die Ereignisse zu
▪
verdrängen
-
die Gefühle, die
die Ereignisse bei ihnen auslösen, abzuspalten (»Dissoziation)
Viele Kinder litten in
der Nachkriegszeit unter ihren zurückgekehrten Vätern
Als die Männer nach Kriegsende 1945 und zum Teil erst sehr viel
später nach langjähriger Kriegsgefangenschaft nach Hause, zu ihren
Ehefrauen und Kindern zurückkehrten, waren viele nicht mehr die, die
Jahre zuvor ihre Familien verlassen hatten. Was sie im Krieg und der
Kriegsgefangenschaft erlebt hatten, hatte bei vielen tiefe Spuren
hinterlassen. Sie kamen als Kriegsverlierer, viele von ihnen als
Krüppel an Leib und Seele geradezu aus der Hölle. Hunderttausende
von ihnen schwerst traumatisiert, auch wenn das im
Nachkriegsdeutschland kaum einer wahrhaben wollte.
-
Aber auch ihre
Familien, ihre Ehefrauen und Kinder hatten sich verändert.
Manche Kriegsheimkehrer bekamen ihre eigenen Kinder erstmals zu
Gesicht und viele von ihnen waren inzwischen groß bzw. sehr viel
größer geworden.
-
Die Männer, die
aus dem Krieg kamen, hatten wohl oft die Hoffnung hatten, mit
Ehefrau oder im Kreis der Familie irgendwie über die
Vergangenheit hinwegzukommen. Sie wollten an traditionelle
Vorstellungen über die Familie und die Rollenverteilung zwischen
Mann und Frau anknüpfen und konnten mit der neu gewonnenen
Selbständigkeit der Frauen, die im Krieg sowohl ihre Familien
allein durchbringen und wegen des Arbeitskräftemangels dazu noch
zur Dienstpflicht außer Haus gezwungen worden waren, oft nichts
anfangen.
-
Die Männer
wollten ihren Platz in einer patriarchalisch strukturierten
Gesellschaft und Familie wieder einnehmen und taten, soweit sie
dazu in der Lage waren, alles dafür, wieder Alleinversorger der
Familie zu werden.
-
Und nicht nur
das: Ihre Kinder, die bisher gewohnt waren, nur von der ihrer
Mutter umsorgt zu werden, hatten es oft mit unbekannten Vätern
zu tun, denen sie Respekt, Aufmerksamkeit und Liebe
entgegenzubringen hatten. Gab es Konflikte, dann setzte es
Prügel und insgesamt herrschte offenbar in vielen
Heimkehrerfamilien "nun meist ein weit strengerer Ton als vor
der Heimkehr der Väter [...] die meisten Familien mieden heikle
Themen. Wie es zum Krieg gekommen war, erfuhren die wenigsten
Kinder. Lediglich von ihren Fronterlebnissen erzählten die
Väter, darum bemüht, ruhmreich zu wirken." . (Theresia
Fleischaus, So litten Kinder unter ihren heimgekehrten Vätern,
in: Die Welt, 12.02.17)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023
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