Peter Bichsels
▪
Kurzgeschichte
▪»San
Salvador« lädt wegen ihrer besonderen sprachlichen Form, "die ihn ihrer
Verknappung lediglich andeutet und mehr verschweigt als ausspricht"
(Jucker
2004, S.269) geradezu dazu ein, in einem ▪
kreativen Schreibprozess jene "Aussparungen" und "Hohlräume"
(Reich-Ranicki
1964) zu füllen, die der Text dem Leser als sogenannte
Leerstellen lässt. Dabei können die wenigen Anhaltspunkte, die der Text
zur Deutung bereitstellt, zu einem Sinnganzen vervollständigt werden
und zwar so, wie es sich der jeweilige Leser bzw. die jeweilige
Leserin vorstellt. Kreatives Schreiben dieser Art ist dabei stets
eine Form der
gestaltenden Interpretation, macht aber die jeweilige
individuelle Leseart nicht in einem diskursiv und argumentativ
angelegten Text deutlich.
Wer eine kreative Schreibaufgabe zu Bichsels Text bewältigen
will, muss
-
die Kurzgeschichte
inhaltlich genau erfassen
-
die verschiedenen
Gestaltungsmöglichkeiten bzw. Leerstellen des Textes erkennen
-
in einem kreativen
Schreibprozess sein eigenes Textverständnis verdeutlichen
-
die
Gestaltungsmöglichkeiten der Geschichte mit Gespür für den Text
einfallsreich und zugleich sensibel nutzen und sich nicht nur von seiner
eigenen Fantasie treiben lassen
-
Stil und Strukturen der
Kurzgeschichte bei seiner Gestaltung berücksichtigen
-
die eigene Gestaltung überzeugend
strukturieren
-
bei aller
"Risikofreudigkeit" der eigenen Leseart seine Gestaltung auf der Basis
eines insgesamt plausiblen Verständnisses der Kurzgeschichte entwickeln
-
seine kreative Lösung
unter Bezug auf den Text plausibel legitimieren können
Ziel ist es eine mit
Thema, Inhalt, Strukturen und sprachlich-stilistischer Gestaltung
der Kurzgeschichte eine nachvollziehbare textkompatible eigene
kreative Lösung zu gestalten.
Beispiel 1:
Schreibaufgabe:
Erzählen Sie die
Geschichte aus der Perspektive Hildegards weiter, als sie nach der
Chorprobe nach Hause kommt.
Als sie die Türe zur Wohnung aufgeschlossen hatte, war es
irgendwie seltsam still in der Wohnung. "Schlafen die Kinder?" Keine
Antwort. Kein Radio, kein Fernseher war zu hören. Die Kinder waren
offenbar schon im Bett. Hatte Paul sich etwa auch schon hingelegt?
Manchmal kam es ja auch vor, dass er bei Susanna in deren Bett
selbst einschlief, wenn er ihr eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt
hatte.
Bei Susanna war er nicht. Das kleine Mädchen schlief tief und fest.
Auch aus dem kleinen Fenster in der Toilettentüre am Ende des Flures
kam kein Licht. Die Türen zur Küche, zum Wohn- und ihrem
Schlafzimmer standen offen, aber auch von dort kein Licht.
"Paul? Paul!" Sie knipste das Licht im Wohnzimmer an. Komisch.
Verqualmt wie immer, sogar die Zeitungen ordentlich gestapelt, die
neue Füllfeder, Tinte, ein paar Bogen Papier daneben. "Paul?" Dann
sah sie den Zettel in der Mitte des Tischs, nahm und las: "Mir ist
es hier zu kalt. Ich gehe nach Südamerika. Paul." Was soll das?
"Soll das ein Witz sein, Paul? Mann, wo steckst du?" Noch einmal sah
sie in jedem Zimmer nach. Unwillkürlich öffnete sie den
Schlafzimmerschrank, zählte kurz seine Hemden durch, musste fast
lachen dabei. Paul und Südamerika, das passt nicht zusammen. Reisen
ist überhaupt nicht sein Ding. Südamerika ist groß, sehr groß, zu
groß und zu weit weg, zumindest für Paul. Vielleicht ist er noch auf
ein Bier in den "Löwen", HEUTE IST RUHETAG MORGEN HABEN WIR WIEDER
WIE GEWOHNT FÜR SIE GEÖFFNET. IHR LÖWENTEAM. Sie strich sich die
Haare aus dem Gesicht, fuhr sich mit dem Ringfinger der linken Hand
beidseitig die Schläfe entlang, überlegte kurz und her und knöpfte
dann ihren Mantel auf. An der Wohnungstüre drehte sich ein Schlüssel
im Schloss.
"Hildegard, du bist ja schon da", hörte sie ihn von dort sagen.
"Ich komme doch immer um halb zehn heim, jeden Mittwoch, wenn
Chorprobe ist", gab sie zur Antwort.
"Ja ich weiß. Ich habe nur schnell zwei Flaschen Bier geholt. Jetzt
machen wir es uns gemütlich."
"In Südamerika?"
"Nein, in der Krone", lächelte er ihr zu.
"Hoffentlich kalt?"
"Ja, richtig kalt, fast zu kalt."
"Und wie schreibt sie?"
Dann saßen sie beieinander vor dem Fernseher und machten bei der
Ratesendung mit.
Beispiel 2:
Schreibaufgabe:
Schreiben Sie einen lösungsorientierten Dialog per Telefon zwischen
Hildegard (H) und ihrer Mutter (M), die Pauls Abschiedsbrief findet
und mit ihr darüber spricht - und besonders über ihre Beziehung
zu Paul.
H: "Hallo, Mama. Entschuldige, dass ich nach
21.30 Uhr noch anrufe, aber ich muss dir unbedingt etwas sagen! Ich
bin gerade von der Chorprobe nach Hause gekommen, aber Paul war
nicht da. Stattdessen habe ich auf dem Küchentisch ein Blatt Papier
gefunden. Auf das hat Paul geschrieben: ‘Mir ist es hier zu kalt.
Ich gehe nach Südamerika. Paul’. Auch ein neuer Füller und ein Blatt
mit der Adresse seiner Eltern lag daneben. Ich weiß gar nicht mehr,
was ich mit Paul anfangen soll! Vorsichtshalber habe ich gleich
seine Hemden im Schrank gezählt. Aber die waren natürlich alle noch
da. Er wollte mich wohl nur erschrecken, bevor er wieder in ein
Lokal geht. Da sein Stammlokal der ‘Löwen’ heute geschlossen hat,
wird er wohl in die Kneipe gegenüber gegangen sein."
M: "Hilde, das ist ja furchtbar! Warum
erzählst du mir das erst jetzt? Geht das schon länger so mit ihm?
Ich war damals bei eurer Hochzeit so glücklich, dass du so einen
liebevollen Mann bekommen hast, der eine großartige Karriere vor
sich hatte."
H: "Er ist ja sehr gebildet und hätte alle
beruflichen Aufstiegschancen gehabt. Sogar Chefdolmetscher hätte er
werden können, da er so gut Englisch, Französisch und Spanisch
spricht. Aber seit seiner Kündigung hat er sich so verändert! Er
sitzt die ganze Zeit in der Küche, liest Zeitungen und raucht
ständig wie ein Schlot, obwohl ich ihm das verboten habe. Er ist
überhaupt so unordentlich! Ständig muss ich hinter ihm her räumen
und ihn kontrollieren. Abends ist er oft weg. Er geht allein ins
Kino und betrinkt sich immer öfter im ‘Löwen’. Ich bin schon froh,
dass er wenigstens noch auf die Kinder aufpasst, wenn ich z.B.
Chorprobe habe. Ich muss mich langsam richtig schämen für ihn! Wenn
andere mich nach ihm fragen, muss ich irgendwelche Ausreden erfinden
oder sogar lügen. Deshalb habe ich ein schlechtes Gewissen, da man
doch immer die Wahrheit sagen muss!"
M: "Warst du mal beim Nervenarzt mit ihm?
Vielleicht ist mit Paul etwas nicht in Ordnung."
H: "Der schickt Paul doch nur in die
Nervenheilanstalt. Und was habe ich dann davon? Ich bin ja so froh,
dass wir nicht zur Miete wohnen und ihr uns finanziell so großzügig
unterstützt, sonst wäre ich total hilflos! Ich habe schon bei der
letzten Beichte mit unserem Pfarrer gesprochen. Aber er hat mir nur
gesagt, dass ich das als christliche Frau eben ertragen muss, da nur
der Tod uns scheiden kann."
M: "Hilde, du wirst doch nicht an Scheidung
denken! Wie stehst du denn dann da vor den Leuten! Außerdem geht das
doch ohne seine Einwilligung gar nicht. Du musst auch an die Kinder
denken! Hast du mit Paul mal über seine Probleme und eure Beziehung
gesprochen?"
H: "Was soll ich denn mit ihm reden? Wie oft
habe ich ihm gesagt, dass er sich eine Arbeit suchen und sich
bewerben muss! Er schaut mich dann aber nur traurig an und sagt
nichts. Höchstens, dass er nicht mehr leben will. [...]"
Autor: Gregor Schröder, Quelle:
http://www.gregorschroeder.de/weiterfuehrender-schreibauftrag.html#1peterbichsel