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Schulische Schreibformen: Didaktische und methodische Aspekte
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Themabereich: Lesen »
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Lese- und Rezeptionsstrategien
▪
Werkinterpretation
(textimmanente Interpretation)
▪
Hermeneutischer Zirkel
▪
Textbegleitende
Interpretation (Kontextualisierte werkimmanente Interpretation -
Interpretationsaufsatz)
Die
▪ schriftliche Textinterpretation stellt hohe Anforderungen an die
Lese- und
an die
Schreibkompetenz in einem
(epistemisch-)heuristischen
Schreibprozess. Das epistemische Schreiben (engl. epistemic writing)
ist in Carl
Bereiters (1980)
Stufenmodell die fünfte und höchste Stufe der
▪
Schreibentwicklung,
die von einem hohen Grad der Bewusstheit und Reflexionsfähigkeit
beim Schreiben gekennzeichnet ist.
Wer sie in einem selbständig
organisierten, ▪
produktorientierten ▪
Schreibprozess
bewältigen will, muss dabei folgende Grundfragen beantworten:
Von Vorformen wie z. B. die ▪
Inhaltsangabe
literarischer Texte, abgesehen, ist die schriftliche
Textinterpretation als einer in sich geschlossenen, konsistenten
und kohärenten sprachliche Darstellung eines
Textverstehensprozesses und seiner (vorläufigen) Ergebnisse
deshalb auch eine schulische
Schreibform, die im kompetenzorientierten
Literaturunterricht allmählich in den Jahrgangsstufen 9 und 10
eingeführt und dann in der Sekundarstufe II in ihrer
elaborierten Form verortet ist.
Unabhängig davon ob die
▪
Schreibaufgabe in einem vollständig
offenen Aufgabenformat ("Interpretieren Sie den Text xy.")
gestellt oder mit zusätzlichen Relevanzinstruktionen
zu bestimmten formalen oder inhaltlichen Aspekten, die dabei
besonders berücksichtigt werden sollen, versehen ist, stets
stellt diese Art der Textinterpretation einen
Erschließungsprozess des Textes auf allen Ebenen dar und den
Versuch, auf der Grundlage von Hypothesen in einer
Text-Leser-Interaktion ▪
einen plausiblen Bedeutungs- bzw. Sinnzusammenhang zu
konstruieren.
Zur Bewältigung
der Schreibaufgabe muss der Schreiber auf sein
deklaratives und
prozedurales
(Vor-)Wissen (Weltwissen,
Fachwissen,
Sprachwissen
und
thematisches Wissen) zurückgreifen und dabei "analytische,
interpretative und argumentative Fähigkeiten des Formulierens,
Belegens und Begründens von Deutungshypothesen" (Ehlers
2010 , Kap. 8.1.5 Schriftliche Formen der Interpretation) integrieren. Dabei
gilt, und das wir nicht selten bei der Beurteilung und Bewertung
von Interpretationsleistungen übersehen, dass die Fähigkeit und
die Möglichkeiten des einzelnen zur ▪
Sinnkonstruktion oft mehr von diesem textexternen Wissen
abhängen, als den Fähigkeiten zur Textanalyse. Es ist also immer
der oder die Person im Vorteil, die über ein großes und
breitgefächertes Vorwissen verfügt, um den ▪
Motor der Inferenzbildung über ▪
enge und ▪
Brücken-Interenzen hinweg mit ▪
elaborativen Inferenzen richtig auf Touren zu bringen.
In jedem Fall
sollten die unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse, die im
Zusammenhang mit der Interpretation literarischer Texte im
Allgemeinen und der schriftlichen Abfassung im Besonderen
stehen, das wirksame Ineinandergreifen von
inhaltlichem Wissen,
pragmatischem Wissen,
Sprachwissen
und
Textstrukturwissen nicht nur verdeutlichen, sondern auch mit
geeigneten Angeboten im
Lern- und
Übungsraum schulischen Lernens erproben und einüben, ehe sie
sich als Leistungsaufgaben, die u. U. von vielen gar nicht so
ohne Weiteres zu bewältigen sind, zu ernsthaften ▪
Schreibstörungen
und Schreibblockaden auswachsen können. Dass es dabei auch
um den Erwerb und die Festigung geeigneter
▪
Lese- und Rezeptionsstrategien
und ▪
Schreibstrategien
geht, die jeweils auch immer wieder Gegenstand von
metakognitiven Selbstreflexionsprozessen sein müssen, sei nur
der Vollständigkeit halber erwähnt.
Die wichtigsten
Anforderungen für die Analyse und Interpretation literarischer Texte
(Abiturstandard)
Nach den
EPA-Vorgaben (▪
Einheitliche Prüfungsanforderungen in
der Abiturprüfung Deutsch (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
01.12.1989 i. d. F. vom 24.05.2002) erfolgt das Schreiben einer
Textinterpretation auf der Grundlage der fachspezifischen
Erschließungsform des sogenannten ▪
untersuchenden Erschließens.
Oft wird diese Erschließungsform vorausgesetzt, wenn in einem
offenen Aufgabenformat der
▪
übergeordnete Operator ▪"Interpretieren"
ohne weitere Relevanzinstruktionen, die angeben, welche Aspekte
dabei untersucht werden müssen, verwendet wird.
Aller Standardisierungsbemühungen zum Trotz trägt die Schreibform jedoch
nicht immer den gleichen Namen. Ebenso wenig werden die Operatoren, jedenfalls im
die Bundesländer übergreifenden Vergleich, einheitlich verwendet. So lassen
sich die
▪
übergeordneten Operatoren
▪
Analysieren
und
▪
Interpretieren
bzw.
▪
Deuten
oft nicht trennscharf verwenden und ihre Verwendung als untergeordnete
Operatoren macht die Sache auch nicht unbedingt leichter.
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Allgemein betrachtet, verlangt die Textinterpretation die
Anwendung analytischer Mittel und Methoden und eine
zusammenhängende,
vernetzte Zusammenschau der erarbeiteten inhaltlichen und formalen
Einzelergebnisse. (EPA. S. 20).
Das bedeutet, dass einzelne
Arbeitsergebnisse nicht bloß aneinandergereiht sein dürfen, sondern in einem
ausformulierten Zusammenhang betrachtet werden müssen. Dies kann z. B. durch
Zusammenfassung von Arbeitsergebnissen, durch Herstellen von Bezügen zu
anderen Aspekten der ▪
Analyse bzw. Interpretation
– eine wichtige Rolle
können dabei Überleitungen im Text spielen – erfolgen.
Ausdrücklich wird in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen festgehalten:
"Eine
Paraphrasierung des Textes oder distanzloser Umgang mit dem Text
entsprechen nicht den Anforderungen. Eine rein
immanente Interpretation
reicht nicht aus; je nach Aufgabenstellung sind Zeithintergrund,
Autorbiografie, literaturgeschichtliche Einordnung, Entstehungsgeschichte
und literarische Wertung einzubeziehen."
Die Gefahr
des "bloßen"
Paraphrasieren eines Textes kann allerdings auch dadurch gemindert werden,
dass die Aufgabenstellung und die jeweils verwendeten Operatoren zugleich
einen gliedernden bzw. systematisierenden Ansatz haben. Ausdrücklich wird
auf die Kontextualisierung als Operation bei der Textinterpretation hingewiesen
und einer rein textimmanenten Betrachtung damit ein Riegel vorgeschoben.
Damit wird der Bedeutung
entsprechenden Orientierungswissens für das literarische
Verstehen Rechnung getragen, ohne damit werkimmanente
Erschließungsverfahren in
ihrer Bedeutung grundsätzlich in Abrede
zu stellen.
Auch wenn es vielleicht wenig Sinn macht, im Zusammenhang mit
den Vorgaben für das untersuchende Erschließen überhaupt noch von dem
Begriff Gebrauch zu machen, könnte man dabei von der "Kontextualisierung
der werkimmanenten Interpretation" sprechen.
Operationen und
Textprozeduren bei der Analyse und Interpretation literarischer
Texte
Im Einzelnen kommen bei der Analyse bzw. Interpretation von literarischen
Texten folgende Operationen in Betracht,
die aus verschiedenen literaturwissenschaftlichen Ansätzen gewonnen werden : (vgl. S.16f. - vgl. Abb. 1):
-
Erfassen des Textes in seinen
wesentlichen Elementen und Strukturen
-
Formulieren von
Interpretations- bzw. Analysehypothesen
-
Skizzieren des Lösungsweges
und Auswählen sowie Begründen von Untersuchungsaspekten
-
aspektorientiertes
Organisieren der Textdeutung unter Berücksichtigung des Wechselbezugs
von Textstrukturen, Funktionen und Intentionen (durch Erfassen zentraler
strukturbildender, genretypischer. syntaktischer, semantischer,
stilistisch-rhetorischer Elemente und ihrer Funktion für das Textganze)
-
Kontextualisierung: z. B. durch das Entwickeln von
literaturgeschichtlichen, gattungsgeschichtlichen,
geistesgeschichtlichen, biographischen, politisch-sozialen Bezügen
-
Erkennen und ggf. Beurteilen
des Zusammenhangs von Struktur, Intention und Wirkung im Rahmen des
historischen und aktuellen Verstehenshorizontes
-
Diskussion von
Wertvorstellungen, die in den Texten enthalten sind
-
literarische Wertung
-
Entwickeln geeigneter
Argumentationsverfahren
Das "Gespenst der
so genannten richtigen Interpretation" vertreiben
Wenn es in der Schule darum geht, einen (fiktionalen,
literarischen) Text zu interpretieren, dann taucht heute wohl nur noch
selten das "Gespenst der so genannten richtigen Interpretation" (Steinmetz 1995,
S.476) auf, das orientiert an der sogenannten ▪
Werkinterpretation von ▪
Emil Staiger (1908-1987) und ▪
Wolfgang Kayser (1908-1960) bedeutet, dass ein richtiges,
d.h. adäquates Textverständnis dann vorliegt, "wenn die
Bedeutung im Text und im Text allein, unter Verzicht also auf
alle textexternen Faktoren, gewonnen werden konnte". (ebd.)
Selbst wenn die
schulische Interpretationspraxis grundsätzlich keine
konsistenten "Sinn-, Einheits- und Wahrheitserwartungen des
Lesers an den Text" im Sinne von ▪
Gadamers Hermeneutik mehr aufbaut (vgl.
Gadamer
1960, S.278, vgl.
Bogdal 2000, S.15), sehen sich Schülerinnen und Schüler vor
allem in der sozialen Praxis des Unterrichts der Anforderung, eine "richtige"
Interpretation zu schreiben, ausgesetzt.
Dabei ist nicht
nur gemeint, dass sie grundsätzlich eine "»der Sache
angemessene"« Interpretation" (Bogdal
2000, S.15) abliefern wollen, sondern vor allem eine, welche
die Lehrkraft überzeugen kann.
Den Text, um den es geht, haben sich die Schülerinnen und
Schüler gewöhnlich nicht selbst ausgesucht, sie wissen, dass
dieser "kulturell hochgewertet ist" (Kepser/Abraham
42016, S. 263) und dass man auch mit Sanktionen
zu rechnen hat, wenn man das ganz anders sieht, denn schließlich
"(ist) der Adressat der Interpretation (...) ein Fachmann oder
eine Fachfrau, der bzw. die für sich Deutungsmacht reklamieren
kann." (ebd.)
Lernstrategische
Orientierungen können, wenn sie sich z. B. als ▪
soziale Abhängigkeitsorientierung in der formellen
schulischen "Interpretationsgemeinschaft" (Fish
1980) der Klasse etablieren, dahin entwickeln, das
über einen Text schreiben zu wollen, was die Lehrkraft
vermutlich hören will (vgl.
Fritzsche 1994,
Baurmann 2002/2008, S. 76, vgl.
Kepser/Abraham 42016, S. 263)
Wenn es also
heute unter diesem Blickwinkel im Literaturunterricht darum
geht, was eine »der Sache angemessene"« Interpretation" (Bogdal
2000, S.15) sein kann, muss den Schülerinnen und Schülern
wirklich klar sein, welche Kriterien dafür gelten. Dabei kann
man sich auch an einigen der ▪
Regeln
orientieren, die generell für das ▪
für das Aufstellen von
Interpretationshypothesen gelten wie
z. B. die ihre Widerspruchsfreiheit, die Geschlossenheit der
Darstellung, die Bedeutung von Textargumenten sowie den Einbezug
von historischen, biografischen oder intertextuellen
Gesichtspunkten.
Schülerinnen
Schüler, die eine schriftliche Textinterpretation erarbeiten und
abfassen wollen, müssen in Ergänzung zu den
oben beim untersuchenden Erschließen dargestellten Operationen
und Textprozeduren in jedem Fall wissen
-
dass die
Textstellen, Aussagen aus der Sekundärliteratur, ihr
deklaratives und
prozedurales
(Vor-)Wissen (Weltwissen,
Fachwissen,
Sprachwissen
und
thematisches Wissen) und ihre individuelle Leseart für das
Gewinnen eines vertieften Textverständnisses von zentraler
Bedeutung sind
-
dass das von
ihnen erarbeitete und dargestellte Textverständnis eine
größere Zahl von Aspekten umfassen sollte
-
dass die
Interpretationsaussagen im Rahmen der intersubjektiv
nachvollziehbaren Bedeutungsoptionen eines Textes plausibel
gemacht werden müssen, ohne dass damit ein unrealistischer
Objektivitätsanspruch erhoben wird
-
dass es
verschiedene Arten von Gründen gibt, mit denen man im Rahmen
einer Interpretation argumentieren kann (z.B. Textargumente,
historische, biografische und intertextuelle Argumente) und
dass sich eine Interpretationshypothese "in der Regel besser
begründen (lässt), wenn man gleich mehrere Gründe bzw.
Prämissen zu ihrer Stützung anführen kann." (Descher/Petraschka
2019, S.107).
-
dass das
erwartete Maß und der Umfang zeitgeschichtlicher,
literaturhistorischer, biografischer oder intertextuelller
Kontextuierungen, die in die Textinterpretation einfließen
sollen, über die Vorgabe entsprechender Operatoren erkannt
oder über die Analyse der Schreibaufgabe in ihren
verschiedenen Formaten erschlossen werden kann
-
dass zur
Kennzeichnung der Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit oder
zu ihrer graduellen Abstufung bestimmte sprachliche Mittel
eingesetzt werden können, wie z. B. präpositionalen
Wendungen ("nach Meinung von") oder
Gradpartikeln
("das bedeutetet wohl") oder der Wechsel des
Modus des
Verbs vom
Indikativ zum
Konjunktiv.
(vgl.
ISB 22010, Bd. 2, S.381)
-
dass auch
Argumente, die aus der Sekundärliteratur stammen, am Text
überprüfbar sein müssen
-
dass man bei
einer Interpretation auch mit persönlichen Erfahrungen und
Eindrücken argumentieren darf, wenn klar ist, "dass der
Stellenwert und die Gültigkeit durch die übrigen bereits
genannten Argumentationsprinzipien relativiert werden" und
die Schülerinnen und Schüler sich darüber im Klaren sind,
dass "die Berufung auf subjektive Leseeindrücke dann nicht
taugt, wenn sich in die Darstellung Widersprüche und
Missverständnisse einschleichen." (ebd.)
-
dass
Interpretationsaussagen und Wertungen "erst dann sinnvoll
und legitim sind, wenn sie auf nachweisbare Textelemente
Bezug nehmen." (ebd.)
-
dass die
Textinterpretation sprachlich-stilistisch "in einer
angemessenen, anschaulichen und präzisen Wortwahl, der
sicheren Verwendung der Fachsprache und einem
übersichtlichen, komplexen Satzbau" (ebd.)
zu schreiben ist, dass damit ein kohärenter und konsistenter
Sinnzusammenhang geschaffen wird und die eigenen
Interpretationsaussagen wirksam unterstützt werden.
-
dass der
geforderte sachlich-distanzierte Umgang mit dem
literarischen Text die Beherrschung unterschiedlicher ▪
Formen
der Redewiedergabe, vor allem die unterschiedlichen
▪
Formen der indirekten Wiedergabe, voraussetzt
-
dass
Aussagen, die subjektiv besonders betont oder gewichtet
werden, ebenso gekennzeichnet werden müssen, "wie Meinungen
oder Urteile, die der Verfasser nicht für sich selbst
übernehmen kann oder will." (ebd.)
-
dass das
bewusste Verwenden, "einfache(r) stilistische(r) Mittel" einsetzen und "den Leserbezug durch eine pointierte
Sprachverwendung" verstärken. (ebd.)
-
dass Zitate
in ihren unterschiedlichen Formen als ▪
wörtliches
oder ▪ sinngemäßes
Zitat zum einen bestimmten grammatischen Regeln genügen
müssen, zum anderen sorgfältig ausgewählt werden sollten
sowie in formal korrekter Weise verwendet und in einen
inhaltlichen und logischen Zusammenhang mit den eigenen
Ausführungen gebracht werden müssen. Dabei sollte den
Schülerinnen und Schülern bewusst sein, dass es
problematisch ist, Textstellen aus dem Handlungszusammenhang
des Textes herauszureißen und in die eigenen Ausführungen
irgendwie einzupassen. Zitate dürfen also nicht nach
Gutdünken dekontextualisiert verwendet werden, sondern "der
Kontext, aus dem die Zitate stammen, muss in jedem Fall
gewahrt und ggf. erläutert werden." (ebd.)
▪
Schulische Schreibformen: Didaktische und methodische Aspekte
▪
Themabereich: Lesen »
▪
Lese- und Rezeptionsstrategien
▪
Werkinterpretation
(textimmanente Interpretation)
▪
Hermeneutischer Zirkel
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Textbegleitende
Interpretation (Kontextualisierte werkimmanente Interpretation -
Interpretationsaufsatz) Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.12.2023
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