Im schulischen Bereich gehört die
schriftliche ▪
Textinterpretation
zu den wichtigsten ▪ Schreibformen.
Ihre herausragende Stellung verdankt sie der langen Tradition
des so genannten ▪ Interpretationsaufsatzes
(textbegleitende Interpretation)
in der klassischen Aufsatzdidaktik und ihrer humanistischen
Tradition. Diese wirkt bis heute nach, auch wenn sie den engen
konzeptionellen Rahmen der ▪
Hermeneutik und der ▪
Werkinterpretation
(textimmanente Interpretation) erweitert und zum Teil
auch hinter sich gelassen hat.
Bei aller Kritik an dem ▪
hermeneutischen Ansatz
gilt der besondere "Verstehens- und
Auslegungsprozess" der damit beschrieben wird, weiterhin als "die theoretische Basis
jeglicher Interpretation" und ihrer verschiedenen Zugänge und
Umgangsweisen von Literatur. (vgl.
Becker/Hummel/Sander 22018, S.193) Und insbesondere seine
textnahen Deutungshypothesen und Begründungen sind Vorzüge, auf die der
schulische Literaturunterricht nicht verzichten kann und will. Dass
"zeitlich und kulturell ferne Texte, deren Welten dem gegenwärtigen
Leser fremd sind" (Ehlers
2016, 4.1 Textverstehen), "gewisser interpretatorischer
Anstrengungen bedarf" (ebd.)
und Interpretationshandlungen verlangen, "um eine solche Differenz
zwischen Text und Leser zu überbrücken" und auf diese Weise "die
andere Welt mit ihren Glaubens-/Normensystemen, Weltbildern und
Lebensformen" (ebd.)
zu erschließen, steht für die Literaturdidaktik außer Frage.
Und auch in den den
Einheitlichen Prüfungsanforderungen in
der Abiturprüfung Deutsch (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
01.12.1989 i. d. F. vom 24.05.2002) (EPA)
wird sogar betont, dass "dem Erschließen von
literarischen Texten (...) vorrangige Bedeutung zu(kommt), denn das Verstehen
literarischer Texte eignet sich als Muster des Verstehens überhaupt." (S.5)
Die schulische
Textinterpretation ist ▪
produktorientiertes Schreiben über
literarische Texte
in einem individuellen ▪
Schreibprozess
in Form eines Interpretationsaufsatzes, d. h. einer sprachlich
in sich geschlossenen Darstellung eines Textverstehensprozesses
und seiner (vorläufigen) Ergebnisse. Unabhängig davon ob die
Schreibaufgabe in einem vollständig
offenen Aufgabenformat ("Interpretieren Sie den Text xy.")
gestellt oder mit zusätzlichen
Relevanzinstruktionen
zu bestimmten formalen oder inhaltlichen Aspekten, die dabei
besonders berücksichtigt werden sollen, versehen ist, stets
stellt diese Art der Textinterpretation einen
Erschließungsprozess des Textes auf allen Ebenen dar und den
Versuch, auf der Grundlage von Hypothesen in einer
Text-Leser-Interaktion ▪
einen plausiblen Bedeutungs- bzw. Sinnzusammenhang zu
konstruieren.
Zur Bewältigung
der Schreibaufgabe muss der Schreiber auf sein
deklaratives und
prozedurales
(Vor-)Wissen (Weltwissen,
Fachwissen,
Sprachwissen
und
thematisches Wissen) zurückgreifen und dabei "analytische,
interpretative und argumentative Fähigkeiten des Formulierens,
Belegens und Begründens von Deutungshypothesen" (Ehlers
2010 , Kap. 8.1.5 Schriftliche Formen der Interpretation) integrieren. Dabei
gilt, und das wir nicht selten bei der Beurteilung und Bewertung
von Interpretationsleistungen übersehen, dass die Fähigkeit und
die Möglichkeiten des einzelnen zur ▪
Sinnkonstruktion oft mehr von diesem textexternen Wissen
abhängen, als den Fähigkeiten zur Textanalyse. Es ist also immer
der oder die Person im Vorteil, die über ein großes und
breitgefächertes Vorwissen verfügt, um den ▪
Motor der Inferenzbildung über ▪
enge und ▪
Brücken-Interenzen hinweg mit ▪
elaborativen Inferenzen richtig auf Touren zu bringen.
Die schriftliche
Textinterpretation stellt hohe Anforderungen an die Lese- und
Schreibkompetenz
Die
schriftliche Textinterpretation stellt hohe Anforderungen an die
Lese- und
an die
Schreibkompetenz. Sie ist von Vorformen abgesehen, deshalb
auch eine schulische Schreibform, die in dem
kompetenzorientierten Literaturunterricht allmählich in den
Jahrgangsstufen 9 und 10 eingeführt und dann in der
Sekundarstufe II in ihrer elaborierten Form verortet ist.
Ohne dies an
dieser Stelle vollumgänglich thematisieren zu können, sei auf
die Komplexität der Faktoren hingewiesen, die bei der
Bewältigung solcher Schreibaufgaben eine Rolle spielen und die
auf jeden Schreiber bzw. jede Schreiberin in unterschiedlicher
Art und Weise einwirken.
In jedem Fall
sollten die unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse, die im
Zusammenhang mit der Interpretation literarischer Texte im
Allgemeinen und der schriftlichen Abfassung im Besonderen
stehen, das wirksame Ineinandergreifen von
inhaltlichem Wissen,
pragmatischem Wissen,
Sprachwissen
und
Textstrukturwissen nicht nur verdeutlichen, sondern auch mit
geeigneten Angeboten im
Lern- und
Übungsraum schulischen Lernens erproben und einüben, ehe sie
sich als Leistungsaufgaben, die u. U. von vielen gar nicht so
ohne Weiteres zu bewältigen sind, zu ernsthaften ▪
Schreibstörungen
und Schreibblockaden auswachsen können. Dass es dabei auch
um den Erwerb und die Festigung geeigneter
▪
Lese- und Rezeptionsstrategien
und ▪
Schreibstrategien
geht, die jeweils auch immer wieder Gegenstand von
metakognitiven Selbstreflexionsprozessen sein müssen, sei nur
der Vollständigkeit halber erwähnt.
Insgesamt gibt
es also viel zu beachten und zu tun, wenn Schülerinnen und
Schüler bei der Bewältigung der Schreibaufgaben in einem
selbständig organisierten Schreibprozess, die Grundfragen
beantworten sollen
Das kann nach dem Muster des Interpretationsaufsatzes erfolgen, der konzeptionell
den Prinzipien der ▪
kontextualisierten werkimmanenten Interpretation folgt.
Wer
also eine Schreibaufgabe im
offenen Aufgabenformat mit dem Auftrag. "Interpretieren Sie den Text xy."
oder eine Schreibaufgabe, die daneben noch bestimmte Relevanzinstruktionen
zu bestimmten formalen oder inhaltlichen Aspekten, die dabei besonders
berücksichtigt werden sollen, gestellt bekommt, von dem wird bei der Bewältigung
der Schreibaufgabe ein Interpretationsaufsatz erwartet, der "analytische,
interpretative und argumentative Fähigkeiten des Formulierens, Belegens und
Begründens von Deutungshypothesen (integriert)." (Ehlers
2010 , Kap. 8.1.5 Schriftliche Formen der Interpretation)
Die Methode, mit der man einen
solchen Interpretationsaufsatz erarbeitet und strukturiert, kann als
▪
untersuchendes
Erschließen literarischer Texte bezeichnet werden.
Entsprechende Schreibaufgaben
verwenden in der Regel die Aufforderung zum
Interpretieren als einen übergeordneten Operator, der die Schreibaufgabe
insgesamt bezeichnet und gegebenenfalls um bestimmte Teilaufgaben, die im Rahmen
des von dem mehr oder weniger klar umrissenen Textmuster Interpretationsaufsatz
in jedem Fall zu behandeln sind. In der Regel sollen derartige "Hilfestellungen"
den ansonsten sehr umfänglichen Schreibprozess entlasten, indem sie die
Aufmerksamkeit auf bestimmte relevante Aspekte der Interpretation lenken.
Die Zeit der Deuter
ist vorbei
Wenn es in der Schule darum geht, einen (fiktionalen,
literarischen) Text zu interpretieren, dann taucht heute wohl nur noch
selten das "Gespenst der so genannten richtigen Interpretation" (Steinmetz 1995,
S.476) auf, die man meist dann als erreicht ausgegeben hat, "wenn
die Bedeutung im Text und im Text allein, unter Verzicht also auf alle
textexternen Faktoren, gewonnen werden konnte". (ebd.).
Heute scheint jedenfalls "die Zeit der Deuter" (Fingerhut
1983, S.356) "vorbei zu" sein und "die Festlegung auf die starren,
lehrerfixierten und zum Dogmatismus neigenden
Interpretationsrituale" (Paefgen
22006, S.129) ist wohl ebenfalls passe. (Fingerhut
1983, S.356). Die Zeiten also, in der sich ein Schüler wie der
Schriftsteller »Peter
O. Chotjewitz (1934-2010) in einer "seelenlosen
Pflichtübung" (Kepser/Abraham
42016, S.246) als Mitglied "einer Art
Literaturdechiffrier-Club" vorkam, in dessen Sitzungen es darum
ging, überall in der Literatur "doppelte Böden, Tretminen,
Spiegelkabinettstückchen und Sinnestäuschungen gegen den Wind"
zu wittern, um am Ende beim "Allgemeinmenschlichen" zu landen
(zit. n.
Fingerhut 1983,
S.356), sollten also vorbei sein.
Was den Schülern dabei vorgemacht wurde: Literarische Texte haben offenbar etwas zu
verbergen, was sich nicht auf der "Textoberfläche" ergibt.
Ohne die Einnahme einer
"Haltung des fragenden Verstehens"
(Reichert
1995, S. 221), so lautet die Botschaft, kann man eigentlich nicht zu jener Bedeutungsschicht eines
literarischen Textes vorzudringen, die sich einem
literarisch kompetenten Leser beim
Verstehen literarischer Texte erst erschließen sollte.
Und wer fleißig
am Text "arbeitet", hat gute Aussichten in die Tiefendimensionen
des autonomen Kunstwerks vorzudringen. Den Schülern im
Literaturunterricht vorzumachen, wie man dahinter kommt, was ein
Text eigentlich verbirgt, ist zumindest in der von der
Werkinterpretation konzeptualisierten Art und Weise im
kompetenzorientierten Literaturunterricht von heute keine
literaturdidaktische Option mehr.
Solche
Vorstellungen, die auf die Konzeption der ▪
Werkinterpretation von ▪
Emil Staiger (1908-1987) und ▪
Wolfgang Kayser (1908-1960) zurückgeht, spielen heutzutage
im Literaturunterricht eigentlich keine Rolle mehr, was aber
nicht bedeutet, dass die ihnen zugrundeliegenden hermeneutischen
Erschließungsverfahren ebenfalls keine Bedeutung mehr besitzen.
Ganz im Gegenteil:
Auch wenn gegen den ▪
hermeneutischen Ansatz vielerlei berechtigte
Kritik vorgebracht wird, ist der besondere "Verstehens- und
Auslegungsprozess" der damit beschrieben wird, "die theoretische Basis
jeglicher Interpretation" und ihrer verschiedenen Zugänge und
Umgangsweisen von Literatur. (vgl.
Becker/Hummel/Sander 22018, S.193)
Insbesondere sein
"Anspruch, dem Text selbst und seiner Erscheinungsform in der
literaturwissenschaftlichen Analyse vordringliche Aufmerksamkeit zu
widmen, gilt nach wie vor. Die genaue Erfassung dessen, was im Text
steht und wie es sich vermittelt, gehört [...] zu den grundlegenden
philologischen Fähig- und Fertigkeiten, die unabhängig davon, welcher
methodische Ansatz oder welche erkenntnisleitende Fragestellung verfolgt
wird, die literaturwissenschaftliche Arbeit bestimmen." (Wagner-Egelhaaf
72006, S.200)
Literaturdidaktisch ist
dies unbestritten. Dass "zeitlich und kulturell ferne Texte, deren
Welten dem gegenwärtigen Leser fremd sind" (Ehlers
2016, 4.1 Textverstehen), "gewisser interpretatorischer
Anstrengungen bedarf" (ebd.)
und Interpretationshandlungen verlangen, "um eine solche Differenz
zwischen Text und Leser zu überbrücken" und auf diese Weise "die
andere Welt mit ihren Glaubens-/Normensystemen, Weltbildern und
Lebensformen" (ebd.)
zu erschließen, steht für die Literaturdidaktik außer Frage.
Und auch in den den
Einheitlichen Prüfungsanforderungen in
der Abiturprüfung Deutsch (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
01.12.1989 i. d. F. vom 24.05.2002) (EPA)
wird sogar betont, dass "dem Erschließen von
literarischen Texten (...) vorrangige Bedeutung zu(kommt), denn das Verstehen
literarischer Texte eignet sich als Muster des Verstehens überhaupt." (S.5)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.07.2024
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