Gewöhnlich ist
verlangt, dass man eine Geschichte "einfach" fortschreibt und
sich dabei, abgesehen von neuen Momenten, die für die
Fortführung der Handlung notwendig sind, an die in der
literarischen Vorlage vorhandenen Strukturen hält. In diesem
Fall muss die eigene Gestaltung also an das Vorgegebene
anschließen. Das bedeutet aber insgesamt nicht, dass man nur
imitiert, was in der Vorlage schon enthalten ist. Schließlich
muss ja auch das strukturorientierte Fortschreiben bei aller
Bindung an die Vorlage auch einen hinreichenden "Spielraum
individueller Akzentuierung und Pointierung" (EPA
2002) lassen.
Einfach
drauflos
zu schreiben, ist auch beim gestaltenden Interpretieren
erzählender Texte meistens nicht die beste Idee, auch wenn sich
einem schon nach der ersten Lektüre der Vorlage bestimmte
Gestaltungsideen aufdrängen. Am besten hält man diese irgendwie
schriftlich fest, damit sie nicht verlorengehen. Doch dann ist
Textarbeit an der literarischen Vorlage gefragt. Dabei geht es
darum, dass man die den Erzähltext erst einmal vollständig
erfasst und sich sein eigenes
Textverständnis erarbeitet. Das bezeichnet man als das
▪ Erschließen des Textes.
Ganz allgemein bedeutet dies, dass man
den Erzähltext
genau, am besten mehrfach
intensiv liest, den
Inhalt des
Textes erfasst ( z. B. mit ▪
Annotieren,
▪
W-Fragen-Methode, ▪
Sinnabschnitte
oder komplexere Konzepten wie die ▪
SQ3R-Technik)
und seine Strukturen unter dem Blickwinkel, den die
Schreibaufgabe vorgibt, untersucht.
Natürlich kann
man bei seiner Analyse schon sein Augenmerk auf jene Elemente
der Vorlage richten, die im Gestaltungsauftrag der
Schreibaufgabe vorgegeben sind.
Ist man damit
fertig, kann man sich wieder seinen u. U. schon vorher notierten
Gestaltungsideen zuwenden. Dabei kann man auf dem Hintergrund
des eigenen Textverständnisses ihr Gestaltungspotential
einschätzen und auch, inwieweit sie ▪
zur Vorlage und ihren
Strukturen passen. Nicht brauchbare Ideen können verworfen
und durch neue Ideen ersetzt werden.
Die meisten
Einfälle beim gestaltenden Interpretieren fallen nicht vom
Himmel, sondern sind das Ergebnis einer erfolgreichen und gut
organisierten Textarbeit an der literarischen Vorlage und dem
eigenen Schreibprodukt. Einen für jede/Schreiberin* passenden
Königweg, mit welcher
Schreibstrategie man zum besten Ergebnis kommt, gibt es aber
auch bei der gestaltenden Interpretation nicht. Das hängt sehr
von den Schreiberfahrungen und der Schreibentwicklung jede/r
einzelnen Schreiberin* ab und davon, ob man sich, was das
anbelangt, auch angemessen selbst einschätzen kann.
Das bedeutet
zunächst einmal, dass man
an
Inhalt und Handlungsführung plausibel anknüpfen muss.
Hier geht es also um Fragen wie:
-
Schließen die
Ideen, die man beim gestaltenden Interpretieren umsetzen
will, plausibel an? Tun sie dies so "nahtlos", dass sie ohne
das Hinzuerfinden von Handlungsvoraussetzungen, die die
Vorlage eigentlich nicht hergibt, tun?
-
Sind die
möglichen Wendungen, welche die Geschichte im eigenen Text
nehmen soll, durch Elemente der literarischen Vorlage, z. B.
den darin gestalteten Charakter einer Figur, hinreichend
motiviert?
Die
Bindung an Inhalt und Handlungsführung der literarischen Vorlage
beinhaltet auch, dass man sich beim Weitererzählen in
Traumfantasien des Erzählers stürzt, weil man glaubt, im Traum
sei halt einfach alles möglich. Schnell vergaloppiert man sich
damit in eine eigene Traumwelt, die alle Korrespondenzbezüge der
Freiheit der Fantasie opfert.
Aber damit
nicht genug. Ebenso muss man die in der literarischen Vorlage
vorhandene Erzählperspektive und das ihr zugrundeliegende
Erzählerverhalten fortführen.
Man kann also
nicht einfach den Erzähler wechseln, aus einem allwissenden
Erzähler einen an eine andere Figurenperspektive gebundenen
Erzähler machen. Und natürlich gilt dies auch umgekehrt: Die
beim
personalen Erzählen aus der Sicht einer bestimmten Figur,
kann man eben nur das erzählen, was diese Figur erlebt und kann
auch nur in das Innere dieser Figur sehen. Diese eingeschränkte
Fähigkeit zur
Introspektion darf man also nicht übersehen, wenn die
literarische Vorlage in einer eindeutig
figuralen Perspektive dargeboten wird. In diesem
Zusammenhang geht es also um Fragen wie:
Analog gelten
ähnliche Überlegungen auch für andere Strukturen der Vorlage. So
muss man sich
an sprachlich-stilistische Merkmale des Ausgangstextes halten.
Ist dieser, auch bei der Darstellung wörtlicher Rede von
Figuren, typisch für die Zeit, in der das Geschehen spielt oder
die literarische Epoche sowie für den Charakter einer bestimmten
Figur kann man also, sofern die Schreibaufgabe, dies nicht
anders vorgibt, nicht ändern. Insbesondere muss man sich vor
"modernisierend" wirkenden Ausdrucksweisen hüten, die einfach
nicht zur literarischen Vorlage passen.
Es gibt Schreibaufgaben zum gestaltenden Interpretieren
erzählender Texte, die über die Art und Weise, wie eine
Geschichte forterzählt werden soll, genauere Angaben machen. Im
Grunde genommen werden damit meistens die textproduktiven
Umgangsweisen des Weiterzählens mit denen des ▪
Umerzählens verbunden.
Solche Vorgaben können den Inhalt oder bestimmte
Kommunikationssituationen betreffen, wenn z. B. formuliert wird,
wie beim Weiterzählen der um den letzten Satz gekürzten
Kurzgeschichte "San
Salvador" von
Peter Bichsel:
Schreiben Sie die Erzählung weiter. Gehen Sie dabei von
folgender Situation aus: Nachdem Hildegard von ihrer Probe nach
Hause zurückgekehrt ist, stellt sie fest, dass Paul nicht zu
Hause ist. Sie findet die Zeilen, die Paul geschrieben hat und
reagiert darauf ganz anders, als sich Paul das vorgestellt hat.
Vorgaben können aber auch zum Verändern der Erzählperspektive
gemacht werden. Dies bedeutet, dass das weitererzählte Geschehen
aus einer anderen Perspektive als der in der Vorlage gestalteten
dargeboten werden soll.
▪
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20 Möglichkeiten, um einen vorgegebenen Text
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▪
Didaktische
und methodische Aspekte
▪
Einen literarischen Text
gestaltend erschließen
▪
Formen des
schriftlichen Erzählens in der Schule
▪
Eine literarische Vorlage weitererzählen
▪
Eine Erzählung fortschreiben
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
01.07.2024