Sicher macht es Sinn, sich bei der Beurteilung von
Charaktereigenschaften an Wertvorstellungen zu halten, die einem mehr oder
weniger geläufig sind. Und ganz bestimmt kann, ja sollte sogar, eine
derartige Wertung der Eigenschaften einer Figur bei den abschließenden
Bemerkungen, dem eigenen Werturteil über eine Figur, am Ende der
literarischen
Charakteristik vorgenommen werden.
Ob diese Unterscheidung für die literarische Charakteristik selbst
etwas taugt oder nicht, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Zweifel
daran sind jedoch angebracht, weil dieses Schema, wenn es allzu starr
gehandhabt wird, in eine Schwarzweiß-Malerei ausartet, die den
individuellen Ausprägungen bestimmter Wesensmerkmalen durch eine Figur
nicht mehr gerecht wird. Gerade die charakterlichen
"Zwischentöne", die sich einer eindeutigen Zuordnung dieser Art
entziehen, können aber das Individuelle an einer Figur ausmachen.
So gesehen ist also eine gewisse Vorsicht geboten.
Außerdem kann die Beurteilung von charakterlichen Wesensmerkmalen
einer Figur durch den Verfasser einer literarischen Charakteristik
gänzlich anders ausfallen als die Beurteilungen und Bewertungen einer
Figur, wie sie in
direkter
oder
indirekter
Form im Text selbst vorgenommen werden (explizite
und
implizite
Figurencharakterisierung). Und schließlich kann sich auch die
funktionale Bedeutung bestimmter charakterlicher Merkmale auf beiden
Ebenen erheblich unterscheiden.
Machen wir's kurz:
Positive und negative Charaktereigenschaften nur dann zur
Einteilung/Gliederung verwenden, wenn man sich der oben dargestellten
Problematik bewusst ist und diese auch gebührend thematisieren kann.
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2019