Texterörterung

YouNow oder: "Viel Lärm um nichts"?

Gert Egle (2015)


"Sind die alle bescheuert?" fragt  fatherted98 in seinem Kommentar  zu einem Artikel auf Spiegel online und spricht damit aus, was viele denken. "Kinderschlafzimmer-TV" nennen es die einen, "Online-Striptease aus dem Kinderzimmer" die anderen.
YouNow heißt das 2011 gegründete US-amerikanische Videoportal aus New York City, auf dem die Benutzer kostenlos Live-Streams ansehen, bewerten und selbst streamen können. FAQs, Nutzungsbedingungen und Datenschutzregeln gibt es inzwischen auch auf Deutsch. Wer sich nackt präsentiert, dem wird die Kontosperrung angedroht. Und der Startseite ist ein Pop-Up-Fenster mit der Frage vorgeschaltet: Bis du älter oder jünger als 13 Jahre alt? Nutzer werden aufgefordert, Verstöße zu melden.
Im Frühjahr 2015 lag der Anteil der Jugendlichen, die auf der Mitmachplattform in unterschiedlicher Weise aktiv waren, noch unter 0,5%. (vgl. Döring 2015, S.53)  Kein Grund also in einen gutmenschlichen Alarmismus zu verfallen. Doch für die Medien und den einschlägigen Kulturjournalismus war und ist YouNow als vermeintlicher "
Tummelplatz für Pädophile" seitdem ein gefundenes Fressen.
"Politiker und Jugendschützer schlagen Alarm", heißt es im stern im Februar 2015, für den zwei stern TV-Redakteurinnen sich das neuartige Streaming Portal angesehen haben. Und was sie berichten, verschlägt jedem Jugendschützer und vielen besorgten Eltern den Atem. So berichten sie von zwei achtjährigen Mädchen, die Kommentare wie die folgenden zu ihrem Videostream erhalten hätten: "Habe meinen in der Hand oder Reibe mich gerade, ihr seid so heiß." Und sie finden mühelos offenbar noch weitere solche obszönen Kommentare. Und viel schlimmer noch: "Eine 13-Jährige wird im Chat aufgefordert, ihren BH zu zeigen – und sie macht es wenig später tatsächlich. Die Zahl ihrer unbekannten Zuschauer steigt binnen weniger Minuten von 172 auf 380 – und das Mädchen damit in der Ranking-Liste bis fast nach oben. Das nämlich ist es, was die meisten Kids um jeden Preis wollen."  Was den stern im Februar 2015 erschreckt, "ist vor allem die Naivität der meisten Nutzer. Sie scheinen die Aufmerksamkeit zu genießen und beantworten ohne nachzudenken alle erdenklichen Fragen aus dem Chat. Vom eigenen Alter, über die Anzahl der Geschwister bis zum Wohnort. Der beim Schreiben oder der Aufzeichnung eines Videos zumindest theoretisch vorhandene Moment des Überlegens fällt weg, es zählt die schnelle Antwort."
Und auch eine einstündige Recherche des Spiegel– ähnlich auch Zeit online vom 5.2.2015 - führt zu einem ähnlichen Ergebnis: "Das Fazit nach einer Stunde YouNow: Alle verraten sofort ihr Alter. Fast alle geben ihren Wohnort und ihren Namen in sozialen Netzwerken preis. Und wer sich einen kostenlosen Instagram-Account anlegt, wird dort von vielen sogar die Telefonnummer bekommen." (S. Meineck, Spiegel online, 29.01.2015)

Und auch Jugendschützer sehen sich landauf landab auf den Plan gerufen. Sie sehen das Ganze zwar differenzierter, aber auch einem engagierten Medienpädagogen wie Markus Merle, der im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW das Jugend-Informationsportal Handysektor betreibt, reicht offenbar "ein kurzes Zapping durch die Kanäle" um zu sehen, "wie leichtfertig viele auf Nachfrage ihren Namen und ihr Alter herausrücken." (Zeit online vom 5.2.2015) Dabei räumt er ein, dass ein Teil der Jugendlichen zwar schon sehr reflektiert damit umzugehen wisse, doch, fügt er an, "wenn man einmal drin ist in dem Bann, gibt man eventuell zu schnell private Details preis." (ebd.) Und doch rät der Medienpädagoge zu Gelassenheit. Auch wenn höhere Einstiegshürden geschaffen und die Kontrolle der Altersverifizierung durch YouNow verbessert werden müsse, komme es darauf an „unaufgeregt über das Phänomen aufzuklären“ und sich vor allem nicht nur mit den "Horrorstorys aus den Medien" seine Meinung zu bilden.
Was von diesen bedient, verfestigt und immer wieder heraufbeschworen wird, hat Nicola Döring (2015, S.53), Professorin für Medien und Kommunikationswissenschaft an der TU Ilmenau, mit folgendem  Nutzungsszenario beschrieben: "Ein 14-jähriges Mädchen zeigt sich zwanglos im eigenen Kinderzimmer vor der Kamera (z. B. im Pyjama auf dem Bett) und wird vom anonymen Publikum (darunter in nennenswerter Zahl Pädophile) anzüglich ausgefragt (‚Was trägst du für Unterwäsche?‘) und aufgefordert: ‚zeig dich mal nackt‘, ‚zeig mal deinen BH‘. In dem fehlgeleiteten Streben nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und medialer Berühmtheit tut das Mädchen dann vor der Kamera so gut wie alles, um dem Publikum zu gefallen. Über die Gefahren und Folgen ihres Tuns (sie lockt Missbrauchstäter an, ruiniert ihren Ruf unter Peers, wird Mobbingopfer) denkt sie nicht nach."
Es sind immer wieder die gleichen Mythen, die wider besseren Wissens über die Ursachen und Formen sexualisierter Gewalt von den Medien bedient werden. Ihr Ziel: Eine erhöhte Missbrauchsgefahr durch eine Plattform wie YouNow herbeizureden. Dazu schreiben sie, wie Nicola Döring (2015, S.55) ausführt, den Opfern die Schuld zu. Und dies folge immer dem gleichen Schema: Einmal  seien die Miniröcke von Frauen zu kurz, wenn sie nachts in einem Park vergewaltigt würden, und, im Fall von YouNow, seien die Mädchen selbst schuld, wenn sie mit ihrer freizügigen Selbstdarstellung ins Fadenkreuz von Pädophilen gerieten. Statt "an der realen, alltäglichen Gewalt in Paarbeziehungen, Familien, Institutionen" anzusetzen, würden Frauen und Mädchen belehrt, "sich anders zu verhalten‚ ‚Triebtäter‘ und ‚Pädophile‘ werden verteufelt." Mit der Wirklichkeit des "Nischenmediums" (ebd.) YouNow haben solche Mythen wenig zu tun. Die abstrakten Feindbilder, die ihnen zugrunde liegen und die immer wieder aufs Neue bedient werden, entlasten, weil sie von der Untersuchung der tatsächlichen Täter und Tätergruppen sexuellen Missbrauchs, die meist aus dem familiären Umfeld kommen, ablenken.
Wer will, wird bei YouNow schnell sexualisierte und sexistische Sprüche finden. Aber diese hört man unter Jugendlichen überall. Statt sich darüber aufzuregen, wäre es, wie Döring meint, eher angebracht, sich einmal mit der Frage zu befassen, "warum noch immer so viele männliche Heranwachsende sich darüber profilieren können und wollen, ihre weiblichen Peers durch nicht-einvernehmliches sexualisiertes Verhalten zu bedrängen" (ebd. S.55) – und das wohlgemerkt im "richtigen Leben" genauso wie als Chatter auf YouNow.
Gewöhnlich ist das, was auf YouNow "abgeht", unspektakulär. Was geboten wird, sind banale Einblicke in das Alltagsleben im Stil des Reality-Fernsehens. Natürlich ist YouNow eine Bühne für Selbstdarsteller mit dem Vorzug, von seinem Live-Publikum für alles, was man sagt und tut und wie man aussieht, unmittelbar Feedback zu bekommen. Und: Für Jugendliche hat das Spiel mit dem Gedanken, so irgendwie "populär" zu werden, einen besonderen Reiz. Eine Fünfzehnjährige schwärmt: "Vor ein paar Tagen war ich noch ein Opfermädchen und jetzt habe ich so viele Fans." (WDR-online, 18.2.2015) Von dem Druck, der daraus entstehen kann, diese Fans mit der eigenen Selbstinszenierung bei der Stange zu halten, spürt sie offenbar (noch?) nichts. Aber vielleicht entwickelt sie auch wie Yasmina ein dickes Fell und lässt anzügliche Aufforderungen oder Gemeinheiten von sich abprallen, ohne auf sie einzugehen. Ganz sicher, das scheint Yasmina zu wissen, ist man im Internet und auch auf YouNow nicht, auch wenn sie die meisten Sachen nicht macht, die von ihr verlangt werden. „Als einer fordert, dass Jasmina mal ihr Skateboard zeigt, macht sie das aber schon. Sie beugt sich vom Bett runter, zieht es heran und hält es in die Kamera. Dabei sieht man Jasminas Beine, erst lang gestreckt, dann im Schneidersitz. Die Oberschenkel sind nackt. Im Chatfenster kommt jetzt plötzlich die Meldung: 'KrummBein took a snapshot.'" (faz online, 25.02.1015) Und: Krummbein, das zeigt sein YouNow-Profil, hat den Live-Stream von 13 jungen Mädchen abonniert und von mehreren Schnappschüsse gemacht.  - Das „Böse“ ist im Internet nicht aus der Welt, wer wollte dies bei aller Warnung vor übertriebenem Alarmismus und der medialen Sensationalisierung ernsthaft behaupten!
Was die Wissenschaft zu YouNow derzeit zu sagen hat, ist in aller Kürze: "YouNow wird von einer kleinen Minderheit von Jugendlichen als sozialer Treffpunkt, als Reality-Programm und als Performance-Bühne angeeignet. Spezifische Gefahren, die über die generellen Risiken in den Lebenswelten Jugendlicher hinausgehen, sind dabei nicht erkennbar." Auf die "Verzerrungen in der medialen YouNow-Berichterstattung" mit ihren "reißerische(n) Berichte(n)" müsse man vor allem besonnen und mit der gebotenen Differenzierung antworten. (Döring 2015, S. 58) Gefragt sind Ansätze, die für einen kompetenten Umgang der Jugendlichen mit der Video-Streaming-Plattform sorgen wollen. Denn, wer YouNow kompetent nutzen will,  sollte sich genau überlegen, was er/sie unter welchen Bedingungen und in welcher Online-Performance für wen preisgeben will, und wissen, wie man dies in den Einstellungen der Plattform steuern kann. Und auch das Wissen, wie man frühere Streams löscht, gehört zum Thema Privatsphäre und Datenschutz auf YouNow. Und wer sich, und das sind auch auf YouNow meistens Mädchen, sexuell bedrängt und belästigt fühlt, muss wissen, wie man solche Userinnen und User blockiert und den Moderatoren meldet. Und das Wissen, dass man Dritte nicht ohne Ihre Zustimmung "streamen" und keine GEMA-geschützte Hintergrundmusik laufen lassen darf, wenn man online geht, ist ein Muss.  .
Ansonsten spricht, wenn man einmal seine ganzen Vorurteile beiseitelässt, wenig gegen diese medienvermittelte Form „gemeinsamen Abhängens“, sofern sie dem Zeitvertreib dient und zur Geselligkeit mit den Gleichaltrigen beiträgt. Alles ist dabei eine Frage des Maßes.

Gert Egle, www.teachsam.de,  08.07.2015)

 

   Arbeitsanregungen zur Texterörterung:
  1. Geben Sie den Text in Form einer strukturierten Textwiedergabe wieder.

  2. Arbeiten Sie heraus, wie wie der Verfasser die YouNow und die mediale Berichterstattung darüber einschätzt.

  3. Erläutern Sie die im Text genannten Probleme, die damit im Zusammenhang stehen.

  4. Nehmen Sie zu seinen Aussagen kritisch Stellung.

   Arbeitsanregungen zur Visualisierung: