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Gedichte zu schreiben steht bei Schülerinnen und Schülern nicht unbedingt
ganz oben auf der Wunschliste kreativen Schreibens. Das hat mannigfache
Gründe. Einer aber ist davon, dass das Verfassen eines Gedichts von vielen
als eine höchst private Angelegenheit angesehen wird. Der Ausdruck von
Gefühlen, den die meisten von ihnen in Verbindung mit Lyrik bringen, sieht
man einmal von der Alltaglyrik zu bestimmten Feiern in der Familie u. ä. m.
ab, macht es dem lyrischen Schaffen in der Schule nicht gerade leicht.
Die Bewältigung altersspezifischer →Entwicklungsaufgaben
in der →Adoleszenz
mit der →Arbeit
an der eigenen Identität als deren Kern (vgl.
(Fend
2003, S.402) nimmt insofern auch mehr oder weniger direkten
Einfluss auf die Motivation der Schülerinnen und Schüler dieses Alters, sich
auf das Schreiben von Gedichten einzulassen. Auf dem Weg zu einem neuartigen
→reflektierten
Ich-Welt-Bezug, bei dem zunächst einmal alte Sicherheiten bei der →Selbstdarstellung
entfallen, bietet sich das Gedicht, wie es die Schülerinnen und Schüler
sehen, wohl nicht an, um neue Formen der Selbstrepräsentation auszuprobieren
und auf diesem Wege auch soziale Rückmeldungen zu erhalten, die zu neuen
Selbstdefinitionen zwingen, Korrekturen am eigenen Selbst nahelegen und
damit den Aufbau eigener Standpunkte ermöglichen.

Zugleich gibt es aber Formen des Lyrischen, die auf Akzeptanz stoßen, seien
es Songs der Musikindustrie oder auf vielfältige Weise selbstproduzierte,
die über soziale Netzwerke oft ein Millionenpublikum finden, vorausgesetzt
der Song trifft das Lebensgefühl einer bestimmten Jugendkultur. Und: Wer
einmal auf einschlägigen Videoplattformen sucht, wird schnell fündig.
Videopodcasts mit lyrischen Botschaften an die Netzgemeinde oder an einzelne
Personen im öffentlichen Raum des sozialen Netzwerkes, öffentliche
Liebeserklärungen, sentimentale Freundschafts- und Stimmungslyrik, mehr oder
weniger gut multimedial gestaltet, zeigen, dass Lyrik, wenn sie im
Bewusstsein ihrer Produzenten in einem modernen Gewand daherkommt, durchaus
ein Medium ist, das Selbstausdruck und Kommunikation miteinander zu
verbinden weiß. Dabei macht die multimediale Gestaltung von Lyrik wohl
auch männliche Jugendliche mit ihrer Technikaffinität wieder leichter zu
"Dichtern" als das beim herkömmlichen Umgang mit Lyrik zu beobachten
ist. Bei Mädchen dagegen scheint der Zugang zu Lyrik auch in der Adoleszenz
weniger versperrt. Ohne lediglich Vorurteile bestätigen zu wollen, scheint
sich doch ein roter Faden durchzuziehen von den heutzutage vielleicht
antiquiert erscheinenden Posiealben - mit oder ohne Schloss - bis hin zu den
"Lyrikwellen", die in der Vergangenheit schon Abertausende junger Mädchen
erzeugt haben, wenn sie ihr Leid über die Auflösung ihrer geliebten Boyband,
hieß sie nun »Take
That (1996) in den lyrischen Äther hinausschrieben.
Auch wenn der Lyrikproduktion in der Schule manches entgegenstehen mag,
scheinen es eben doch auch die Alltagsprobleme von Jugendlichen zu sein, die
ihr Chancen eröffnen. Geht es dabei doch neben der Schule, meisten um
"Probleme im Zusammenhang mit Schwierigkeiten,
Gefühle zu kontrollieren" oder "Probleme mit
Gleichaltrigen", darunter Meinungsverschiedenheiten,
Eifersucht und Konflikte in heterosexuellen Beziehungen (Fend
2003, S.215, im Anschluss an
Seiffgke-Krenke 1995, S.81ff.), gerade auch beim lyrischen Schreiben
im Sinne sowohl
aktiven wie
internalen Copings bearbeiten lassen. (→Coping-Strategien)
Im lyrischen Sprechen der unterschiedlichsten Art wird kann offenbar auch
für junge Leute zur Sprache gebracht werden, was ansonsten kaum zu sagen
ist. Ähnlich argumentieren
Felsner/Helbig/Manz 2009, S.13), wenn sie davon sprechen, dass die
jungen Leute sich in einer Zeit, in der sie ihrer Individualität bewusst
würden, sich auch "ausreichend einzigartig" genug fühlten, um auch
entsprechende Texte zu produzieren und "Unaussprechliches auszudrücken." (ebd.)
Das bedeutet indessen nicht, dass sich die multimediale Gestaltung von
Gedichten nur im Rahmen dieser entwicklungspsychologischen Aufgaben und
Voraussetzungen zu bewegen hat. Sie kann aber gerade in einer Zeit mit
wachsender Bedeutung sozialer Netzwerke und ihrer spezifischen
Selbstdarstellungsproblematik einen wichtigen Beitrag zur Identitätsbildung
leisten, wenn sie sich versucht, solchen Themen zuzuwenden, die in
jugendlicher Selbst- und Welterfahrung einen hohen Stellenwert besitzen.
Die multimediale Gestaltung von Gedichten ist eine kreative Schreib- und
Gestaltungsaufgabe, die alle verfügbaren Codes und Kanäle nutzt, um eine
mit ästhetischen Mitteln gestalte Aussage in Form eines lyrischen Textes zu
gestalten. Dabei dient der der Begriff Lyrik eigentlich nur zur Abgrenzung
von dramatischen und epischen Formen und schließt eine große Formenvielfalt
ein, die Piktogramme,
Permutationen, Montagen, kurz alles, was oftmals unter dem Begriff
visueller Dichtung
bzw. visueller Poesie zusammengefasst wird. Dazu zählen aber durchaus auch
vergleichsweise konventionelle Gedichte in gebundener oder ungebundener
Sprache, soweit sie multimediale Elemente der Gestaltung einsetzen. In jedem
Fall geht es immer auch um das Experimentieren mit literarischen Formen.
Ob das alles zu den Vorstellungen passt, die sich der einzelne von einem
Gedicht macht, kann letzten Endes nicht wissenschaftlich entschieden werden,
sondern muss jeder Textproduzent und Textrezipient selbst entscheiden. (vgl.
Felsner/Helbig/Mann 2009, S.239)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.09.2013 |
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