▪
Didaktische
und methodische Aspekte erörternden Schreibens
▪
Überblick
▪
Kompetenzen beim Erörtern
▪
Besinnungsaufsatz
▪
Erörterndes Schreiben in thematischen
Projekten
▪
Erörterndes
Erschließen (EPA 2002)
Begriffe zur Bezeichnung der Schreibform sind nicht einheitlich
Die Begriffe, die zur Bezeichnung der Schreibform des
▪
erörternden Schreibens verwendet werden, sind
leider nicht einheitlich. Sie unterscheiden sich
in den deutschsprachigen Ländern wie auch in den einzelnen Bundesländern
in Deutschland. Feststeht nur, dass man heutzutage aus begreiflichen
Gründen nicht mehr vom ▪ Besinnungsaufsatz
spricht.
Der Begriff Problemerörterung wird mitunter auch in Abgrenzung
zur so genannten Sacherörterung verwendet.
Erörtern heißt, ein Thema argumentativ entfalten
Erörtern bedeutet, vom Textmuster
her betrachtet, dass ein
▪ Thema,
zumindest überwiegend, argumentativ entfaltet wird.
Aber auch wenn eine Erörterung wohl immer
von der argumentativen Themenentfaltung dominiert ist, kann sie durchaus
auch Passagen enthalten, die anderen Textmustern wie z. B. dem Berichten
oder dem Beschreiben folgen,
explikative und
deskriptive
Passagen enthalten. Insofern kann die schulische Erörterung auch
als eine Mischform verschiedener Textmuster aufgefasst werden. (vgl.
Fix 2006/2008,
S.103)
Als Formen des ▪
erörternden bzw.
argumentativen
Schreibens stehen die traditionelle freie Problemerörterung und die
Sacherörterung heute neben einer Reihe anderer
▪ schulischer Schreibformen des
▪ erörternden Schreibens, mit denen sich Schülerinnen und Schüler mit
etwas Strittigem
auseinandersetzen.
Das Kriterium des Sach- und Weltbezugs: Freie Problemerörterung und
Sacherörterung
Gängiger Weise wird bei der freien, weil nicht an eine Textvorlage
gebundenen (daher auch: textungebundenen) Erörterung zwischen den beiden Grundtypen
(freie) Problemerörterung und Sacherörterung unterschieden.
Dabei wird für
diese Typologie das Kriterium des Sach- und Weltbezugs
herangezogen (vgl.
Fritzsche (1994,
S. 116). Aber natürlich lassen sich auch andere Kriterien finden (s. Abb.)
In den
Einheitlichen Prüfungsanforderungen in
der Abiturprüfung Deutsch (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
01.12.1989 i. d. F. vom 24.05.2002, S.17) werden die dem
▪
erörternden Erschließen zugeordneten Arbeitsformen und Aufgabentypen
nach dem
Kriterium des anzuwendenden Erschließungsverfahrens eingeteilt.
Dabei soll die freie Erörterung Themen von individueller und
gesellschaftlicher Relevanz erschließen und die
freie literarische
Erörterung sich allgemeinen, mit der Literaturproduktion und -rezeption
zusammenhängenden Fragen zuwenden.
Die Sacherörterung klärt Ergänzungsfragen, die Problemerörterung
Entscheidungsfragen
Die Sacherörterung
ist mit der Klärung von Ergänzungsfragen (auch
Sachfragen genannt) befasst, während die
Problemerörterung eine
Auseinandersetzung mit
Entscheidungsfragen,
häufig
allgemeinen Wertfragen,
verlangt. (vgl. auch: ▪
Geltungsansprüche
beim Argumentieren)
Dem unterschiedlichen Sach- und Weltbezug
entsprechend lassen sich Sacherörterungen als ▪
lineare
Erörterungen, Problemerörterungen als ▪ dialektische
Erörterungen auffassen.(▪
Erörterungstypen)
Problemerörterungen, die sich im Stile des herkömmlichen
Besinnungsaufsatzes
mit
allgemeinen Wertfragen beschäftigen, werden von Fritzsche als Sonderfall der (Problem-)Erörterung betrachtet.
Eine Schreibform mit ihrer eigenen Geschichte
Die freie Erörterung ist die älteste der Grundformen
▪ erörternden Schreibens
in der Schule und war im Laufe ihrer schulischen Vermittlung unter
dem Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen einem weitreichenden
Wandel unterworfen. (▪ Besinnungsaufsatz)
Bei aller,
beinahe schon rituellen Form der Kritik am Erörtern: Der didaktische Wert
der Schreibaufgabe Erörtern als solche ist schließlich nicht in Frage
gestellt und lässt sich auch, ganz modern, mit
empanzipatorisch-kommunikativen Zielen
verbinden. So führt beispielhaft
Matthießen
(2003, S. 135) dazu aus:
"Mit der Fähigkeit, ein bearbeitbares und
gesellschaftlich relevantes Thema zu erörtern, verfügt der Lernende über ein
existenziell bedeutendes Instrument der subjektiven Äußerung, welche durch
die Berücksichtigung der einzubindenden oder zu entkräftenden
Gegenstandspunkte objektiviert wird. Der Schüler nimmt mit seinem Schreiben
an einem öffentlichen Diskurs teil - auch wenn er nur für einen Korrektor
schreibt - und erarbeit sich sie Kompetenz zur Teilnahme am öffentlichen
Leben."
Und auch die in den
Einheitlichen Prüfungsanforderungen in
der Abiturprüfung Deutsch (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
01.12.1989 i. d. F. vom 24.05.2002, S.17) formulierten
Abiturstandards betonen ausdrücklich die besondere Bedeutung des Erörterns
bei der Herausbildung von "Urteilsfähigkeit und Standpunktbildung in einer
zunehmend pluralen Informationsgesellschaft". (▪
Erörterndes Erschließen)
Dabei verlange das erörternde Erschließen im Rahmen aller seiner
Aufgabenarten "eine Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen des
Menschen als Individuum und als Gemeinschaftswesen", die auf der Grundlage
von Kenntnissen und Einsichten, von Wertvorstellungen, Lese-, und
Wirklichkeitserfahrungen beruhen, die im Deutschunterricht und in anderen
schulischen Fächern aber auch außerhalb der Schule erworben worden sind.
(vgl. ebd.)
Im
prozessbezogenen ▪
Kompetenzbereich
▪ Schreiben
der ▪
KMK-Bildungsstandards
für das schriftliche Abitur im Fach Deutsch(BISTA-AHR-D-2012) werden Standards für das
▪
Erklärende und argumentierende
Schreiben
formuliert und dabei als Könnensbeschreibungen definiert. Dabei
wird der klassische Erörterungstyp der ▪
freien Problem-
und Sacherörterung bei den ▪
Aufgabenarten,
die in die beiden Gruppen ▪
textbezogenes und ▪
materialgestütztes Schreiben eingeteilt werden,
nicht mehr berücksichtigt.
Selbstaufklärung und Erkenntnisgewinn als Ziel des Schreibprozesses?
Angesichts der besonderen Bedingungen der Kommunikationssituation beim
schulischen Schreiben dient
das problem- und sachverhaltsbezogene Erörtern vor allem der eigenen
Selbstaufklärung im Zuge eines auf Erkenntnisgewinn ausgelegten
(epistemisch-)heuristischen
Schreibprozesses.
Schülerinnen und Schüler, die ein Thema oder eine Problemstellung erörtern,
-
erschließen sich unterschiedliche Aspekte des Themas,
-
werden sich über deren
Bedeutung im Allgemeinen und ihren Stellenwert im Rahmen der Themafrage klar
und
-
positionieren sich mit einem oder mehreren Standpunkten dazu.
Schriftliches Erörtern als Lernmedium
Betrachtet
man das schriftliche Erörtern in dieser Weise als ein "Lernmedium",
dann wird die schriftliche Erörterung zu "einer gewissermaßen
philosophischen Betrachtung" (Fritzsche (1994,
S. 129), wenn es sich um die Erörterung von Werturteilen handelt.
Dies gilt
zumindest so lange, wie es dem Schreiber gelingt, einen Schreibprozess zu
organisieren, der von einem einem hohen Grad der Bewusstheit und
Reflexionsfähigkeit beim Schreiben gekennzeichnet ist.
Das Schreibkonzept des schreibenden Experten für viele nicht
umsetzbar
Das hinter solchen Auffassungen stehende Konzept des
▪
schreibenden
Experten, der beim Schreiben nicht nur sein eigenes Vorwissen
reproduziert, sondern durch Verarbeitungsprozesse wie z. B. beim
Strukturieren oder Zusammenfassen auch zu neuen Erkenntnissen gelangt, ist mit
dem ▪ Stadium
der Schreibentwicklung der allermeisten Schülerinnen und Schüler
allerdings kaum
kompatibel.
Schriftliches Erörtern als Lernmedium hat seine Grenzen
Fasst man unter den schulischen Bedingungen das schriftliche
Erörtern als Lernmedium auf, dann sollte es sich also eher an der
Vorstellung des
▪
Lernerschreibens
als an der des Expertenschreibens orientieren. (vgl. dazu:
Pohl/Steinhoff,2010a)
Wie viel jedoch auch davon übrigbleibt, wenn das Erörtern zu einer
Schreibform mit klaren vorgegebenen Textmustern wird, also zum eigentlichen
Erörterungsaufsatz wird, ist zumindest fraglich.
Wenn die Erörterung also "Lerngegenstand"
(Fritzsche 1994,
S. 119) oder unter den Bedingungen einer anstehenden
bewertend-prüfenden Beurteilung der "Lernkontrolle dient" (ebd.),
sind sicher auch die Grenzen des "Lernschreibens" bald erreicht.
Denn wie sollte das Erörtern unter solchen Bedingungen als
"Lernmedium" funktionieren können, wenn die Orientierung, es dem
Lehrer recht zumachen (=
▪
soziale
Abhängigkeitsorientierung) eigentlich Erfolg verheißt oder einem
schlechte Erfahrungen beim Schreiben im Wege stehen und eine
zumindest überwiegend
▪
problem-
und aufgabenbezogene Orientierung beim Schreiben erschweren. (▪
lernstrategische
Orientierung beim Schreiben).
Wenn Schülerinnen und Schüler sich bei
ihrer "Argumentation und Entscheidung von
Wertfragen bewusst oder
unbewusst den vermuteten Erwartungen des Lehrers" anpassen (Fritzsche 1994,
S. 121), dann wird eben eher zur Heuchelei erzogen als zu einer kritischen
Reflexion. Insofern fördere, betont Fritzsche (ebd.)
weiter, die Erörterung als Klassenarbeit "nicht
das Denken, sondern das Taktieren."
Die Erörterung als "Lernmedium", mit dem
man sich in einem
epistemisch-heuristisch bzw. lernend angelegten
Schreibprozess
über Sachverhalte klar werden und sich einen eigenen Standpunkt erarbeiten
kann (vgl. Fix
2006/2008, S.104f.), ist jedenfalls unter den schulischen Bedingungen
mit ihrer
bewertend- prüfenden Beurteilung (Benotung)
kaum zu realisieren.
Und selbst die
gutwilligsten Schülerinnen und Schüler, die sich gerne auf eine erörternde
Schreibaufgabe zur Leistungskontrolle vorbereiten wollen, sehen häufig nur
einen Weg, sich auf eine Klausur vorzubereiten: Um den bevorstehenden
Schreibprozess zu entlasten,
deklinieren sie
- in einem nahezu "gedankenlosen Ritual" (Fritzsche 1994,
S. 121),einfach bestimmte
Gliederungsmodelle herauf- und herunter.
Was bleibt auch anderes übrig,
wenn man über die Themen, die am Stichtag zu erörtern sind, kaum Bescheid
oder sich mit vagen Andeutungen der Lehrkraft darüber begnügen musste.
Es kommt auch auf die Themen an
Selbstverständlich hat man diesen Problemen immer wieder versucht zu Leibe
zu rücken. So fordert auch
Fritzsche (1994,
S. 126), dass "im DU und vor allem bei Klassenarbeiten (...) die Themen aber
zum einen eng begrenzt und zum anderen auf Inhalte des Faches, ja des
vorangegangenen Unterrichts bezogen sein (sollten)."
Auch wenn
Fritzsche (1994,
S. 116) mehr oder weniger entschieden dafür plädiert, dass fachspezifische
Themen zu Sprache und Literatur die Regel sein sollten, ist er doch auch der
Ansicht, dass die Erörterung von Themen anderer Fächer "zur Einübung der
'freien Erörterung' und um den fächerübergreifenden Nutzen des Verfahrens
deutlich zu machen" angebracht sein können.
Dabei weiß er auch, dass es
schwierig ist, "in jedem Fall, ein Thema zu finden, das das Interesse der
Schüler tatsächlich trifft." (ebd.,
S.127)
Angesichts der zunehmenden
▪ Ausdifferenzierung
jugendlicher Lebenswelten hat sich dieses Problem natürlich keineswegs
verringert. Um so mehr scheint es nötig, die individualistischen
Begrenzungen des Schreibprozesses, wie der dem traditionellen
Erörterungsaufsatz zugrunde liegt, aufzubrechen und damit anderen
▪ Schreibstrategien
und anderen Organisations- bzw. Sozialformen des
Schreibprozesses den Weg freizumachen. Dann wird der klassische
Erörterungsaufsatz auch weiterhin seinen Platz neben den anderen Formen des
erörternden Schreibens behaupten können.
Den Schreibprozess prozessorientiert und kooperativ gestalten
So müssen auch die herkömmliche Problem- und Sacherörterung selbst unter
schulischen Bedingungen
nicht zwangsläufig vom Anfang bis zum Ende das Werk
eines einzelnen sein, der sich mit den in den Grenzen seines oft nicht
sonderlich weit reichenden Weltwissens
zum Thema durch die unterschiedlichen
▪ Phasen
des Schreibprozesses durchquält.
Im Rahmen eines themenorientierten Unterrichts und auf der
Grundlage des didaktischen ▪ Konzept
des Erörterns in thematischen Projekten lässt sich der Schreibprozess in
der Planungsphase wirksam entlasten und auch hin zu
schrittweise kooperativem Schreiben öffnen.
Auch damit lässt sich die zu
sehr auf Selbstreflexion eingeengte traditionelle Erörterung als
kommunikativer Prozess zur Problemlösung etablieren.
Im Übrigen kann man ein
solches Konzept durchaus bei Klassenarbeiten und Klausuren anwenden.
So kann
man z. B.
-
nach der Themenwahl den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit
geben, sich mit anderen, die das gleiche Thema gewählt haben, mündlich
auszutauschen
-
und/oder nach einer Phase der Stoffsammlung eine weitere
Gelegenheit zur Kommunikation geben.
Die Strukturierung und Formulierung
bliebe dann als der wesentliche Kern des individuell gestalteten
Schreibprozesses. Die Modelle der
▪ Schreibkonferenz
oder des
▪
Placemat als
Variante einzelner Schreibkonferenzen im Gesamtkonzept
zeigen auf wie die Schreibaufgabe
▪
teilweise und
schrittweise kooperativ gestaltet werden kann.
Wer im Übrigen einmal erlebt hat, wie intensiv die
Kommunikation von Schülerinnen und Schülern bei einem solchen Vorgehen
verläuft, wie sehr es die Schreibmotivation im Allgemeinen erhöht und
bestehende Schreibblockaden überwinden kann, wird auch bei Klassenarbeiten und
Klausuren immer wieder einmal so vorgehen.
Textmuster der Problem- und Sacherörterung
Wer einen traditionellen Erörterungsaufsatz schreiben will, bedient sich
eines bestimmten Textmusters (Textmusterwissen,
Textstrukturwissen), das, wenn es "zum Formalismus deklassiert" (Matthiessen (2003,
S.134) wird, oft etliche andere didaktischen Ziele überlagern kann.
Wer das Textmuster indessen wirklich schreibend bewältigen will, muss
kognitive Leistungen in verschiedenen Teilbereichen der
Schreibkompetenz (Zielsetzungskompetenz,
inhaltliche Kompetenz,
Strukturierungskompetenz und
Formulierungskompetenz)
erbringen.
-
Ebenso wichtig sind davon abgeleitete Qualitätsmerkmale wie Logik bzw.
Plausibilität der vorgebrachten Argumente oder, textlinguistisch formuliert,
die Herstellung von Kohärenz.
-
Die
kommunikative Funktion des Textes erschöpft sich weitgehend an bestimmten Stil- und
Ausdrucksfunktionen (z. B. Standardsprache, sachlich-nüchtern und
distanziert wirkender Stil ohne spürbare emotionale Beteiligung) und zeigt
sich in einer dem Text selbst zugeschrieben
Textverständlichkeit.
Subjektivierung des Erörterns als Antwort auf die Probleme beim
Erörtern?
Der Aufbau und die Strukturierung einer Erörterung ist eine durchaus
komplizierte Angelegenheit und viele Schülerinnen und Schüler kommen mit
diesen Besonderheiten nicht sonderlich gut zurecht.
Das hat
verschiedene Gründe:
-
Zum einen liegt es wohl daran, dass im Deutschunterricht,
insbesondere im Bereich der Schreibdidaktik, die Orientierung an der
Mündlichkeit einen besonders hohen Stellenwert hat. Verbunden mit einer
emanzipatorischen Leitidee, die auf die Partizipation an allen möglichen
Diskursen der Gesellschaft ausgerichtet war, legte man auf die möglichst
"barrierefreie" Teilhabe daran einen weitaus höheren Wert als auf die
sachlogische Durchdringung, Entwicklung und Strukturierung von Gedanken, wie
sie die Schreibform des Erörterns voraussetzt.
-
Zum anderen, aber auch von
diesen Entwicklungen mitbestimmt, lösten sich die über lange Zeit im
schulischen Aufsatzunterricht unverzichtbaren Gliederungsübungen,
Begriffsbestimmungen u. ä. in Luft auf und wurden durch eine Zentrierung auf
das einzelne Subjekt ersetzt, das die assoziativen Netzwerke seines Wissens
eben nur mehr oder weniger strukturiert in Schreiben umsetzen sollte.
-
So gerieten die
Besonderheiten bei der schriftlichen
▪
Vertextung
von Ideen zusehends aus dem Blick. Und aus den gleichen Gründen gewannen
auch die
▪
linear-entwickelnden Textordnungsmuster
mit ihrer am subjektiven Erleben ausgerichteten
Strukturierung argumentativer Texte an Boden wie sie in den
▪ neueren
und ▪
freieren Formen erörternden Schreibens gestaltet werden.
-
Trotzdem: In der
Schule ist das übliche
▪
formal-systematische Textordnungsmuster beim Erörtern, bei der die
Form die Textstruktur bestimmt (vgl.
Feilke (1988)
noch immer präsent und hält dem Trend zur Subjektivierung des
Erörterns unter anderem mit dem Vorwurf stand, dass
mit der Subjektivierung
auch die Fähigkeit zur unverzichtbaren Perspektivenübernahme
verlorengehe. Dementsprechend bescheinigte man solchen
Textproduktionen weiterhin "mangelnden Tiefgang".
Für Schülerinnen und Schüler sehen in der Problemerörterung ein
Risiko
Angesichts dieser Entwicklung kann es nicht verwundern, dass immer mehr
Schülerinnen und Schüler sich von der ▪ schulischen
Schreibform der ▪ Problemerörterung (freien bzw.
textungebundenen Erörterung) abwandten, und das obwohl die gestellten Themen
durchaus auch aus dem Bereich jugendlicher Lebenswelten stammten.
-
Ungeübt und damit überfordert von der geforderten Entwicklung und
Strukturierung, oft aber auch wegen eines zur Bearbeitung der Themen nicht
ausreichenden Weltwissens,
konnten keine noch so detaillierten Schreibpläne, Auflistungen von
Arbeitsschritten und Gliederungsmuster Schülerinnen und Schülern das Gefühl
und damit die Schreibmotivation geben, sich auf eine Unbekannte mit so
vielen Risiken einzulassen.
-
Von den wenigen abgesehen, die meinten, die
Strukturierungsaufgabe erschöpfe sich im Verfassen einer Einleitung, eines
Hauptteils und eines Schlusses, vertraute offenbar kaum ein Schüler mehr
darauf, dass er mit dem Abarbeiten bestimmter Gliederungsmuster die komplexe
Schreibaufgabe bewältigen konnte.
Dass der traditionelle Erörterungsaufsatz immer mehr als eine Schreibaufgabe
betrachtet wurde, die im Grunde nicht zu bewältigen ist, liegt nicht zuletzt
auch an seiner insgesamt "vage(n) und schablonisierte(n) Terminologie"
(Matthiessen (2003,
S.134):
"Pro- und Kontra-Argumente gilt es gegeneinander in einer Stellungnahme (Synthese)
'abzuwägen', von objektiver Darstellung ist gegen alle Erkenntnistheorie die
Rede. Erst zum Schluss gelte es die 'eigene Meinung' zu präsentieren. Aus
solcher Schematisierung des erörternden Schreibens, deren Basis meist der
Unterricht in der Sekundarstufe I legt, resultiert die Ablehnung dieser
Schreibform. Hinter ihrer Infragestellung verbirgt sich", so
Matthiessen (2003, ) weiter, "nichts anderes als die Übermacht des
subjektivistischen Denkens, die Abneigung gegenüber umfangreichen Aufgaben
und die Angst, Erwartungshaltungen zu enttäuschen."
Gewiss, eine solche
Betrachtung des Problems greift insgesamt zu kurz, sie kann aber in
pointierter Weise auf Probleme aufmerksam machen, die auch mit der immer
stärker werdenden Orientierung an der Mündlichkeit zu tun haben.
Zudem lässt
sich wohl kaum bestreiten, dass ein Schüler, der die Fähigkeit erworben hat,
"ein bearbeitbares und gesellschaftlich relevantes Thema zu erörtern", eben
auch "über ein existenziell bedeutendes Instrument der subjektiven Äußerung
(verfügt), welche durch die Berücksichtigung der einzubindenden und zu
entkräftenden Gegenstandpunkte objektiviert wird." (ebd.)
Das Strukturierungsproblem durch Orientierung an Mündlichkeit umgehen
Um dem Strukturierungsproblem und anderen Problemen der Schreibform zu entkommen, werden oftmals andere
Schreibformen an die Stelle der traditionellen Erörterung gesetzt, die eine
größere Nähe zu Mündlichkeit und zu linear-entwickelnden Textordnungsmustern
ebenso aufweisen wie eine deutlicher akzentuierte kommunikative Funktion,
die nur noch am Rande der Selbstaufklärung zu dienen hatte.
Ein Beispiel
dafür ist der (▪kommentierende) Leserbrief,
der in einigen Schularten den herkömmlichen Erörterungsaufsatz verdrängte.
Ob indessen ein derartiger Leserbrief, der die an die Erörterung
gestellten Anforderungen der Darlegung und Abwägung von - auch kontroversen
- Sachargumenten gar nicht erfüllen soll, überhaupt zu den erörternden
Schreibformen zu zählen ist, ist durchaus umstritten. So macht z. B.
Lindenhahn
(2011) geltend, dass ein Leserbrief im Gegensatz zu den eher
selbstreflexiv angelegten Ausführungen bei schulischen Erörterungstypen,
sich u. U. sogar an einen ganz konkreten Adressaten richten könne, "um
diesen persuasiv
und mitunter polemisch" auf die eigene Seite zu ziehen.
Neue und freiere Formen der Erörterung als Ausweg?
Inzwischen
scheint sich indessen die Auffassung zu verbreiten, dass es neben den
herkömmlichen klassischen Formen der Erörterung eben auch noch freiere Formen der
Erörterung gibt.
Unter diesem Oberbegriff werden in der gegenwärtigen
Deutschdidaktik Formen des schriftlichen Argumentierens wie
Glosse,
Kommentar,
kommentierendem Leserbrief, Rede oder
Essay zusammengefasst. (vgl. u.
a. ISB (Hg.) 2010,
Bd. 1, S.141-243)
Mit der ▪ materialgestützten
Erörterung, die eine Informationsgrundlage für die traditionellen und die freieren Formen des Erörterns liefert, wird darüber hinaus dem
Umstand Rechnung getragen, dass es den Schülerinnen und Schülern oftmals
schlicht an Wissen bzw.
inhaltlicher Kompetenz fehlt, um einer vernichtenden
bewertend-prüfenden Beurteilung und dem Tadel wegen
"Oberflächlichkeit,
Leichtfertigkeit und phrasenhafte(r) Geschwätzigkeit" (Fritzsche (1994,
S.116, zit. n.
Fix 2008,
S.104) entgehen zu können.
Der Umgang mit der Problemerörterung bleibt schwierig
Trotz dieser Entwicklungen, die grundsätzlich in die richtige Richtung
gehen, ist das Leiden an der Problemerörterung klassischen Zuschnitts bei
Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften keineswegs zu Ende.
Ein Blick in einschlägige Foren im
Internet führt bei zu großen Erwartungen schnell zur Ernüchterung. Da
sprechen Schülerinnen und Schüler immer noch davon, dass "»fast
alle Deutschlehrer" einem (weiterhin?) von der Erörterung abraten.
-
In
einem "»Lehrerforum"
erklärt eine Userin namens "mimmi", eigenen Profilangaben zufolge im Lehramt
an Gymnasien in Bayern, in ihrem Eintrag vom 11.4.12, sie könne "eigentlich
nur davon abraten, die Erörterung zu zu schreiben", da dabei "normalerweise"
die schlechtesten Noten herauskämen, zumal eben "kein normaler Schüler" an
all die Dinge denken könne, "die da im Erwartungshorizont mitgeliefert
werden", weil "die Themen meist sehr anspruchsvoll sind."
-
Ein anderer User
fragt sich schlicht nach der Bedeutung der ganzen Aufregung mit den
lapidaren Worten: "Das schreibt doch seit Jahren niemand." (ebd., 11.4.12)
-
Und wer sich die von den Usern des Forums »yahoo-Clever
zur besten auf die Frage einer Userin gekürten Antwort vornimmt ("Warum wird
im abitur von einer materialgestützten erörterung im abi abgeraten?),
bekommt als Vorschlag des Users HyST2812 zur Lösung des Problems unter
anderem das alte Credo der Allgemeinbildung serviert:
Das mag zwar einem "Lehrer alter Schule" aus dem Herzen
gesprochen sein, mit der heutigen Realität, insbesondere den Lebens- und
Medienwelten von jungen
Menschen, ist dieses Wunschbild indessen überhaupt nicht mehr vereinbar.
Eine sicher bittere Erkenntnis, die auch dem Deutschlehrer HySt2812, der
nach eigenen Erfahrungen über 50 Jahre Berufserfahrung verfügt
(Abiturjahrgang 1958), leider nicht erspart bleibt.
So jedenfalls ist das erörternde Schreiben im
Allgemeinen und das Schreiben einer Problem- oder Sacherörterung
nicht aus seiner immer wieder konstatierten Tendenz zur Schieflage
zu befreien. Auch wenn mit dem materialgestützten Argumentieren bzw.
Erörtern ein richtiger Weg eingeschlagen ist, der auch bei manchen
Prüfungen schon, wie z. B. bei der so genannten
▪ Kompendiumaufgabe
an den Realschulen des Landes Baden-Württemberg den
Schreibprozess in
der Prüfung ganz wesentlich entlastet, muss der Weg wohl künftig noch viel
entschiedener hin zu Schreibportfolio-Prüfungen (z. B.
▪
Beurteilungs-, Status-Report- oder Assessment-Portfolio) bzw.
als gehen, um dem argumentativen Schreiben den dringend nötigen,
vielfältige Schreibhandlungen dokumentierenden prozessorientierten
und kooperative Schreibpraktiken fördernden Rahmen zu geben.
Die Einbettung des schriftlichen Erörterns in die
▪ Arbeit
an thematischen Projekten kann ein wichtiger Schritt bei der
kommunikativen und kooperativen Neuausrichtung sein, die auch der
traditionellen Problem- und Sacherörterung in einem neuen Gewand ihren Platz
lässt.
▪
Didaktische
und methodische Aspekte erörternden Schreibens
▪
Überblick
▪
Kompetenzen beim Erörtern
▪
Besinnungsaufsatz
▪
Erörterndes Schreiben in thematischen
Projekten
▪
Erörterndes
Erschließen (EPA 2002)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
31.12.2023
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