"Ein großer Teil unserer Überzeugungen geht nicht auf
unmittelbaren Augenschein oder direkte Mitteilungen anderer, sondern auf
Schlüsse zurück. Wenn jemand sagt, seine Frau sei
erkrankt, dann schließen wir daraus, dass er verheiratet ist. Wenn
wir hören, Herr Zhao sei ein Chinese, dann schließen wir daraus, dass
er die chinesische Sprache beherrscht. […] Und wenn wir lesen, dass
regelmäßiges Zähneputzen die Zähne gesund erhält, dann schließen wir,
dass wir unsere Zähne putzen sollten. […] Wenn wir so schließen, dann
vollziehen wir jeweils einen Übergang von etwas, das wir schon wissen oder
zu wissen glauben, zu etwas Neuem. Schon die wenigen Beispiele zeigen, dass
wir in fast jedem Augenblick auf derartige Übergänge angewiesen sind. Wir
müssen Schlüsse ziehen, wenn wir unser allgemeines Wissen auf einen
speziellen Fall anwenden […]. Allerdings sind wir uns dieser Schlüsse in
vielen Fällen nicht bewusst. […]
Etwas ganz anderes ist es, wenn unseren Schlüssen sprachliche Form geben und
sie anderen mitteilen, um Behauptungen zu begründen oder zu widerlegen, um
etwas zu erklären oder vorauszusagen, um uns zu rechtfertigen oder um Regeln
für das soziale Zusammenleben plausibel zu machen. Wenn wir den Übergang von
Bekanntem zu Neuem sprachlich ausformulieren, dann wird aus einem
individuellen, häufig diffusen und noch vorsprachlichen Gedankenbündel ein
Argument. Ein Argument besteht immer aus
mehreren Sätzen: der Konklusion, dem Satz,
den wir begründen wollen, und aus einer oder mehreren
Prämissen, welche die Konklusion stützen sollen.
In dem Argument
Alle Katzen können klettern.
Tina ist eine Katze.
►
Also kann Tina klettern.
Sind "Alle Katzen können klettern." und "Tina ist eine Katze." die
Prämissen und "Also kann Tina klettern." die Konklusion.
Argumente sind also Mengen von Sätzen; Argumentationen sind dagegen
sprachliche Handlungen, bei deren Vollzug wir ein Argument oder auch mehrere
verknüpfte Argumente äußern. Wir argumentieren, um Behauptungen zu begründen
oder Entscheidungen zu rechtfertigen. "
(vgl.
Bayer 1999, S. 15ff., gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.06.2020