Ich empfinde fast ein
Grauen,
dass ich,
Plato2, für und für
bin gesessen über dir.
Es ist Zeit
hinauszuschauen
und sich bei den frischen
Quellen
5
in dem Grünen zu ergehn.
wo die schönen Blumen
stehn
und die Fischer Netze
stellen!
Wozu dienet das Studieren
als zu lauter Ungemach!
10
Unterdessen läuft die
Bach
unsers Lebens, das wir
führen,
ehe wir es inne werden,
auf ihr letztes Ende hin:
dann kömmt ohne Geist und
Sinn
15
dieses alles in die
Erden.
Holla, Junger, geh und
frage,
wo der beste Trunk mag
sein,
nimm den Krug und fülle
Wein!
Alles Trauren, Leid und
Klage,
20
wie wir Menschen täglich
haben,
eh uns
Clotho3 fortgerafft,
will ich in den süßen
Saft,
den die Traube gibt,
vergraben.
Kaufe gleichfalls auch
Melonen
25
und vergiss des Zuckers
nicht,
schaue nur, dass nichts
gebricht!
Jener mag der
Heller4
schonen,
der bei seinem Gold und
Schätzen
tolle sich zu kränken
pflegt
30
und nicht satt zu Bette
legt;
ich will, weil ich kann,
mich letzen!
Bitte meine guten Brüder
auf die Musik und ein
Glas!
Kein Ding schickt sich,
dünkt5
mich, bass6
35
als gut Trank und gute
Lieder.
Lass ich gleich nicht
viel zu erben,
ei, so hab ich edlen
Wein!
Will mit andern lustig
sein,
muss ich gleich alleine
sterben.
Worterklärungen
1
Carpe diem: lat. Pflücke / nutze den Tag
2 Plato:
griechischer Philosoph
»Plato(n) (428/427-348/347 v. Chr.)
3 Clotho:
griech. Schicksalsgöttin »Klotho,
einer der drei »Moiren,
deren Aufgabe es ist, den »Lebensfaden
zu spinnen; dieser wird von »Lachesis bemessen
und von »Atropos abgeschnitten.
4 Heller:
Münze, das als früheres deutsches Zahlungsmittel
»Heller (= halber »Pfennig)
im Umlauf war; Redensart: auf Heller und Pfennig
5 dünkt:
von dünken (gehobene, aber heute veraltete Form für: 1) jemandem so
vorkommen, scheinen 2) sich dünken: sich zu Unrecht etwas einbilden,
sich für etwas halten, einen Dünkel haben
6 bass:
besser (Adverb