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Meistergesang und humanistische
Sprach- und Literaturreform im Barock
Zu Beginn des 17. Jahrhundert ist die deutsche Literatur von zwei ganz
verschiedenen poetischen Traditionen geprägt.
Da ist auf der einen Seite die neulateinische Gelehrtendichtung und auf der
anderen Seite die volkssprachliche Dichtung, manchmal auch "Volkspoesie"
genannt. Wenn man - wofür einiges spricht - "die nationalistischen
Implikationen der Volksbegriffe des 19. Jahrhunderts" vermeiden will, kann
man sie mit
Willems (2012, Bd. I, S.72) auch "Popularliteratur"
(ebd.)
nennen.
Die neulateinische Gelehrtendichtung
Was die neulateinische Gelehrtendichtung zustande brachte, waren hoch
artifizielle Werke, die sich durchaus mit dem messen konnten, was in dieser
Sprache ansonsten in Europa gedichtet wurde (vgl.
Meid 31989, S.93,
Meid 2000, S. 3). Was die gelehrten Dichter, meistens Professoren, schrieben, richtete
sich ausschließlich an das gelehrte Publikum und erreichte "nur die eng
umschränkten, esoterischen Zirkel der lateinkundigen Humanisten." (Willems
2012, Bd. I, S.70). Sie hatten in der Regel eine solide philologische
und rhetorische Bildung und beherrschten Latein, genauer gesagt das
Neu-Latein dieser Zeit, das zugleich als internationale Sprache die
Grundlage für die vielfältige Vernetzung dieser Schicht im europäischen Raum
darstellte. In gewisser Hinsicht war es das Englisch heutiger Tage, ohne dem
keiner wissenschaftlichen Veröffentlichung von Rang in unserer
globalisierten Welt die ihr gebührende Geltung und Aufmerksamkeit zuteil
wird- Allerdings geht das Neu-Latein der frühen Neuzeit noch weiter, indem
es auch die Dichtung umfasste.
Das gedankliche und sprachliche Anspruchsniveau war dementsprechend
auch am (gelehrten) Horizont dieser Leser orientiert. Daher
konnten auch ihre
neulateinischen Texte "mehr mit gelehrten
Kenntnissen und kenntnisreichen Anspielungen, kühnen Bildern und gewagten
Formulierungen arbeiten als Werke, die auf den »gemeinen
Mann« zielten." (ebd.,
S.71).
Die neulateinische Dichtung mit ihrem intellektuellen Anspruch ist daher auch "ein ausschließlich akademisches Phänomen" ((Wels
2018, S.166f.) geblieben.
So nimmt es auch nicht Wunder, dass die Werke der neulateinischen Dichtung,
selbst wenn sie noch so wichtig für die Entwicklung der Literatur in der
Neuzeit gewesen sind, "heute weithin vergessen" (Willems
2012, Bd. I, S.72) sind.
Die deutschsprachige Popularliteratur
Auf der anderen Seite gibt es eine deutschsprachige Dichtung, die
Popularliteratur, die sich an Nicht-Gelehrte
richtete. Das sind die zahlenmäßig noch immer wenigen lesekundigen Bürger
und Bürgerinnen in den Städten (Handwerker, Kaufleute und zum Teil auch
kleine Gewerbetreibende), die sich in dieser Zeit überhaupt Lesestoffe
leisten konnten, oder mittelbar durch Vorgelesenes mit literarischen Stoffen
in Berührung kamen.
Zur Popularliteratur zählen z. B. der ▪
Meistergesang, aber auch Bibeldramen, Prosaromane und die
deutschsprachige
Lieddichtung. Allen diesen Werken hat man im Hinblick auf die humanistische
Entwicklung der Zeit eine Bildungsferne attestiert und vor allem immer
wieder betont, dass ihr ein "besonderer Stilwille oder überhaupt eine
Sensibilität für stilistische Fragen" (Wels
2018, S.166f.) abgeht.
Da sie vom humanistischen Diskurs weitgehend abgekoppelt war, blieb die
deutschsprachige Popularliteratur "insgesamt stärker und länger dem
mittelalterlichen Erbe verhaftet" (Willems
2012, Bd. I, S.70) und wurde von neuen Entwicklungen meistens nur
indirekt, "mit einer gewissen Verzögerung und in abgeschwächter, wenn nicht
abgefälschter Form" (ebd.)
berührt.
Dass es im deutschsprachigen Raum bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts keine
intellektuell anspruchsvolle deutschsprachige Dichtung gab, ist, wenn man
dies mit dem europäischen Ausland vergleicht, zumindest ungewöhnlich. So
entwickelte sich in verschiedenen Stadtstaaten Italiens und an einigen
Fürstenhöfen dort eine volkssprachige Dichtung, in Frankreich im 16.
Jahrhundert am Königshof und in England am Hofe von Elisabeth I. ebenso. In
deutscher Sprache anspruchsvoll zu dichten, war aber lange ein No-Go für alle, im In-
und Ausland, die auf die "barbarische" deutsche Sprache mit Verachtung
herabsahen.
Dennoch: Die so abgewertete und von den Humanisten stets links liegen
gelassene Popularliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts ist im Gegensatz zu den
in Vergessenheit geratenen elitären
Werken der neulateinischen Dichtung bis heute noch, z. B. mit Volksliedern, in
unserem kulturellen Gedächtnis bewahrt.
Und dies weil sie eben
nicht nur einem kleinen Kreis zugänglich waren, sondern weil diese Lieder aller Orten gesungen wurden.
Mitunter wurden sie auch wie in der Sammlung das ▪"Venusgärtlein" aus dem Jahre 1656
(Waldberg
1890) schriftlich fixiert. Sammlungen weltlicher Lieder dieser Art
wurden, auch wenn es sich eigentlich um Verlegerware handelte, die auf
Buchmessen gehandelt und durch Buchhändler vertrieben wurde, wohl auch von
wandernden Händler verbreitet. Sie waren "billig gemachte und deswegen
zweifellos auch billig verkaufte Anthologien ohne Noten, nur mit
Melodie-Angaben versehen, ohne planvolle Anordnung und künstlerischen
Anspruch. Sie sammeln das Bekannteste und Beliebteste, offenbar ganz wahllos
aus mündlicher Überlieferung, Handschriften, Flugschriften oder
Buchausgaben." (Lohmeier
1979 S. 55)
Dazu sind noch zahlreiche Flugblätter
(Einblattdrucke) im Umlauf, die sich mit ihren zum Teil in Reimforn
gehaltenen Kommentaren zum Zeitgeschehen nicht an das halten, was die
Regelpoetik der gelehrten Dichtung vorschreibt.
So lebte die
Popularliteratur als solche jedenfalls weiter. Der Popularität ihrer Werke
tat es auch keinen Abbruch, wenn das nur noch vereinzelte Fortbestehen der
▪"Meistersingerkunst" von den
Gelehrtendichtern "als Musterbeispiele dichterischer Rückständigkeit und
Stümperei" (vgl.
Meid
31989, S.95,
Meid 2000, S. 5)
verhöhnt wurde.
Allerdings ist die Popularliteratur auf die weitere Entwicklung der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert
"ohne Einfluss" geblieben. (vgl.
Meid 2000, S. 5)
Die neue Kunstdichtung muss sich ihren Platz im literarischen Feld
erkämpfen
Als ▪
Martin Opitz (1597-1639) seine
Vorstellungen einer ▪ Sprach- und
Literaturreform entwickelte, war das »literarische
Feld
anspruchsvoller Literatur besetzt: Wer in der Volkssprache, d. h. in
"barbarischem" Deutsch auf der "humanistischen Höhe der Zeit"
anspruchsvolle, d. h. etwas salopp gesagt, "konkurrenzfähige" Dichtung
produzieren wollte, hatte in Deutschland in dieser Zeit nämlich keine gute
Karten in der Hand.
Die Abwertung der deutschen Muttersprache
durch die gelehrten Humanisten konnte nämlich auch auf den
Rückenwind von Humanisten anderer Länder setzen, denen der Klang des Deutschen wohl
so missfallen hat, dass sie dieser "barbarischen" Sprache keinerlei Chancen
eingeräumt haben, einer nationalhumanistischen Erneuerung der "gelehrten" Dichtung
als sprachliches Vehikel zu dienen.
Das Ziel, eine
anspruchsvolle deutsche Dichtung im literarischen Feld gegen den
"Platzhirsch", die neulateinische Dichtung, durchsetzen, war in den Augen
der humanistischen Gelehrten der Zeit also "ein äußerst wagemutiges", um
nicht zu sagen, auf den ersten Blick, "absurdes Unternehmen" (Wels
2018, S.37f.).
Ehe sich die ▪ "Kunstdichtung",
wie man die anspruchsvolle volkssprachliche Literatur im Gefolge der ▪
Literaturreform von Martin Opitz immer wieder nennt, durchsetzen konnte,
vergingen Jahre, in denen die lateinische und die neue anspruchsvolle
volkssprachige Dichtung nebeneinander existierten.
Und gerade die neue
Kunstdichtung, deren wichtigste Autoren ja zur gleichen Schicht der
humanistischen Gelehrten gehörten, verfassten, wie z. B. ▪
Martin Opitz (1597-1639), auch
weiterhin lateinische Texte.
Und im Übrigen war die
Kunstdichtung ja auch nicht durch und durch "neu": Poetologisch und
rhetorisch beruhte sie schließlich auf den gleichen Grundlagen wie die
lateinische Dichtung, wie gerade Opitz mit der Übernahme und Zusammenfassung
wesentlicher Elemente der
▪
neulateinischen Poetik (1561) des
italienischern Humanisten, Dichters und
Naturforschers »Julius
Caesar Scaliger (1484-1558) in seinem "»Buch
von der Deutschen Poeterey" (1602) immer wieder betonte.
Die Frage, ob man
in der
"wilden" deutschen Sprache, für die es noch nicht einmal eine
allgemeingültige Grammatik gab, ▪
überhaupt und, wenn ja, so dichten konnte, dass die dabei entstehenden
Werke dem internationalen Vergleich standhalten konnten, war für die weiter
auf Latein setzenden Dichtergelehrten längst entschieden: "In einer wilden
Sprache, bei der mangels sprachlicher Normen und ausreichenden Wortschatzes
nicht einmal gesagt werden konnte, was sprachlich richtig und was falsch
war, konnte man nicht über Inhalte diskutieren." (ebd.)
Und ein Kaskade von Fragen schloss sich an: "Wie sollte es möglich sein,
sich in einer Sprache differenziert auszudrücken, wenn diese nicht über
einen genügend großen Wortschatz verfügte? Wie sollte ein stilistisch
gelungener Ausdruck möglich sein, wenn es keine Grammatik und keine
Vorbilder gab, an denen man überhaupt ermessen konnte, was ein stilistisch
gelungener Ausdruck war?" (ebd.)
Dass solche Fragen gestellt
wurden und Widerstände zu überwinden waren, zeigt ein Blick auf die lange Liste
gelehrter Vertreter aus dem In- und Ausland, die sich gerne und ausgiebig
als "Verächter der deutschen Sprache" präsentierten und "meinten, diese sei zu
»unausgebildet und rauh«, zu »grob und harte« (Gervinus
1838, S.222), als dass man in ihr Verse
schreiben könne." (Wels
2018, S.18)
Strategien zur Demontage der neulateinischen Vorherrschaft im
literarischen Feld
Drei Strategien verhalfen
dem neuen Ansatz, in deutscher Sprache anspruchsvoll zu dichten, eine ▪ "Kunstdichtung"
zu begründen, zum Erfolg. Dabei ist der Gradmesser von Erfolg nicht wie heute
die Verbreitung bzw. die Verkaufszahlen (Bestseller), sondern das
erhöhnte Ansehen, das ihren Produkten durch maßgebliche Agenten und
Institutionen des "Kulturbetriebs" zugeschrieben wird. "Höhenkammliteratur"
wird eben zu allen Zeiten "gemacht" und sozial konstruiert.
Bemerkenswert aber bleibt,
dass sich die von Opitz und anderen begründete Entgegensetzung von neuer
Kunstdichtung und herkömmlicher Volkspoesie in den
Dichotomien von
Hoch- und Trivialliteratur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein halten
konnte und die "kulturellen Operationsfelder und deren Wertehaushalt"
(Jaumann
2002, S.200),
zumindest in machen Kontexten, noch spürbar bis heute, bestimmt.
Die drei Strategien sind der
Anschluss an den Diskurs um das Aufholen eine nationalen Rückstandes,
die entstehende "Allianz
zwischen humanistischer Gelehrtenrepublik und frühmodernem Fürstenstaat"
(Willems 2012, Bd. I,
S.159) und das
elitäre Ignorieren der weiter existierenden Popularliteratur.
Der Diskurs um das Aufholen eines nationalen Rückstandes
Die erste Strategie, um die
Dominanz der lateinischen Dichtung zu unterlaufen, verband sich mit dem
Fingerzeig auf die anderen in Europa, die schließlich auch eine
nationalhumanistisch geprägte volkssprachliche Dichtung zustande
gebracht hatten.
Dabei kam den
"progressiven" Humanisten zugute, dass auch in anderen Bereichen ein Diskurs
stattfand, in dem es darum ging, wie Deutschland seine Rückständigkeit
verlieren und Anschluss an die fortschrittliche Entwicklung Italiens,
Englands, Frankreichs und der Niederlande finden könne. Dieser Diskurs
setzte auch für die literarische Entwicklung wichtige Akzente.
Um den Rückstand
aufzuholen, ein immer wieder vorgebrachtes Argument mit geradezu
topischem Charakter, musste
es zunächst einfach gelingen, durch die Übernahme
von Inhalten und Formen, Motiven und der Formensprache der dortigen
Vorbilder den Nachweis anzutreten, dass man solche Werke auch in Deutsch
dichten konnte.
Im Windschatten der
volkssprachlichen Dichtung eines
»Dante
Alighieri (1265-1321), der das Italienische gegen das bis dahin dominierende Latein
zur Literatursprache gemacht hatte, eines
Francesco
Petrarca (1304-1374) dessen Formensprache in der
▪
barocken Liebeslyrik (▪
Petrarkismus)
beispielhaft und stilbildend wurde und eines
Giovanni Boccacio (1313-1375), dessen
»Decamerone, einer
Sammlung von 100 Novellen,
in der erzählenden Dichtung Maßstäbe setzte, ließen sich die Vorbehalte und
Widerstände gegen die neue ▪ "Kunstdichtung"
in deutscher Sprache nach und nach überwinden.
Ohne die Überzeugung
einzelner Humanisten in Deutschland, dass sich die Formen der anderen (z. B. Verse wie der
Alexandriner oder lyrische Formen wie z. B.
Sonette) auch in der
deutschsprachigen Dichtung der Zeit mit ihren sonst nur holprigen
Knittelreimen gestalten
ließen, war ein solches Unternehmen mit seinen vielfältigen Aspekten
allerdings nicht
zu wagen.
Entstehung und Förderung einer Allianz zwischen humanistischer
Gelehrtenrepublik und frühmodernem Fürstenstaat
Als weitere Strategie, um
mit dem Reformprojekt gesellschaftlich durchzukommen, stellte sich die enge
Verbindung heraus, die die neuen "Kunstdichter" mit ihren adeligen Gönnern
suchten und größtenteils auch fanden.
Die "Allianz zwischen humanistischer Gelehrtenrepublik
und frühmodernem Fürstenstaat"
(Willems Bd. I
2012,, S.159) hatte nämlich maßgeblichen Anteil daran, dass sich die
neue "Kunstdichtung" einen Platz im literarischen Feld erobern konnte.
Hohe Adelige und Fürsten
entwickelten nämlich im Zuge der Territorialisierung und der Entwicklung des
frühmodernen Staates einen immer größer werdender Hunger nach hochgebildeten
Verwaltungsfachkräften, mit denen die wachsenden bürokratischen Aufgaben zu
bewältigen waren. Außerdem passten humanistische Gelehrte, die darüber
hinaus noch als Dichter in einer allgemein verständlichen Sprache dichteten
und diese bei Hofe präsentierten, geradezu perfekt zu den immer wichtiger
werdenden Repräsentationsbedürfnissen der Adeligen und Fürsten. Zu diesem
öffentlichen
"höfischen Kontext der neuen Dichtung" (Wels
2018, S.37) passt eben einfach nicht mehr, was der deutsche Knittel
in der Popularlieratur oder die hochartifizielle neulateinische Verskunst zu Wege brachten.
So konnte "der kunstlosen Dichtung, den
Knittelreimen der ▪
Meistersinger und
poetisch dilettierenden Theologen und Lehrern [...] eine kunstvolle, nämlich
formbewusste Dichtung entgegengestellt werden." (ebd.),
die vielfach als Auftragskunst mit ihrer ▪ Gelegenheitsgedichte
(casualcarmina) dem an den Höfen allseits beliebten
Fürstenlob dienten und die Tugenden willfähriger Untertanen
herausstellten.
Elitäres Ignorieren der weiter existierenden Popularliteratur
Die dritte Strategie, mit
der sich die volkssprachliche "Kunstdichtung" an die Neustrukturierung des
literarischen Feldes machte, war ihre elitäre Überheblichkeit, mit der sie
sich von der Popularliteratur und ihrer "Stümperei" in der Volkssprache
absetzte.
Sie schloss die "von unten" kommende
Volkspoesie in einer "hochselektiven Entscheidung"
(Jaumann
2002,
S.200) von der Entwicklung einer neuen
Kunstdichtung aus, bei der es ja drum ging, den "Anschluss an die
Elitenkultur des gemeineuropäischen gelehrten Späthumanismus"
(ebd.)
zu gewinnen und deren Vorstellungen zu den
dominanten Standards der neuen "Höhenkammliteratur"
zu machen.
Die
Geringschätzung der
Volkssprache als solcher war dabei eigentlich nichts Außergewöhnliches. Von
oben in der sozialen Hierarchie betrachtet, sprach man ja schon lange nur dann Deutsch, wenn man sich
an das niedere, ungebildete Volk richten wollte, das nichts anderes
verstand. Für die "gepflegte" Konversation, den gelehrten Diskurs und
anspruchsvolle Dichtung kam eine wilde und barbarische Sprache nicht in
Frage, die der »gemeine
Mann« auf der Straße sprach und für die es nicht
einmal eine verbindliche Grammatik und angesichts der Vielzahl regional
unterschiedlicher Dialekte verständliche Aussprache gab, daher lange Zeit
nicht in Frage. Sich in die Traditionslinie dichterischer Werke einer einer
Sprache zu stellen, in der, kurz gesagt: "nicht
einmal gesagt werden konnte, was sprachlich richtig und was falsch war" (Wels
2018, S.37f.), kam für "Kunstdichter" nicht in Frage.
In dieses Umfeld elitärer
Überheblichkeit der adeligen Oberschichten, passte daher auch "die von Opitz
mit Nachdruck propagierte Koalition zwischen höfischer (Beamten-)Elite und literarischer Kultur"
(Jaumann
2002, S.203), mit der sich die geistige Elite, der er angehörte,
"weitgehend mit der
fürstlich-höfischen Kultur identifizierte und in ihrem Bereich
Aufstiegschancen suchte (und fand), (...) sich bewusst von den
Kunstübungen einer niedrig eingestuften Gruppe von kleinbürgerlichen
Handwerkerdichtern (distanzierte)." (Meid
1982,
S.11)
So hatten Opitz und die
anderen Vertreter der humanistischen Gelehrtendichtung für den ▪
Meistergesang in der frühen Neuzeit und für wichtige Repräsentanten
dieser Volksdichtung wie z. B. Hans
Sachs (1494–1576)
und ihrer "dichterische(n) Rückständigkeit und Stümperei" (Meid
1982, S.10) kaum mehr als Verachtung übrig.
Die sprachlich-sozialen
Folgen der Entwicklung der neuen "Kunstdichtung" waren allerdings nicht zu
übersehen. Wo vorher verschiedene Sprachen - Latein und Deutsch, aber auch
Französisch - die soziale
Abgrenzung signalisierten, ging fortan ein Graben durch die gemeinsame
deutsche Sprache, weil diese nun auch zur elitären Selbstverständigung eines um Sicherung seiner
sozialen Stellung in den neuen gesellschaftlichen Hierarchien der Zeit
bemühten Gelehrtenstandes beitragen musste.
(vgl.
Meid
31989, S.93)
Geschichte eines fortschreitenden Erneuerungsprozesses statt
Gründungslegende der deutschen Literatur
Die Neubesetzung des
literarischen Feldes durch die Demontage der bis dahin dominierenden
lateinischen Dichtung war jedenfalls ein
langwieriger Prozess und stellt die beliebte ▪ "Gründungslegende
der deutschen Literatur" (Niefanger
2012, S.18) mehr als in Frage.
Opitz
oft als "Vater der (neueren) deutschen Dichtung" zu preisen und sein
kulturpolitisches Programm sowie seine dichterischen Leistungen als die
"geschichtliche Signatur der Epoche und die Qualität
der literarischen Produktion wenn nicht des ganzen Jahrhunderts, so doch der
ersten Jahrhunderthälfte" (Garber
1976, S.18) zu bewerten, dürfte, auch wenn man die Verdienste von Opitz auch nicht
kleinreden sollte, zumindest relativiert werden.
Der Lauf der Dinge zeigt
nämlich, dass man in jedem Fall "von einem sukzessiven
Erneuerungsprozess zu Beginn des 17. Jahrhunderts" (ebd.)
sprechen kann. Dass die ▪
Literaturreform von Martin Opitz (1597-1639), der sich mit Nachdruck für
die Verteidigung
der "Kunstfähigkeit der deutschen Sprache" (Wels
2018, S.18)
einsetzte, vor allem im Bereich der ▪
Vers- und Stillehre Akzente setzen
konnte, gehört zu den wesentlichen Triebkräften dieser Entwicklung.
Weil zudem die rhetorischen und poetologischen Grundlagen der neuen
Kunstdichtung die gleichen sind, wie die,
welche für die neulateinische Dichtung lange Zeit gegolten hatten, bleibt
die neue Kunstdichtung aber "weiterhin Reservat einer elitären Schicht" (Meid 2000,
S. 4), die auf der Basis einer außerordentlichen "intellektuellen
Bewusstheit" sich "der Freude am Experiment der Form, an virtuoser
Sprachkunst, an geregelten Vorschriften, an gedanklichen bizarren
Spielereien" (Martini121963,
S.138) hingibt.
Allem "kulturpatriotischem
Enthusiasmus" zum Trotz, mit dem die neue Kunstdichtung in der Folgezeit
propagiert wird, verringert sich also die Kluft zur Popularliteratur auch in
der weiteren Entwicklung nicht (vgl.
Meid
31989, S.93). Diese erfährt erst in der ▪
Romantik (1798-1835) und
deren Interesse an "Volkspoesie", "Volkslied" und "Volksbuch" eine
Aufwertung (vgl.
Willems 2012, Bd. I, S.72).
Außerdem stieß die neue Entwicklung auch regional und konfessionell an ihre Grenzen. In katholischen Territorien im Süden und Westen
Deutschlands hielt man nämlich noch lange an eigenen, lateinischen und deutschen
Traditionen fest. In den anderen Territorien verschmolzen die schon
vorher existierende muttersprachliche Volkspoesie und die neue deutsche
Kunstdichtung aber keineswegs miteinander.
▪
Meistergesang und humanistische
Sprach- und Literaturreform im Barock
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
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